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Der P300-Beweis

Allgemein

Der P300-Beweis
Eine neue Art von Lügendetektor setzt sich durch.

Ende Februar machte der oberste Gerichtshof des amerikanischen Bundesstaates Iowa mit einer brisanten Entscheidung Furore: Die Richter zogen das Urteil gegen den 42-jährigen Terry Harrington zurück, der seit 1978 eine lebenslängliche Gefängnisstrafe wegen Polizistenmordes absaß, und ordneten ein neues Verfahren an. Verblüffend: Die Beweisspuren, die zu dieser Kehrtwendung führten, stammten nicht vom Tatort, sondern aus dem Hirn des Verurteilten. Außer ihm selbst, der seit der Festnahme seine Unschuld beteuerte, wusste bis dahin niemand, was in der Mordnacht des 22. Juli 1977 im Kopf von Terry Harrington vor sich gegangen war.

Es klingt wie Science- Fiction: Der Psychologe Lawrence Farwell, Präsident des Human Brain Research Laboratory in Fairfield, behauptet nun, dass es ihm gelungen sei, diese zeitliche Kluft zu überbrücken. Mit seiner patentierten Methode des „Brain-Fingerprinting“ sei es möglich, noch Jahre später die „ Gedächtnisabdrücke“ freizulegen, die im Gehirn des vermeintlichen Täters gespeichert sind. Das wäre ein völlig neues Seismometer für Unwahrheiten.

Der klassische Lügendetektor – bei Prozessen ohne Geständnis und wackeligen Beweisen in den USA gern eingesetzt – basiert darauf, dass der Stress beim Verdrehen von Tatsachen ein „ Nachbeben“ im vegetativen – vom Menschen nicht beeinflussbaren – Nervensystem erzeugt: Der Puls beschleunigt sich, die elektrische Hautleitfähigkeit nimmt zu, weil der Lügner unmerklich ins Schwitzen kommt. Mit einem Mehrkanalschreiber (Polygraph) misst man daher den Herzschlag und andere vegetative Reaktionen, um Abweichungen von der vegetativen Normalskala zu erfassen. Beim „ Kontrollfragentest“, der in der Praxis dominiert, werden Fragen zur Tat („Sind Sie der Mörder?“) immer wieder von Fragen abgelöst, die auch Unschuldige zum Schwitzen bringen („Haben Sie vor dem 18. Lebensjahr je etwas gestohlen?“). Man nimmt bei diesem Kontrollfragentest an, dass die Fragen, die auf die Beteiligung am Verbrechen anspielen, den Täter vegetativ stärker aus der Fassung bringen als Menschen mit einem reinen Gewissen. Der Lügendetektor ist allerdings in Verruf geraten, weil er zu oft daneben tippt. Man schätzt, dass der klassische Polygraph ein Viertel der Unschuldigen zum Lügner stempelt. Denn oft beginnt auch das Herz Unschuldiger zu jagen, wenn ihnen so massive Fragen gestellt werden wie „Sind Sie der Mörder?“ Und für Schuldige gibt es Tricks: Im Internet kursieren zahlreiche Empfehlungen, wie man dem Detektor durch Lippenbisse oder Analverkrampfung ein Schnippchen schlagen kann.

Mit dem „Tatwissentest“ existiert zwar schon länger eine Weiterentwicklung vom Kontrollfragentest. Er wird jedoch bisher nur in Labors verwendet, weil die praktizierenden Lügenermittler lieber auf den bequemeren Klassiker zurückgreifen. Die Befragungsmethode stützt sich darauf, dass es bei jeder Tat Dinge gibt, die nur Tatbeteiligte wissen können. Deshalb rückt man den Verdächtigten mit Fragen wie „War das Tatfahrzeug rot?“, „War es blau?“ auf Herz und Haut. Der Detektor schlägt an, wenn der Befragte immer wieder bei der zutreffenden Option (blaues Auto) vegetativ ins Schleudern kommt.

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Beide Verfahren – Kontrollfragen- und Tatwissentest – kranken allerdings daran, dass sie mit der vegetativen Erregung nur einen schwachen Abglanz des ursprünglichen geistigen Lügenaktes erfassen. Die vegetativen Reaktionen werden durch viele Störfaktoren beeinflusst und beschwören deshalb leicht Fehler und Missdeutungen herauf. Um die Lüge direkt am Ort ihrer Entstehung, nämlich im Gehirn, zu fassen, zogen die beiden Psychologen Lawrence Farwell und Emanuel Donchin an der University of Illinois Anfang der neunziger Jahre mit Förderung durch die CIA das „P300- Potenzial“ zu Rate. Das ist eine Ausbuchtung im Hirnstromwellenbild (EEG), die genau 300 Millisekunden nach der Wahrnehmung eines bedeutsamen oder ungewöhnlichen Reizes auftritt. Die Zacke entsteht nur dann, wenn Dinge, Bilder oder Objekte aus dem Einerlei unwichtiger Dinge herausragen. Das monotone Tropfen des Wasserhahns in der Nacht erzeugt kein P300, das plötzliche Knarren der Tür aber auf der Stelle.

Im Labortest kann man dem Hirn von Probanden die P300-Reaktion entlocken, indem man sie auffordert, seltene Reize (etwa einzelne hohe Töne) in einer Serie von häufigen Reizen (tiefen Tönen) anzuzeigen. Die nach dem Zufallsprinzip eingestreuten hohen Töne werden vom Gehirn stets mit einer P300-Kurve quittiert. Das funktioniert sogar dann, wenn den Testpersonen gar keine spezielle Unterscheidungsaufgabe gestellt wurde. Zuweilen zeigt diese Kurve das Auftreten herausragender Reize sogar im Koma an. Wenn die Ermittler das P300-Potenzial als Lügendetektor nutzen wollen, müssen sie das Tatwissen – also Informationen, die nur der Schuldige und die Polizei besitzen – so präsentieren, dass sie dem Täter die verräterische Aha-Zacke im EEG entlocken. Das können Einzelheiten vom Tatort wie eine Türverzierung oder ein roter Vorhang sein. Diese Insider-Fakten werden derart in eine Serie von neutralen Elementen (andere Einrichtungsutensilien) eingestreut, dass sie nur für Tatbeteiligte aus der Reihe tanzen: Der P300-Ausschlag zeigt, dass der rote Vorhang für den Schuldigen kein normales Einrichtungsobjekt ist.

Bei ihren Tests ließen Donchin und Farwell einige Probanden Spion spielen: Sie wiesen ihnen ein geheimes Codewort zu. Die anderen Testpersonen kannten dieses Codewort nicht und übernahmen so den Part der „Unschuldigen“. Anschließend mussten alle Testpersonen eine Serie von neutralen Begriffen auf dem Monitor verfolgen. Beim Erscheinen zuvor festgelegter Reizwörter sollten sie auf einen Knopf drücken. Neben neutralen und den festgelegten Begriffen enthielt die Serie auch das Codewort, das nur für die Spione als nicht-neutral erkennbar war. Die Test-Auswerter sollten auf Basis der registrierten P300-Potenziale darüber urteilen, ob jemand Spion oder Unschuldiger sei. In 12,5 Prozent der Fälle konnten die Juroren kein Urteil sprechen, weil sich die Ausbuchtungen nicht hinreichend vom allgemeinen Rauschen des Gehirns abhoben. Doch in den Fällen, in denen die EEG-Ableitung ein sauberes Bild ergab, war die Trefferquote der „Richter“ hundertprozentig. Das Verfahren hielt Spione und Unschuldige korrekt auseinander. Wann immer ein Spion sein geheimes Codewort inmitten der übrigen Begriffe erblickte, zuckte unwillkürlich das verräterische P300-Signal durch seine Hirnwindungen und brachte die verborgene Identität ans Tageslicht.

In der Zwischenzeit hat Farwell das Verfahren so optimiert, das durch computerisierte Messungen nicht nur das P300- Potenzial, sondern eine ganze Kollektion von verwandten EEG-Ausschlägen ausgewertet wird und so einen unverwechselbaren Hirnwellen-Fingerabdruck erzeugt, der zuverlässig anzeigt, wenn es im Kopf des Täters „klick“ macht. Farwell stellte die Methode auf die Probe, indem er CIA- und FBI-Agenten in eine Testgruppe aus Normalbürgern mischte. Die ans EEG angeschlossenen insgesamt 120 Probanden, die sich alle als Zivilisten ausgaben, bekamen eine Serie von neutralen Bildern und Wörtern vorgespielt. Sie mussten einen Knopf drücken, wenn ein vorher festgelegtes Objekt, zum Beispiel ein blaues Auto, erschien. Doch immer wieder mischte Farwell Details aus Trainingshandbüchern von CIA und FBI ein, die nur für die Agenten eine besondere Bedeutung hatten.

Seine Hypothese: Bei den Eingeweihten müssten die Insider-Einzelheiten aus den Handbüchern die gleichen EEG-Ausbuchtungen erzeugen wie das blaue Auto. Wenn Farwells Angaben zuträfen, müssten beim Test alle Geheimagenten enttarnt, und kein Zivilist fälschlich belastet werden. Resultat: Von einer einzigen mehrdeutigen Messung abgesehen, gingen dem Detektor alle Zivilisten und alle Agenten ins elektronische Netz. Das Schicksal von Harrington, der allein auf Grund von Zeugenaussagen verurteilt worden war, schien Farwell geeignet, die Brauchbarkeit des Brain-Fingerprinting zu demonstrieren. In mühevoller Kleinarbeit trug er unzählige Informationsschnipsel zusammen, die es ausschließlich im Kopf des wirklichen Mörders „klingeln“ lassen würden. Dazu gehörten nie veröffentlichte Einzelheiten über den Tathergang und Details der Fluchtroute. Da Harrington beschwor, zum Zeitpunkt des Mordes eine Disko besucht zu haben, nahm Farwell auch Einzelheiten des Musikprogramms dieser Nacht in seinen Test auf. Am Ende saß der Inhaftierte mit einem Elektrodenhelm vor einem Monitor und klapperte all diese Details geistig ab.

Das unerhörte Resultat seiner Sondierung stellt der Psychologe auf seiner Webseite www.brainwavescience.com zur Schau: „Die Gehirnreaktionen zeigten eindeutig, dass die im Kopf von Harrington gespeicherten Daten nicht mit der Tat und ihren Umständen, sondern eindeutig mit dem Alibi korrespondierten.“ Als der Hauptbelastungszeuge Kevin Hughes mit diesen Ergebnissen konfrontiert wurde, kippte er plötzlich um: Er habe Harrington damals vorsätzlich angeschwärzt, um nicht selbst wegen des Mordes verdächtigt zu werden. Jetzt ist die Suche nach dem wahren Cop-Killer neu angelaufen.

Skepsis bei der Methode ist zwar angebracht, doch auch der Neuropsychologe Axel Mecklinger von der Universität Saarbrücken spricht Farwells Verfahren Aussagekraft zu. „Allerdings“, schränkt er ein, „funktioniert die Methode nur, wenn die Testperson konzentriert ist und kooperiert.“ Denke der Kandidat während der Messung gezielt an etwas anderes oder schaue er womöglich gar nicht auf den Bildschirm, bekomme man auch keine brauchbaren Daten.

Inzwischen hat sich die US-Justiz von den Wissenschaftler-Daten überzeugen lassen. Die möglichen Potenziale von P300 sind aber noch nicht ausgelotet. Farwell glaubt, dass man damit beispielsweise auch Mitglieder von bin Ladens Terrororganisation dingfest machen könnte, indem man Verdächtigen neutrale Szenen zusammen mit Bilder aus den Schulungsunterlagen der al-Quaida-Organisation vorlegen würde. Für Unschuldige wären beide Darbietungen gleichwertig. Doch durch die Hirne der bin-Laden-Leute müsste unvermittelt ein P300-Signal zucken, wenn in der Dia-Serie Einzelheiten aus der Terroristen-Ausbildung auftauchen.

In Deutschland müssen Häftlinge auf das Brain-Fingerprinting noch warten. Über kurz oder lang jedoch, glaubt Mecklinger, werde die P300-Methode auch vor deutschen Gerichten eine Rolle spielen. „Besonders bei Kindern, die vermutlich sexuell missbraucht wurden, ist es wichtig, echte Erinnerungen von scheinbaren zu unterscheiden, die zum Beispiel durch suggestives Nachfragen entstanden sein können.“

KOMPAKT

• Der alte Lügendetektor hat ausgedient, er machte zu viele Fehler.

• Die neuen Wahrheitssuchmaschinen setzen da an, wo die Lüge entsteht – im Gehirn.

• In einem spektakulären Verfahren wurde ein angeblicher Mörder mit der neuen Methode nach 25 Jahren aus der lebenslangen Haft befreit.

Rolf Degen

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