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Herbeigerechnete Klimagefahr

Allgemein

Herbeigerechnete Klimagefahr
In einer Wasserstoff-Wirtschaft der Zukunft würde ein Teil des Gases in die Stratosphäre entweichen. Droht dann eine Klimakatastrophe, wie US-Forscher prophezeien? Von Hamburger Meteorologen kommt Widerspruch.

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. „Das Ozonloch wird größer und im Frühling länger anhalten”, kündigte Prof. John Eiler vom California Institute of Technology in Pasadena an. Der Übeltäter sollte ausgerechnet Wasserstoff sein – bis dato als die Zukunftschance auf saubere Energie gepriesen. Eine Arbeitsgruppe um die Geophysiker John Eiler und Tracey Tromp hatte in einem Klimamodell die möglichen Klimafolgen einer Wasserstoff-Wirtschaft durchgerechnet und ihr alarmierendes Ergebnis in der Fachzeitschrift „Science” präsentiert.

Der Deutsche Wasserstoff-Verband (DWV) reagierte empört mit einer Pressemitteilung: Die Untersuchung sei nicht fundiert genug gewesen. Die Fachgruppe „Umweltchemie und Ökotoxikologie” der Gesellschaft Deutscher Chemiker hingegen sah die Arbeit des Eiler-Teams als willkommenen Warnschuss – über den klimatischen Einfluss von Spurengasen wie Wasserstoff sei viel zu wenig bekannt. Dr. Gerhard Lammel von der Fachgruppe: „Wir haben Instrumente, um die Folgen abzuschätzen. Die sollten wir auch nutzen, bevor wir übereilte Schritte unternehmen, die irreversible Schäden anrichten.” Die Wissenschaftswelt begann heftig zu rechnen.

Knapp vier Monate später erschien eine neue Modellierung zu den Folgen einer Wasserstoff-Wirtschaft – wieder in Science. Publiziert hatte sie eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut (MPI) für Meteorologie in Hamburg. Diesmal sahen die Konsequenzen für das Klima positiv aus: Der Treibhauseffekt werde in einer weltweiten Wasserstoff-Wirtschaft abnehmen und der unerwünschte bodennahe Ozonpegel sinken. „In der amerikanischen Studie waren die angenommenen Leckraten erheblich zu groß angesetzt”, tadelte Dr. Martin Schultz aus der MPI-Arbeitsgruppe.

Rund 20 Prozent des produzierten und transportierten Wasserstoffs entweichen im Szenario der US-Forscher in die Atmosphäre, als angenommene Verluste beim Ein- und Umfüllen sowie durch Undichtigkeiten an Tanks und Rohrleitungen. Schultz dagegen erwartet maximal 3 bis 10 Prozent Verluste – eine Menge, die sich nicht auf das Ozonloch auswirkt, urteilt der Hamburger Forscher.

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Auch in einem anderen wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Zukunftsszenarien: Schultz und seine Kollegen gingen von der Annahme aus, dass 50 Prozent aller fossilen Brennstoffe durch Wasserstoff ersetzt würden. Das Team um John Eiler hingegen gab glatte 100 Prozent vor: Sämtliche Aggregate, in denen heute Erdöl und Benzin verbrannt werden, galten in der US-Modellrechnung als durch Wasserstoff und Brennstoffzellen ersetzt.

Die beiden extremen Grundannahmen führten im Eiler-Szenario zu einer Vervier- bis Verachtfachung des vom Menschen verursachten Wasserstoff-Eintrags in die Atmosphäre – derzeit 15 bis 25 Millionen Tonnen pro Jahr. Das leichte Gas treibt in die Stratosphäre hoch, die Atmosphärenschicht in 10 bis 50 Kilometer Höhe. Dort unterstützt es in den gewaltigen Mengen, die das US-Team postuliert, im Computermodell die Wirkung der Ozon zerstörenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW): Der Wasserstoff reagiert in der sehr trockenen Stratosphäre mit Ozon, wobei Wasser entsteht. „Er pumpt Wasser in die Stratosphäre”, erklärt Eiler. „Dadurch kühlt die untere Stratosphäre ab, und es entstehen mehr Eiskristalle.”

An der Oberfläche der winzigen Eiskristalle, die sich in strato-sphärischen Wolken in etwa zehn Kilometer Höhe über den Polen sammeln, entstehen aus den FCKW im Polarwinter die eigentlichen Ozonzerstörer – in erster Linie Chlor. Gibt es mehr Eiskristalle, wird auch mehr Chlor gebildet und somit mehr Ozon zerstört. Um drei bis acht Prozent – soweit Eilers Ergebnis – werde der zusätzliche Wasserstoff-Eintrag den Ozongehalt über den Polen verringern. Die Folge des Ozonverlusts: Das Ozonloch werde sich erneut öffnen, anstatt – wie dies Atmosphärenforscher heute für den Zeitraum nach 2030 erwarten – kleiner zu werden.

Doch eine deutliche Mehrheit in der Forschergemeinde bezweifelt, dass Wasserstoff ein neuer Ozonkiller wird. Die meisten halten die Annahmen der US-Forscher um John Eiler für überzogen. „Erstens wird Wasserstoff auch in hundert Jahren nicht der einzige Energieträger sein”, sagt der Geophysiker Dieter Ehhalt, emeritierter Direktor des Instituts für Atmosphärische Chemie am Forschungszentrum Jülich. Auch die von Eiler prognostizierten hohen Emissionen hält er für unrealistisch: „ Einen Verlust von 20 Prozent Wasserstoff kann sich keine Industrie leisten”, kommentiert er. So sieht das auch Dr. Werner Zittel von der Beratungsfirma L-B-Systemtechnik in Ottobrunn, dort verantwortlich für Szenario-Rechnungen von Wasserstoff als Energieträger. Er kann sich nicht vorstellen, an welcher Stelle so große Mengen Wasserstoff entweichen könnten. Den Transport des Gases habe man heute bereits im Griff. Selbst in der älteren der beiden deutschen Wasserstoff-Pipelines im Ruhrgebiet liege der Verlust laut Betreiber unter 0,1 Prozent, weiß Zittel – und die Anlage ist inzwischen ein halbes Jahrhundert in Betrieb.

Auch eine Emission aus Autotanks schließt Zittel aus: Allein aus Sicherheitsgründen müssten die Hersteller dies unterbinden. „ Brennstoffzellengetriebene Autos dürften sonst in keiner Garage stehen und durch keinen Tunnel fahren”, sagt er. Der Grund: In überbauten Räumen könnte sich aufsteigendes Wasserstoff-Gas unter der Decke sammeln und mit dem Sauerstoff der Luft ein explosives Gemisch bilden. Um das zu verhindern, wird bereits in den heutigen Prototypen und Versuchsanlagen der aus stationären Tanks entweichende Wasserstoff beispielsweise in einen katalytischen Brenner geleitet und zu Wasser umgesetzt. In die Atmosphäre entschwebt dann Wasserdampf – und kein Wasserstoff.

Andere hingegen – auch die Gruppe um Eiler – sehen Autotanks in der Tat als mögliche Emissionsquelle. Vor allem, wenn der Wasserstoff flüssig gespeichert wird, bei Temperaturen unter minus 253 Grad Celsius: Selbst bei einem Tank, der einer hoch effizienten Thermoskanne gleicht, wird sich unweigerlich ein Teil des Wasserstoffs erwärmen und verdampfen. Dadurch entsteht nach mehreren Tagen ein Überdruck im Tank, zu dessen Abbau ein Teil des Gases abgelassen wird.

Auch beim Verflüssigen von Wasserstoff bleiben immer Gasmengen von einem bis fünf Prozent unverflüssigt zurück, die derzeit in die Luft geblasen werden. Doch alles in allem, schätzt Zittel, werde auch beim Umgang mit großen Mengen Wasserstoff ein Gesamtverlust von drei Prozent kaum überschritten.

Auf diesen drei bis maximal zehn Prozent Verlust basiert das Szenario der MPI-Arbeitsgruppe um Martin Schultz. In der Modellrechnung seines Teams nimmt der Wasserstoff-Gehalt in der Atmosphäre dadurch auf maximal das Doppelte zu – von gegenwärtig etwa 175 Millionen Tonnen, entsprechend 0,000004 Gewichtsprozent, auf höchstens 350 Millionen Tonnen. Das habe nur geringen Einfluss auf atmosphärische Prozesse, erklären die Hamburger Forscher. Viel entscheidender sei, dass in der von ihnen angenommenen Modellwelt 50 Prozent weniger fossile Rohstoffe verbrannt würden. Dadurch ändere sich die Zusammensetzung der unteren zehn bis zwölf Kilometer der Atmosphäre, der Troposphäre: Es entstünden etwa 20 Prozent weniger Kohlendioxid als heute – ein hochwillkommener Effekt. Der Gehalt der Stickoxide sinke um rund 30 Prozent.

Letzteres, führt Schultz aus, würde sowohl positive als auch negative Folgen haben: Zum einen würde der unerwünschte sommerliche Anstieg des erdnahen Ozons gebremst, zum anderen aber der Treibhauseffekt gefördert, weil das Treibhausgas Methan zunähme. Methan wird nämlich hauptsächlich durch die Reaktion mit Hydroxyl(OH-)-Radikalen abgebaut, deren Menge von der Stickoxid-Konzentration abhängt: Nimmt sie ab, sinkt auch der OH-Gehalt. In derselben Weise würde auch der zusätzliche Wasserstoff wirken: Er reagiert mit OH-Radikalen und hemmt dadurch den Methan-Abbau.

Das Gesamtergebnis sieht so aus: Ein Minus an bodennahem Ozon, ein abnehmender Treibhauseffekt durch weniger CO2, dafür eine leichte Zunahme des Treibhauseffekts durch mehr Methan. Unter dem Strich sei die Bilanz positiv, ist Schultz überzeugt: „Gewichtet man die Abnahme des Treibhausgases Kohlendioxid und den Anstieg des Treibhausgases Methan, dann resultiert eine Abnahme des Treibhauseffekts um fünf bis zehn Prozent. Wenn man die Leckraten unter Kontrolle halten kann, ist daher mit ziemlicher Sicherheit vom Wasserstoff nichts zu befürchten” – vorausgesetzt, er wurde unter Einsatz regenerativer Energiequellen erzeugt.

Um die „ziemliche Sicherheit” gegen ein klares Bild einzutauschen, fordern die Hamburger Wissenschaftler, Wasserstoff-Emissionen künftig flächendeckend zu erfassen. „ Bisher hat es niemanden so recht interessiert, die genauen Werte für Wasserstoff zu kennen und zum Beispiel seine Emission im Abgas heutiger Autos oder stationärer Verbrennungsprozesse zu messen”, bestätigt Werner Zittel von der L-B-Systemtechnik. Es entstehe nämlich neben Kohlenmonoxid auch Wasserstoff, wenn fossile Energieträger unvollständig verbrennen. Nur mit einer umfassenden Datenbasis lasse sich verfolgen, wie Wasserstoff in der Atmosphäre wirkt – und gegebenenfalls handeln.

MPI-Forscher Martin Schultz sieht weiteren Klärungsbedarf: „ Wir wollen in Zukunft den Übergang in eine Wasserstoff-Wirtschaft modellieren”, verrät er. Bisher sei nur ein künftiger Ist-Zustand untersucht worden – realistischer sei jedoch ein langsames Hineinwachsen in die neue Technologie. Energie werde viele Jahre lang aus fossilen Brennstoffen und Wasserstoff parallel erzeugt werden. Wie sich solche Mischformen auf die Atmosphäre auswirken, sei unbekannt.

Die kalifornischen Modellierer um John Eiler halten einen biologischen Aspekt für entscheidend, der die gesamte Klimadiskussion hinfällig machen könnte: Wie viel Wasserstoff vertragen Mikroorganismen im Boden? Die Kleinstlebewesen sind der wichtigste natürliche Verbraucher des Gases – sie nehmen rund 80 Prozent des Wasserstoffs aus der Atmosphäre auf und verarbeiten ihn in ihrem Stoffwechsel.

„Wir wollen herausfinden, wie schnell die Mikroorganismen sich an einen gestiegenen Wasserstoff-Gehalt in der Atmosphäre anpassen können”, sagt Eiler. Stellen er und seine Kollegen fest, dass sich die Bakterien bei einem Wasserstoff-Zuwachs vermehren und das Gas unverdrossen abbauen, stünde Wasserstoff tatsächlich als der erhoffte Saubermann da.

Zumindest, was das Klima angeht. Denn die Diskussion um mögliche Folgen einer Wasserstoff-Wirtschaft müssten die Forscher dann an einen anderen Schauplatz verlagern: aus der Luft in den Boden.

 

KOMPAKT

• Forscherteams haben begonnen, die Klimafolgen einer künftigen Wasserstoff-Wirtschaft in Computermodellen vorauszuberechnen. • Entscheidend über Nutzen oder Schaden ist, ob der Wasserstoff mit regenerativer Energie erzeugt wurde und wie viel davon aus Lecks in die Atmosphäre gelangt.

Barbara Witthuhn

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