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Von Hasch zu Ecstasy: Eine deutsche Drogenkarriere

Allgemein

Von Hasch zu Ecstasy: Eine deutsche Drogenkarriere
Aus Flowerpower und Bewusstseinserweiterung ist ein mafiöser Markt mit gigantischen Gewinnspannen geworden. Und der intellektuelle Genuss-Nutzer wurde vom sozial entwurzelten Problem-User ersetzt.

Rückblicke sind gefährlich. Jede Erinnerung ist nur die Rekonstruktion der Vergangenheit zum Nutzen der eigenen Zukunft. Zu Deutsch: Wir malen uns die Vergangenheit schön nach dem Motto: „Früher war alles besser“. Vor allem: Wir waren besser als die Jugend von heute.

„Wenn diese Jugend nicht endlich von ihrem unerhörten Treiben lässt, ist diese Zivilisation zum Untergang verurteilt.“ Viele Erwachsene würden diesen Satz sofort unterschreiben. Da er aber auf einer 4000 Jahre alten Schrifttafel in der mesopotamischen Stadt Ur gefunden wurde und seither von allen Generationen in den verschiedensten Varianten wiederholt worden ist, charakterisiert er weniger die Realität als eine kollektive Wahrnehmungsverzerrung der jeweiligen Erwachsenengeneration.

Drogen in Deutschland 1964? Schon? Gibt es Drogen nicht erst seit 1968, seit Hippies und Studentenrevolte? Nein: Praktisch alle Drogen, die heute eine Rolle spielen, gab es 1964 schon. Auch die Grundmotive der Drogennutzer sind vergleichbar: Es gab und gibt die Genießer, die Gewohnheitsgebraucher und die Süchtigen. Die Anteile der verschiedenen Gruppen variieren von Droge zu Droge. Bei einigen Drogen ist die Zahl der Genießer fast Null. Es gab und gibt psychische Probleme und körperliche Abhängigkeiten. Es gab und gibt eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung des Drogenmarktes.

Die auffälligste Veränderung in der Drogenszene seit 1964 ist zweifellos das explosionsartige Wachstum eines illegalen Drogenmarktes in den sechziger und siebziger Jahren und dessen Veränderung und Verfestigung in den 20 Jahren danach.

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1964 war Boom-Zeit, das Wirtschaftswunder war selbstverständlich geworden. Deutschland brauchte Gastarbeiter, um das Zuviel an Arbeit zu bewältigen. Es wuchs eine Jugend heran, für die die Kriegsentbehrungen der Erwachsenen Geschichte waren. Diese Jugendlichen waren neugierig und experimentierfreudig – und sie fanden die Möglichkeiten, ihre Neugier zu befriedigen.

Die jungen Leute interessierten sich für andere Kulturen und Religionen, Klaus Meier und Lieschen Müller ebenso wie Brian Jones und George Harrison. Manche reisten nach Südamerika, nach Marokko, in den Libanon oder nach Indien. Und sie brachten Reiseandenken mit: Eine Sitar, eine Trommel, eine Wasserpfeife, einen halluzinogenen Pilz, etwas Haschisch oder auch Rohopium.

Die Drogen-Konsumenten jener Jahre sahen sich selbst intellektueller als die Junkies heute, sie waren oft an Hochschulen und den Oberstufen der Gymnasien zu finden. Dann kamen GIs aus dem Vietnamkrieg zurück in deutsche Kasernen, und auch sie brachten Drogenerfahrungen mit. Es entstanden Drogenszenen, es bildete sich ein Markt, der ökonomischen Gesetzen folgte. Mehr und mehr veränderte sich die Konsumentenstruktur – weg von den Intellektuellen, hin zu den Benachteiligten, hin zu Menschen, die an psychischen und sozialen Belastungen zu tragen hatten oder das Erwachsenwerden nicht bewältigten und die sich von den Drogen eine Linderung ihrer Probleme oder mindestens Zeiten des glücklichen Vergessens erhofften.

Entsprechend veränderten sich die Gewichtungen der gebrauchten Drogen. • Die intellektuellen Konsumenten waren interessiert am „ Genuss“ von Cannabisprodukten – aus China seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. bekannt – und an der „Bewusstseinserweiterung“ durch LSD (von den Beatles mit „Lucy in the Sky with Diamonds“ idealisiert).

• Die „Problemkonsumenten“ hielten sich mehr an die Opiate (seit fast 6000 Jahren als Heilmittel bekannt und in „Brown Sugar“ oder „Sister Morphine“ von den Rolling Stones besungen), denn die machen „dicht“. Aber auch Psychopharmaka wie Beruhigungs- und Schlafmittel (Benzodiazepine, erstmals 1957 synthetisiert) oder Aufputschstoffe wie Ritalin (ein Amphetamin wie Ecstasy) wurden konsumiert.

Zu Beginn der siebziger Jahre, als ich die ersten beruflichen Kontakte mit Drogenkonsumenten hatte, war Beschaffungskriminalität ein sehr viel geringeres Problem als heute – es gab weniger Konsumenten, und die Preise für die Drogen waren erheblich niedriger. Mitte der siebziger Jahre veränderte sich der Markt bei den Opiaten drastisch. Bis dahin dominierte dort „Berliner Tinke“, ein Gebräu aus Rohopium, dann stellten die Dealer den Markt gezielt auf das viel teurere Heroin um, das bis heute eine große Rolle in der Szene spielt.

Der deutsche Apotheker Friedrich Sertürner hatte 1806 erstmals den Hauptwirkstoff des Opiums – das Morphin – isoliert. Der nach dem griechischen Gott der Träume und Traumbilder Morpheus benannte Stoff wurde 1828 von der Firma Merck als starkes Schmerzmittel entwickelt. 1870/71 wurde Morphium im deutsch-französischen Krieg bei der Behandlung Verwundeter eingesetzt, viele wurden morphinabhängig.

Die Suche nach einem ähnlich wirksamen Mittel, das nicht süchtig machen sollte, führte 1874 zum Diamorphin (3,5-Diacetylmorphin). Die Firma Bayer brachte Diamorphin als „ Heroin“ auf den Markt – zur Hustenstillung, als Schmerzmittel und zur Behandlung von Morphiumabhängigkeit. Schnell wurde deutlich, dass man den Beelzebub mit dem Teufel hatte austreiben wollen. Die Obrigkeit reagierte mit Verboten. Nur: Parallel wuchs der illegale Handel. Was Verbote und Strafandrohungen bewirkt haben, ist schwer zu sagen. Die Szene jedenfalls ist in den letzten 40 Jahren gewachsen und hat sich eher verhärtet. Die großen Dealer haben viel Geld verdient, und viele Menschen sind gestorben.

1984 war Heroin die dominierende Droge des illegalen Marktes. Aids begann sich unter den Drogenabhängigen auszubreiten, und die Fixer gaben die Immunschwäche weiter: mit ihren Spritzen, durch Sexualkontakte, aber auch – und hierin steckt ein Stück Medizinskandal – als Blutspender. Neben und mit Heroin wurden weitere Drogen genommen – Alkohol und vor allem verschiedene Psychopharmaka. Die Zahl der Drogentoten erreichte Rekordhöhen.

Die Situation wurde als so dramatisch eingeschätzt, dass die Politiker auch in Deutschland nach langem Zögern bereit waren, kontrolliert Methadon als „Ersatzdroge“ zuzulassen. Die Behandlung etablierte sich in den neunziger Jahren. Der illegale Drogenmarkt konterte: Kokain wurde gepusht und gewann immer mehr an Bedeutung.

Zwar ist Kokain seit langem bekannt – der Kokastrauch wurde in Südamerika schon 2500 v.Chr. als Kulturpflanze angebaut, die chemische Isolierung gelang Mitte des 19. Jahrhunderts –, aber die explosionsartige Steigerung im illegalen Markt der neunziger Jahre schreckte die Experten auf. Wie Morphin und Heroin galt auch Kokain im 19. Jahrhundert zunächst einmal als Arznei und Genussmittel. Es mutet heute grotesk an: Bis 1903 enthielt ein Liter Coca Cola etwa 250 Milligramm Kokain.

Es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Modedroge in Paris und Berlin und auch später als Droge der Schicki-Micki-Szene bekannt, beliebt bei Künstlern, Werbeleuten, Sterneköchen und Fußballtrainern. In der Junkieszene kursierte Kokain ebenfalls, spielte aber lange keine große Rolle.

Mit der Methadonversorgung änderte sich die Situation: Wird ein Abhängiger nach den Regeln der Kunst mit Methadon behandelt, bringt eine Heroininjektion nicht mehr die erstrebte Wirkung. Heroin „lohnt“ sich für ihn nicht mehr.

Das gefällt nicht jedem Konsumenten und schon gar nicht den Händlern. Die Kokainwirkung dagegen wird durch Methadon nicht beeinträchtigt. Sicher ist das nicht das einzige, aber ein nicht zu unterschätzendes Motiv für den anhaltenden Aufstieg des Kokains zur momentanen Nummer 1 der Szene.

2004 liegt Kokain bei den Beschlagnahmungen von Drogen durch die Polizei mengenmäßig über Heroin – wie schon in den letzten Jahren. Eine große Rolle spielt heute Crack, eine Droge mit noch unangenehmeren körperlichen Folgen als Heroin und Kokain. Daneben gibt es eine Vielfalt von synthetischen Drogen vor allem aus Halluzinogenen und Amphetaminen, die zu immer neuen Varianten verbunden – „designt“ – werden. Amphetamin wurde 1887 synthetisiert und ab 1930 als Schnupfenmittel vertrieben.

Das Amphetaminderivat MDMA (Ecstasy) wurde erstmals 1914 synthetisiert, das Patent liegt bei der Firma Merck. Es wurde als Appetitzügler und in der Psychotherapie eingesetzt. Ende der sechziger Jahre waren MDMA und das verwandte MDA als „ Liebesdrogen“ bei den Hippies populär. Heute sind sie fester Bestandteil der europäischen Drogenszene.

Das System der professionellen Drogenhilfe hat dabei mehrere Wandel durchgemacht. In den Anfängen der illegalen Drogenszene waren die Helfer quasi „Peers“ der Abhängigen, halfen mit viel Empathie – und erlitten herbe Enttäuschungen, weil die meisten Abhängigen trotz aller Zuwendung Abhängige blieben und mit allen Tricks, Lügen, Täuschungen und scheinbarer Einsichtsfähigkeit weiterhin allein danach trachteten, ihren Drogenhunger zu stillen.

In der Folge entwickelte die professionelle Drogenhilfe rigorose Regelwerke vor allem in der stationären Therapie, die an militärischen Drill oder an Sekten erinnerten. Die damals favorisierte Idee „Wir dürfen dem Abhängigen kein einziges Schlupfloch lassen“ führte zu Verschärfungen im Betäubungsmittelrecht und zum Konzept „Therapie statt Strafe“ – besser wohl: „Therapie – sonst Strafe“.

Inzwischen muss in der stationären Therapie kein Süchtiger mehr die Treppe mit der Zahnbürste putzen und kein Schild mehr um den Hals tragen mit der Aufschrift „Ich bin ein Baby“. Die Sozialpädagogen haben gelernt, mit Psychologen und Medizinern zusammenzuarbeiten, und das hat zu einem Grundkonsens in der Suchttherapie geführt.

Worauf wir noch länger warten müssen, ist der große Durchbruch in der medizinischen Forschung, der eine echte pharmakologische Behandlung möglich macht. Zwar hat die Gehirnforschung in Sachen Sucht Fortschritte gemacht, wir wissen mehr über genetische Dispositionen – aber bei weitem noch nicht genug. Manche Aspekte scheinen komplizierter zu werden, je mehr wir wissen.

Bis hierhin ist dies die Geschichte, die bild der wissenschaft von einem Autor erwartet, der als Fachmensch einen großen Teil dieser 40 Jahre beruflich als „Drogenexperte“ begleitet hat.

Doch diese Darstellung des Themas Rauschmittel beschreibt nur den kleineren Teil des „Drogenproblems“. Denn: In Deutschland sterben allein in einer Woche mehr Menschen an den Folgen des Rauchens (etwa 2000) als an Heroin pro Jahr. Nicht viel niedriger sind die Zahlen bei Alkohol – sie sind sogar höher, wenn man die alkoholverursachten Unfälle und Gewalttaten dazu zählt. Fachleute rechnen mit mehr als 1,5 Millionen Alkohol- und ähnlich vielen Medikamentenabhängigen.

Dass dies nicht übertrieben ist, kann jeder mit einem einfachen Test überprüfen: Fällt mir in meinem Umfeld ein Betroffener ein? Wie viele fallen mir auf, wenn ich durch die Stadt gehe? Daneben wirken die Zahlen der Abhängigen von Heroin oder Kokain gar nicht mehr so hoch. Was ist der Grund dafür, dass wir das objektiv geringere Problem mit so viel mehr öffentlicher Aufmerksamkeit betrachten? Vielleicht weil mehr von uns in irgendeiner Weise betroffen sind und wir deshalb wissen, wie schwer Veränderungen sind?

Oder sollte es auch materielle Gründe geben? Schauen wir doch einmal aufs Geld. 1964 wie heute hält ein zentrales Motiv den Drogenmarkt auf hohem Niveau: Hier lässt sich viel Geld verdienen. Nicht nur mit illegalen Drogen, mit denen in Europa ein jährlicher Umsatz von geschätzten 124 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet wird. Auch die legalen Drogen waren und sind von immenser wirtschaftlicher Bedeutung.

Die Tabaksteuer ist die viertwichtigste Einnahmequelle des Bundeshaushalts. Stellen wir uns einmal vor, die Raucher würden die Warnungen der Gesundheitsminister beherzigen und ließen alle das Rauchen bleiben: Das entstehende Haushaltsloch entspräche dem halben Verteidigungsetat. Und das ist nur die reine Tabaksteuer, damit sind noch nicht die Folgen berücksichtigt, die die wegbrechenden Arbeitsplätze in Industrie, Vertrieb und Werbung haben würden.

Ganz zu schweigen von der Rentenversicherung, die erheblich an der Verlängerung der Lebenserwartung zu knapsen hätte. Bei einer Durchschnittsrente von 800 Euro pro Monat würde jedes Jahr Lebensverlängerung der 17 Millionen Raucher die Rentenversicherung mit rund 160 Milliarden Euro zusätzlich belasten. Für Alkohol lassen sich ähnliche Rechnungen aufstellen.

Bei einer näheren Analyse der gut eine Million Medikamentenabhängigen würden wir Personengruppen finden, bei denen drogenfreie Auswege aus der Abhängigkeit nahe liegen: alte und einsame Menschen zum Beispiel. Aber: Sind wir bereit, den Preis für die Drogenfreiheit zu bezahlen? Kümmern wir uns um diese alten und einsamen Menschen? Haben wir uns in den letzten Jahrzehnten so sehr mit den illegalen Drogen beschäftigt, weil wir diese Zusammenhänge nicht sehen wollen?

Und 2024? Auch da wird es Drogenmissbrauch geben. Die drogenfreie Gesellschaft ist so wahrscheinlich wie die keimfreie Natur, das problemlose Kind, die konfliktfreie Ehe.

Aber wer weiß, vielleicht regeln wir ja bis dahin unsere gesellschaftlichen Probleme etwas rationaler als heute. Denn immerhin hat sich von 1964 bis heute unsere Haltung zu Drogen leicht geändert: 1964 gehörte es zum guten Ton, im Wohnzimmer einen Aschenbecher bereit zu halten. Heute ist es eine anerkannte Regel der Höflichkeit, dass der Raucher auf den Balkon geht, um seiner Sucht zu frönen.

Vielleicht setzt sich diese Entwicklung ja fort, so dass wir in weiteren 20 Jahren eine objektive, von Tabus, Klischees und Verdrängungen ungetrübte Analyse von Nutzen oder Risiken aller Drogen, legal wie illegal, und ein darauf aufbauendes Regulierungssystem haben.

 

KOMPAKT:

• Der Konsum von illegalen Drogen unterlag in den letzten 40 Jahren einem „modischen“ Wandel. • Heute dominieren Kokain und synthetische Rauschgifte den Markt. • Im Vergleich zu den nicht verbotenen Rauschmitteln sind die „harten Drogen“ marginal.

Dr. Walter Kindermann

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Ve|ne|num  〈[ve–] n.; –s, –ne|na; Med.〉 Gift [lat.]

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