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Chronischer Schmerz – schmerzvolle Chronik

Allgemein

Chronischer Schmerz – schmerzvolle Chronik
Ausgegrenzt und eklatant unterversorgt – trotz guter Therapiemöglichkeiten sind chronisch schmerzkranke Menschen in Deutschland Stiefkinder der Medizin.

„Ich bin dein neuer Herr“, sagte der Schmerz, als er sich vorstellte. „In Zukunft wirst du keine anderen Herrn mehr neben mir haben.“ Eine bessere Beschreibung als die, die der Autor Tilman Spengler in seinem Buch „Wenn Männer sich verheben“ für die anhaltende Pein gibt, lässt sich kaum finden.

Tilman Spengler leidet an chronischen Rückenschmerzen, einer besonders häufigen Schmerzform, über die 40 Prozent der Bundesbürger klagen. Weitere Beispiele für Schmerzarten, die sich oft und rasch zu unbarmherzigen Herren entwickeln und ihre Opfer diktatorisch quälen, sind Kopfschmerzen oder Schmerzen in den Gelenken, verursacht durch weit verbreitete Krankheiten wie rheumatoide Arthritis und Arthrose. Insgesamt leidet in Deutschland etwa jeder Achte an chronischen Schmerzen, europaweit, ergab kürzlich eine Umfrage, ist es gar jeder Fünfte. „Wenn nicht endlich etwas geschieht“, klagt Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident des Schmerztherapeutischen Kolloquiums, „werden Schmerzen zur Epidemie des 21. Jahrhunderts.“

Grund zur Klage gibt es genug. Denn für die Millionen schmerzgeplagter Menschen existieren viel zu wenige kompetente Anlaufstellen, geschweige denn ein funktionierendes schmerztherapeutisches Netzwerk. Die Misere ist freilich nicht neu: Seit über zwei Jahrzehnten sind die skandalösen Defizite der Schmerztherapie bekannt – geändert hat sich bislang nichts.

Für Prof. Hubert Bardenheuer ist der eklatante Missstand umso beklagenswerter, als die Schmerzforschung beachtliche Fortschritte vorzuweisen hat. „Heute muss niemand mehr unter starken chronischen Schmerzen leiden“, betont der Leiter des Zentrums für Schmerztherapie am Universitätsklinikum Heidelberg: „ Schmerzen können genommen, in jedem Fall aber gelindert werden.“

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Das allerdings setzt eine fachkundige Behandlung voraus, die sich nach dem neuesten Kenntnisstand richtet. Aufklärung tut Not, bei Patienten wie bei Ärzten. Viele Patienten sind noch immer der Ansicht, man müsse Schmerzen „aushalten“, möglichst lange abwarten, bis sie von alleine wieder verschwinden. Mit so viel heroischem Durchhaltevermögen schaffen sie jedoch gerade die Voraussetzungen dafür, dass sich der Schmerz zum Diktator aufschwingen kann.

Denn grundsätzlich gilt: Der akute Schmerz, der beispielsweise nach einer Verletzung oder einer Operation auftritt, hat eine biologische Warnfunktion und verschwindet in der Regel wieder. Allzu oft „bellt“ der „Wachhund der Gesundheit“ – so nannten die griechischen Heilkundigen den Schmerz – jedoch auch dann noch, wenn das akute Ereignis vorüber ist. Die Schmerzinformationen brennen sich in das Zentrale Nervensystem ein, stoßen folgenschwere Umbauprozesse im Gehirn an und begünstigen damit die Chronifizierung.

Irgendwann wird der Schmerz zum ständigen Begleiter, wie ein „ Ohrwurm“, dessen Melodie nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Reize, die sich derart fest in unsere Hirnwindungen eingraben, so haben die Forschungen der letzten Jahre ergeben, bauen ein „ Schmerzgedächtnis“ auf. Und wie ein flüchtig wahrgenommener Duft manchmal eine ganze Welt von Erinnerungen wachruft, können nun harmlose Anlässe, etwa eine Berührung, das übersensible Nervensystem reizen und mit Schmerzsignalen antworten lassen. Längst entkoppelt von ihrer Ursache, führt die Pein bei chronisch Schmerzkranken ein kaum zu kontrollierendes Eigenleben.

Um eine solche Chronifizierung zu verhindern, gilt heute als sicherste Methode, den Schmerz gar nicht erst kennen zu lernen – oder die Bekanntschaft mit ihm schnellstmöglich wieder zu beenden. Eine von Anfang an konsequente Schmerzbehandlung verhindert, dass der Schmerz bleibende Spuren im Nervensystem hinterlässt.

Diese Zusammenhänge haben die medizinischen Grundlagenforscher Mitte der neunziger Jahre erkannt. Doch die Ergebnisse sind nicht nur vielen Schmerzkranken, sondern auch manchen Ärzten unbekannt.

Kein Wunder: „Erst seit der neuen Approbationsordnung ist eine spezifische Ausbildung zum Schmerz und seiner Therapie möglich, aber leider immer noch nicht als Prüfungsfach“, erklärt Bardenheuer. Und in der ärztlichen Fortbildung mangelt es an strukturierten Ausbildungsangeboten, eine bundeseinheitliche Facharztausbildung zum Schmerztherapeuten gibt es nicht.

Der Verband der Deutschen Ärzte für Algesiologie (Schmerzkunde) fuhr im Februar 2003 schweres Geschütz auf: „Altes Denken und das Beharren auf überholten Ansichten verhindern, dass die bisherigen Erkenntnisse der Schmerzforschung umgesetzt werden.“

Unter dem „alten Denken“ leiden vor allem solche Patienten, die stark wirksame Schmerzmittel benötigen, um nicht allein schon aufgrund der Schmerzen allen Lebensmut fahren zu lassen. Die Experten schätzen, dass in Deutschland 1,3 Millionen Menschen mit Opioiden behandelt werden müssten. Die derzeit verordneten Mengen reichen diesen Schätzungen nach allenfalls für 20000 Patienten – Deutschland als Entwicklungsland.

„Das alte Vorurteil, dass Opioide gefährlich sind und abhängig machen, ist unter Ärzten und Patienten noch immer weit verbreitet“ , ärgert sich Bardenheuer. Hinter diesem zähen Verordnungsverhalten steckt Informationsmangel: „Man muss die Pharmakologie eines Medikaments kennen, um es richtig einsetzen zu können.“ Kontrolliert gehandhabt, machen Opioide nicht süchtig.

Zu den wichtigsten Grundsätzen bei einer Opioid-Therapie zähle, so Bardenheuer, stets mit der niedrigsten Dosis zu beginnen, um sie dann an die Intensität des Schmerzes und die Bedürfnisse des Patienten anzupassen. Zudem sind heute „ Retardpräparate“ verfügbar, beispielsweise opioidhaltige Pflaster. Die setzen den Wirkstoff nach und nach frei und sorgen so für einen konstanten Pharmaspiegel im Blut. Ein schneller Wirkstoffanstieg wird umgangen, der Suchtimpuls bleibt aus. „ Selbst nach Jahren“, sagt Bardenheuer, „entwickeln die Patienten keine psychische Abhängigkeit.“

Unter der katastrophalen Unterversorgung leiden häufig krebskranke Menschen, die zwar nur einen kleinen Teil der Schmerzpatienten insgesamt ausmachen, oft aber stärkste Schmerzen haben. „Erhebliche Mängel in der Behandlung von Krebsschmerzen“, konstatierte die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes während ihres Jahreskongresses im Oktober 2003: Von den mindestens 250000 Tumorschmerz-Patienten in Deutschland erhalte nur etwa die Hälfte eine ausreichende Schmerzbehandlung. Die Ärzte werden deutlich: Die Gründe dafür seien mangelndes Wissen, fehlende Erfahrung und die „schlichte Vernachlässigung des Problems“.

Das weiß auch Carla Simon, Leiterin des telefonischen Informationsdienstes Krebsschmerz im Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg: Eine Umfrage unter den Anrufenden hat jüngst ergeben, dass nur jeder zweite Tumorschmerz-Patient stark wirksame Schmerzmittel erhält und dass diese meist zu niedrig dosiert werden.

„Unsere häufigste Empfehlung“, sagt Carla Simon, „ist eine Dosiserhöhung der Medikamente.“ Auch werden die potenten Schmerzmittel häufig nur dann eingenommen, wenn das Leiden unerträglich wird – notwendig ist jedoch die Einnahme nach einem festen Zeitplan.

Ein anderer Missstand, den die Umfrage offen gelegt hat, ist die Sprachlosigkeit zwischen Patient und Arzt. Rund ein Drittel der Befragten gab an, keine regelmäßige Kommunikation mit dem Arzt zu haben: „Die Leute holen sich ihr Rezept ab“, weiß Simon, „ und gehen mit ihren Schmerzen wieder heim.“ Ein schwerwiegender Mangel, wissen doch erfahrene Mediziner, dass Schmerzbehandlung zu über 50 Prozent Gespräch bedeutet.

Ein drittes Ergebnis hat die Therapeuten erschüttert: Während Patienten das Heidelberger Krebsschmerz-Telefon häufig in Anspruch nehmen, musste eine spezielle Hotline für Ärzte, die sich für ihre Schmerzpatienten Rat holen wollen, eingestellt werden – niemand hatte angerufen. Da verwundert die tragische Geschichte einer über 70-jährigen Rentnerin nicht: Sie war schwer an Krebs erkrankt und litt unter unerträglichen Schmerzen. Von ihrer Hausärztin wurde sie mit der Bemerkung nach Hause geschickt, diese könne nichts mehr tun, um die Schmerzen zu lindern. Die Patientin hat sich daraufhin erhängt. Sicher ein dramatisches Beispiel. Aber es hat sich genauso ereignet – im Frühjahr 2003 in Ludwigshafen.

 

KOMPAKT

• Chronische Schmerzen könnten zur globalen Epidemie des 21. Jahrhunderts werden. • Lang anhaltende Pein gebiert im Gehirn ein unkontrollierbares Schmerzgedächtnis. • Hilfe ist möglich: Opiumhaltige Medikamente machen – richtig angewendet – nicht süchtig.

Claudia Eberhard-Metzger

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