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Doppelschnauze statt Löffelbug

Erde|Umwelt Technik|Digitales

Doppelschnauze statt Löffelbug
Der schmelzende Eispanzer um den Nordpol lockt Unternehmen und Pioniere in die Arktis. Doch bislang sind sie dort auf Schiffe angewiesen, die sich selbst durch dickes Eis brechen können.

Wir sind auf Tauchstation. Über uns im Halbdunkel ruht eine dichte schwere Eisdecke, durch die fahles und grünes Licht schimmert. Plötzlich: ein Knacken. Wir blicken nach oben. Der lange rote Kiel eines Schiffs rauscht direkt auf uns zu. Risse durchzucken das Eis. Unaufhaltsam pflügt der Bug durch die harte weiße Ebene, bricht sie zu Schollen, die unter dem Rumpf nach hinten taumeln. Das Schiff gleitet über uns hinweg. Blitzend rasen die Schiffsschrauben vorüber. Nach wenigen Metern hält das Schiff abrupt. „Fertig, das war’s“, sagt Mikko Niini und klopft an die dicke Panzerglasscheibe über unseren Köpfen.

Mikko Niini ist Chef des weltweit modernsten Eisversuchskanals bei Aker Arctic in Helsinki. Hier im neuen Frachthafen Vuosaari am Rand der finnischen Hauptstadt entwerfen und testen der Ingenieur und seine Kollegen im 75 Meter langen Wasserbecken Modelle von Eisbrecher-Prototypen und neue eisfeste Rumpfformen. Das Besondere an dem Testkanal ist sein durchgängiger Glasboden. Durch die Scheiben beobachten die Techniker von unten, wie gut das Schiff das Eis durchbricht, ob die Bruchstücke die Schiffsschrauben blockieren oder ob sie sich an Bug und Rumpf stauen. Der Testtank ruht auf hohen Stelzen aus Stahl. Man kann bequem darunter hindurch gehen und dem drei Meter langen Schiffsmodell folgen. In der Mitte des Wandelgangs hat ein Kameramann seine Videokamera auf ein Stativ gestellt und die kurze Schiffspassage für die spätere Analyse gefilmt. Ein Stück weiter diskutieren zwei Koreaner mit einem von Niinis Kollegen die Testfahrt ihres neuen eisfesten Containerschiffs.

Aufbruch in die Arktis

Eisbrecher sind angesagt, denn die Industrienationen streben in die Arktis wie nie zuvor. Es locken Erdgas, Erdöl und Erze. Lange Zeit schien es undenkbar, die verborgenen Ressourcen auszubeuten. Zu mächtig war das Eis. Doch durch den Klimawandel und die Erwärmung der Atmosphäre zieht es sich seit mehreren Jahren im arktischen Sommer immer weiter zurück. Im September 2007 erreichte das Schrumpfen des Eises Rekordwerte. Bis auf einen winzigen Rest war die gesamte russische Nordküste eisfrei. Der nördliche Seeweg von Europa nach Asien, vom Atlantik in den Pazifik – die legendäre Nordostpassage – war fast in voller Länge offen. „Das war zwar extrem“, sagt Jürgen Holfort, zuständig für den Eisdienst beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Rostock, „aber der Trend ist klar: Das Eis der Arktis schwindet.“ Noch denkt kein Reeder ernsthaft daran, einen Linienverkehr via Nordostpassage aufzunehmen, denn der Weg ist nur für wenige Tage im Spätsommer frei. Den Rest des Jahres muss man sich weiter durch das Eis kämpfen. Doch die Eisdicke nimmt ab und die eisfreie Zeit zu, und so wagen sich die Ölkonzerne jetzt in die Arktis vor, um die Gas- und Ölfelder in den Meeresbuchten Russlands, der Barentssee, der Karasee oder der Petschorasee auszubeuten. Darüber hinaus betreiben die Russen schon länger eine Schiffsroute für den Erztransport zwischen den Mündungen von Ob und Jenissei und dem rund 2000 Kilometer westlich gelegenen Hafen Murmansk nahe der norwegischen Grenze. Für all das braucht man Eisbrecher, viele Eisbrecher.

Natürlich war auf der Nordostpassage schon in den vergangenen vier Jahrzehnten einiges los. Während des Kalten Krieges bis in die 1980er-Jahre stampften regelmäßig auch im Winter die schweren russischen Atomeisbrecher auf Patrouillenfahrt die Küste entlang – mit bis zu 80 000 PS Leistung die stärksten weltweit. An Bord hatten sie einen Kernreaktor, der Energie für ein Jahr auf See lieferte, und genug Kraft, um durch drei Meter dickes Eis zu fahren. Doch Handelsschifffahrt und Ölförderung in der Arktis sind etwas Neues. Sie bescheren den Ingenieuren und Schiffbauern derzeit weltweit dicke Auftragsbücher.

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Treibeis wird zermalmt

„Eisbrecher“ sind genau genommen nur jene Schiffe, die allein für diesen Zweck gebaut wurden. Vor allem Russland, Schweden und Finnland brauchen die mächtigen Fahrzeuge, um im Winter die Wasserstraßen in der nördlichen Ostsee freizuhalten. Finnland ist die einzige Nation, der im Winter sämtliche Seehäfen zufrieren. In der Regel dampft ein Eisbrecher voraus. In der eisfreien Rinne folgen dann Tanker und Handelsschiffe im Konvoi. Andere Eisbrecher halten an den neuen Bohrinseln im Kaspischen Meer Wache. Sie zermalmen antreibende Eismassen und verringern so den Druck auf die Bohrinsel. Neben den echten Eisbrechern gibt es eine Reihe anderer Schiffe, die sich in eisige Gebiete vorwagen. Experten nennen sie schlicht „eisbrechende“ oder „eisgängige Fahrzeuge“: Forschungsschiffe, Frachter, Versorger für Bohrinseln oder Tanker. Bei ihnen ist die Eisbrechfunktion bloß Mittel zum Zweck. Wie weit ein solches Fahrzeug ins Eis vorstoßen darf, bestimmt die Eisklasse, nach der die Konstruktion und der Antrieb ausgelegt werden. Grundsätzlich gilt: Je dicker das Eis, desto mächtiger sind Schiffswand und Maschine. Bei einem gewöhnlichen Handelsschiff genügt eine Stahlblechstärke von 15 Millimetern für den Bug. Bei einem eisbrechenden Fahrzeug hoher Eisklasse sind es schon mal 50 Millimeter. Auch die Verstrebungen – die „Spanten“ in der Schiffsnase – sind dicker. Außerdem sollte der Motor so stark sein, dass sich das Schiff aus eigener Kraft befreien kann, wenn es im Eis stecken bleibt.

150 000 Dollar Miete täglich

Finnen und Russen schicken bisher in ihren Hoheitsgewässern jedem Schiff einen Eisbrecher voraus, sogar dem sehr robusten deutschen Forschungseisbrecher „Polarstern“. Ein teurer Spaß: „ Pro Tag kostet die Miete eines russischen Eisbrechers in der Karasee rund 150 000 US-Dollar“, sagt Niini. Werften wie Aker, aber auch Reedereien, arbeiten daher verstärkt an Eisbrecher-Konstruktionen für Schiffe, die die Eisklassen-Normen übererfüllen und so künftig unabhängig fahren können. Unabhängigkeit – das ist das Ziel aller, die jetzt in die Arktis streben. Schon in wenigen Jahren sollen sich Frachter, Tanker und Schwergutschlepper im Packeis tummeln, Öl und Gas abtransportieren und Baugeräte zu neuen Bohrinseln im Eis schaffen. Solche Schiffe in eisfeste Fahrzeuge zu verwandeln ist eine große Herausforderung.

Der Rumpf eines gewöhnlichen Containerschiffs ist schnittig und bietet dem Wasser wenig Widerstand. Unten am Bug sitzt meist die typische Nase, um den Koloss besser durchs Wasser preschen zu lassen. Damit lässt sich der Treibstoffverbrauch senken. Schnittiger Rumpf und Nasenwulst aber sind bei einem Eisbrecher völlig fehl am Platz. Seit Jahren schon baut man Eisbrecher vorzugsweise mit Löffelbug – einer breiten gewölbten Schnauze. Wird das Eis zu dick, schiebt sich der Eisbrecher wie eine Sattelrobbe auf die gefrorene Fläche und zerbricht das Eis durch sein Gewicht. Doch Löffelbug-Schiffe gehören nicht zu den ozeanischen Sprintern. In schwerer See rollen sie wegen ihrer rundlichen Schiffsform hin und her.

Schippern wie ein Brett

Auch der inzwischen klassische Thyssen-Waas-Bug, den vor etwa 30 Jahren der deutsche Techniker Heinrich Waas erdacht hat, ist nicht gerade für hohe See geschaffen. Der Bug ähnelt der platten Schnauze eines Landungsbootes. Bei starkem Seegang donnert er wie ein flaches Brett auf die Wellen. „Slamming“ nennen Fachleute die dumpfen Schläge, die das ganze Schiff erzittern lassen. Das Eis brechen aber kann der Waas-Bug ausgezeichnet. Er hat zwei scharfe Kanten, mit denen sich das Schiff durchs Eis schneidet. Der Clou: Das Schiff schiebt die abgebrochenen Eisschollen durch seine besondere Rumpfform seitlich unter die Eisdecke – und hinterlässt so eine fast eisfreie Rinne. Die friert viel langsamer zu als Kanäle, in denen Eisstücke schwimmen.

Für eisgängige Frachter oder Tanker aber braucht man neue Lösungen. Denn sie legen nur einen Teil ihrer Route im Eis zurück, und in offener See gilt es, schnell und treibstoffsparend voranzukommen. Aker Arctic setzt deshalb seit einigen Jahren auf das Double-Acting-Konzept – auf Schiffe mit schnittigem Bug und Eisbrecher-Heck. Für gewöhnlich fahren diese Schiffe vorwärts. Dünnes Eis können sie mit dem Bug brechen. Sind die Eismassen aber zu dick, wendet das Schiff und fährt mit dem eisbrecherartig geformten Heck voran weiter. Die spezielle Rumpfform haben Mikko Niini und seine Mitarbeiter vor wenigen Jahren im Eiskanal entwickelt und getestet. Mittlerweile sind mehrere Double-Acting-Schiffe auf den Ozeanen unterwegs, etwa der Tanker „ Tempera“ und der Erz-Frachter „Norilskiy Nickel“, der Erz vom Jenissei nach Murmansk fährt. Heck voran bricht die Norilskiy Nickel 1,50 Meter dickes Eis. Damit ist sie stark genug, um künftig aus eigener Kraft durch arktische Gewässer zu kreuzen, sagt Niini. „Außerdem sinkt der Treibstoffverbrauch auf der Strecke gegenüber einem normalen Eisbrecher um zwei Drittel.“

Aker hat die Double-Acting-Technik zu einem Markenzeichen gemacht und den Begriff durch Patente schützen lassen. „Wirklich neu ist die Idee allerdings nicht“, sagt Karl-Heinz Rupp, leitender Ingenieur in der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt (HSVA). Die HSVA betreibt einen der größten Eiskanäle weltweit und testet schon seit 1958 Modelle im Eis. Dort wurde Anfang der 1980er-Jahre auch der Rumpf der Polarstern entworfen. Rupp betont: „Letztlich muss jedes eisgängige Fahrzeug in der Lage sein, vorwärts und rückwärts Eis zu brechen – sonst sitzt es schnell fest.“

Ähnlich sieht das Berthold Steinjan von der Reederei Phoenix in Leer, der sich als „Fleetmanager“ um die technische Ausrüstung seiner Flotte kümmert. Die Leeraner wollen als eine der ersten Reedereien in die Arktis aufbrechen. Gemeinsam mit dem dänischen Ingenieur-Büro Knud E. Hansen in Kopenhagen hat Steinjan ein Transportschiff entwickelt, mit dem schwere Bauteile für Gas- und Öl-Bohrinseln in die Arktis geschafft werden sollen. Offenbar ist es der Reederei gelungen, einen guten Kompromiss zwischen Eisbrechen und schnittigem Fahren zu finden. „Wir haben den Bug so optimiert, dass er fast so flott durchs Wasser gleitet wie ein Schiff mit Wulst, aber auch sehr gut Eis bricht“, sagt Steinjan. „ Und natürlich können wir auch rückwärts durchs Eis fahren.“

Propeller wie ein Zeppelin

Modell-Tests im Eiskanal der HSVA haben gezeigt, dass der arktische Transporter Bug voran 1,30 Meter dickes Eis brechen kann. Rückwärts wird er sogar 1,50 Meter knacken, da das Heck entsprechend geformt ist. An der Unterseite sitzen – wie Propeller-Gondeln an einem Luftschiff – zwei Azimuth-Antriebe. Solche Antriebe arbeiten meist elektrisch, werden von einem dieselbetriebenen Generator versorgt und benötigen – anders als der klassische Heckpropeller – keine lange Schraubenwelle. Sie können praktisch überall am Rumpf befestigt werden, sind um 360 Grad drehbar und machen Schiffe extrem wendig. Viele Eisbrecher werden damit ausgerüstet. „Dank Azimuth-Antrieb kann sich ein Schiff besser aus dem Eis wühlen, außerdem kommt es ohne Ruder aus, das im Eis beschädigt werden könnte“, sagt Steinjan. Er rechnet damit, dass der Schiffsverkehr im Norden in den kommenden fünf Jahren durch die Öl- und Gasförderung deutlich zunehmen wird.

Dass sich die Nordostpassage in der gleichen Zeit zu einem neuen Fracht-Highway zwischen West und Ost entwickelt, glaubt er aber nicht. „Noch steht der Beweis aus, dass man die Strecke, die ja erheblich kürzer als die klassische Route durch den Suez-Kanal ist, trotz Eis wirtschaftlich befahren kann.“ Steinjan und seine Kollegen arbeiten gemeinsam mit deutschen und russischen Experten in einem Forschungsprojekt an der Eis-Routen-Optimierung für den nördlichen Seeweg. Die Forscher verknüpfen mathematische Meeresströmungs- und Eismodelle sowie Wetter- und Satellitendaten, um damit eine Art „Eiswetterbericht“ für den arktischen Ozean zu liefern. Das Problem: Die Eismassen der Arktis sind keineswegs glatt wie auf einem zugefrorenen Ententeich. Das Eis ist vielmehr ständig in Bewegung. Wind und Meeresströmungen schieben die Schollen aufeinander und türmen die Platten zu mächtigen Presseisrücken von teils über 20 Meter Dicke auf. Für schwache Schiffe sind das unüberwindliche Hürden. Die neuen Modelle sollen künftig genau vorhersagen, wo das Eis gefährlich zusammengepresst wird und welche Alternativrouten sicher sind.

Bohren unterm Eis

Der stärkste Eisbrecher der Welt, der derzeit in Hamburg Gestalt annimmt, wird einen solchen arktischen Eisbericht wohl kaum brauchen. Die „Aurora Borealis“ soll 2014 in Dienst gestellt werden. Sie wird mit einem fast 120 000 PS starken diesel-elektrischen Antrieb ausgestattet sein. Damit kann sie unabhängig durch den arktischen Winter kreuzen und bis zu 2,50 Meter dickes Eis durchbrechen. 15 Meter mächtige Presseisrücken zermalmt sie genau wie andere Eisbrecher durch Rammen. Weil sie manövrierfähig bleibt, ist es Wissenschaftlern erstmals möglich, während der kalten Monate tief in der Arktis wichtige Umwelt- und Klimadaten zu erfassen. „Die schweren russischen Eisbrecher können einander helfen, wenn sie doch einmal im Eis stecken bleiben“, sagt Aurora-Chef-Designer Berend Pruin aus Hamburg. „ Die Aurora Borealis aber wird ganz auf sich allein gestellt arbeiten müssen – zunächst in der Arktis, später möglicherweise auch in der Antarktis.“

Die Aurora steckt voller technischer Raffinessen, denn sie hat eine besondere Aufgabe: Sie ist ein Bohrschiff und wird erstmals unter dem mächtigen Packeis der Arktis Bodenproben nehmen. Doch wer inmitten treibender Eismassen bohren will, muss sein Schiff exakt auf Position halten können. Denn sobald das Schiff sein Bohrgestänge ausgefahren hat, um in bis zu 5000 Meter Wassertiefe zu bohren, darf es nur wenige Meter von seiner Position abweichen. Die Aurora wird dafür mit sechs Querstrahlern ausgestattet – starken Steuer-Propellern, die man unten aus dem Schiffsboden ausfährt wie das Periskop eines U-Boots. Drückt das Eis gegen den Rumpf, halten die Querstrahler dagegen. Die Aurora Borealis hat deshalb als erstes Schiff eisbrechende Bordwände. Die „geneigten Seiten“ sind eine Erfindung des HSVA-Ingenieurs Karl-Heinz Rupp. Wie mit dem Löffelbug kann sich die Aurora damit seitlich auf das Eis schieben und es brechen. Selbst in festem Eis bleibt sie so voll manövrierfähig und drehbar.

Heimeliges Gefühl an Bord

Drei Schiffsschrauben am Heck treiben die Aurora an. Fällt ein Antrieb aus, bleiben noch zwei, um das Schiff aus dichtem Eis herauszudrücken – eine wesentliche Voraussetzung für echte Autarkie im Eis. Die Querstrahler im Schiffsboden lassen sich sogar in der bordeigenen Werkstatt warten. Mit einem Kran werden sie dazu einzeln aus ihren Schäften herausgehoben. „Ein kaputter Azimuth-Antrieb lässt sich dagegen nur in der Werft überholen“, sagt Pruin. Das Projekt wird vor allem vom AWI und von der Wärtsilä Ship Design in Hamburg, einer Tochter der finnischen Werft Wärtsilä, vorangetrieben. Zum Konsortium gehören 15 weitere Forschungsinstitute und Firmen aus 9 europäischen Ländern.

Im Eiskanal und Modellmaßstab hat die Aurora bereits gezeigt, was in ihr steckt. Drehen, Rammen und Positionhalten klappte perfekt. Dazu kommt: Die Aurora Borealis wird nur Außenkabinen besitzen und mit einem lichtdurchfluteten Innenhof für Labors ausgestattet sein. Damit wird sie der erste Eisbrecher sein, auf dem es heimelig ist – selbst im arktischen Winter. ■

Tim Schröder ist Wissenschafts- und Technikjournalist in Oldenburg. Nach seinem Besuch am Eiskanal träumt er von einer Fahrt durch die Arktis.

von Tim Schröder

Von der Kunst, Kunsteis zu machen

Wer Eisbrecherrümpfe testen will, braucht nicht nur Schiffsmodelle aus Sperrholz und Kunststoff, sondern auch eine Eisfläche, die sich annähernd so verhält wie die meterdicken Schollen im Meer. Denn nur wenn das Eis realistisch bricht, lassen sich die Ergebnisse auf die echten großen Schiffe übertragen.

Das Eismachen ist eine fast alchemistische Kunst, die die Ingenieure der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt im Laufe der Jahrzehnte perfektioniert haben. Um Eis zu erzeugen, strömt minus 20 Grad Celsius kalte Luft durch den Versuchskanal. Pro Stunde wächst die Eisdicke um zwei Millimeter. Während die Wasseroberfläche langsam gefriert, blubbert am Boden des Tanks Druckluft ins Wasser. Tausende feiner Luftblasen steigen auf und werden vom wachsenden Eis eingeschlossen. Das macht die Eisfläche zugleich starr und brüchig. Dadurch kann das künstliche Eis realitätsnah zu kleinen Eisschollen brechen.

Mit ihrem „Eismodell“ können die Forscher zum Beispiel einjähriges Eis nachahmen. Natürlich lassen sich auch Presseisrücken oder andere Hindernisse imitieren. Einjähriges Eis hat einen hohen Salzgehalt, ist etwas dehnbar und schneeweiß. Übersteht es den Sommer, taut es an und verliert dabei Salz. Gefriert es erneut, bildet sich hartes, grünes Eis. Mehrjähriges Eis, das den Prozess des Tauens und Gefrierens wiederholt durchgemacht hat, ist extrem hart und praktisch salzfrei. Es leuchtet tiefblau. Wenn man die Versuchsbedingungen entsprechend variiert, lassen sich diese verschiedenen Eis-Eigenschaften im Testkanal nachahmen.

Mehr zum Thema

Internet

Homepage von Aker Arctic in Helsinki: www.akerarctic.fi

Website der Hamburger Schiffbauversuchsanstalt: www.hsva.de

Informationen zum geplanten Forschungseisbrecher „Aurora Borealis“: www.eri-aurora-borealis.eu

Fahrt Im Zick-Zack-Kurs

Was bedeutet es, einen Eisbrecher zu steuern?

Das bedeutet vor allem, dass Sie nicht einfach geradeaus fahren können. Oft versperren mächtige Presseisrücken oder stahlharte meerjährige Eisschollen den Weg. Als Kapitän entwickelt man eine Art Eistaktik. Ich lote aus, wo das Eis am schwächsten ist und bahne mir einen Zick-Zack-Kurs hindurch. Dazu klettere ich manchmal wie die alten Seefahrer in den Ausguck, das Krähennest. Oder ich schicke den Bord-Helikopter los.

Warum durchbrechen Sie die Hindernisse nicht einfach?

Weil das zeitraubend ist und das Schiff extrem belastet. Wenn gar nichts mehr geht, dann müssen wir rammen. Wir setzen zurück, holen Schwung und donnern gegen das Eis, bis es bricht. Das ist so, als würde man mit seinem Auto ein Loch in die Garagenwand boxen.

Ein Eisbrecher bleibt niemals stecken?

Doch, das kann schon passieren. Bei einem Winterexperiment nördlich von Spitzbergen saßen wir vor einigen Jahren im Presseis fest, inmitten von treibenden, sich auftürmenden Schollen. Das Presseis war stark genug, um unser 17 000 Tonnen schweres Schiff einen Meter aus dem Wasser zu heben.

Kann man solche Situationen vermeiden?

In der Regel schon. An der Farbe des Eises lässt sich meist gut ablesen, auf welche Art von Eis man zusteuert. Erfahrung macht die Navigation im Eis natürlich leichter.

Hat die Fahrt mit einem Eisbrecher für Sie nach 13 Jahren noch eine Faszination?

Mit Sicherheit: ja. Letztes Jahr haben wir für ein Versorgungsschiff eine Fahrrinne ins Packeis der antarktischen Atka-Bucht gerammt. Wir haben die Küste an einem herrlich sonnigen, windstillen Tag erreicht. In einem solchen Moment durch das Eis zu fahren, ist wunderschön.

Kompakt

· Ingenieure entwickeln Technologien, mit denen Tanker und Frachtschiffe künftig selbstständig in den eisigen Gewässern der Arktis manövrieren können.

· Eine spezielle Schiffsform soll für eisbrechende Kraft und Wendigkeit sorgen.

· Ein neues Forschungsschiff wird erstmals durch Eis im Meeresboden bohren können.

das Manhattan-Experiment

Als man 1968 vor der Küste Alaskas große Ölfelder entdeckte, waren die Experten ratlos. Wie ließ sich der kostbare Rohstoff aus der Eiswüste zu den großen Ölhäfen an der Ostküste der USA transportieren? Die Manager des US-Konzerns Humble Oil and Refining beschlossen, erstmals mit einem Handelsschiff das Packeis der Nordwestpassage zu durchbrechen, den gefährlichen arktischen Seeweg von der Pazifikküste Alaskas bis in den Atlantik. Einen Tanker mit Eisbrecherqualitäten gab es nicht. Doch der sechs Jahre alte Öltanker „Manhattan“ war interessant: ein gewöhnliches 30 000-Tonnen-Schiff, das dank seines kälteresistenten Stahls, der kleinen stabilen Tanks und des ungewöhnlich starken Motors geradezu ideal dafür war, zu einem Eisbrecher zu werden. Gemeinsam mit Eisbrecher-Experten der finnischen Werft Wärtsilä verpassten die Amerikaner dem Schiff eine damals revolutionäre Gestalt: einen starken Rumpf und vor allem einen flachen, breitschultrigen Bug. Damit sollte sich das Schiff wie ein ausladender Football-Spieler durchs Eis pressen. Im August 1969 brach der runderneuerte Koloss zu seiner 4400 Kilometer langen Testfahrt nach Norden auf. Als weltweit erster Tanker durchbrach er meterdickes Eis. Am Ziel in Alaska nahm er ein symbolisches Fass Öl an Bord, mit dem er nach New York zurückfuhr. Das Projektteam feierte sein „Manhattan-Experiment“ als Erfolg. Doch das Schiff sollte nie wieder die Nordwestpassage befahren, denn kurze Zeit später gab es Grünes Licht für den Bau der Trans-Alaska-Pipeline, die man für wirtschaftlicher und sicherer hielt. Die Idee von der Nordwestpassage als Handelsroute lag auf Eis – bis heute.

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