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WIE DER KÖRPER DAS DENKEN PRÄGT

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WIE DER KÖRPER DAS DENKEN PRÄGT
Intelligenz steckt nicht nur in unserem Gehirn, sondern auch in unserem Bewegungsapparat. Vielleicht muss man Roboter bauen, um das zu begreifen.

Gibt es Intelligenz ohne Gehirn? Rolf Pfeifer ist davon überzeugt. „Eine große Überraschung war für mich der Passive Dynamic Walker von der Cornell University“, erzählt er. Ein zweibeiniges mechanisches Konstrukt, ganz ohne Motoren, ganz ohne Steuerung, das aber dennoch gehen konnte – bergab, der Schwerkraft folgend, ohne hinzufallen. Seine ganze Intelligenz steckte im Material und in der Art, wie es zusammengesetzt war. In den 1990-er Jahren sorgte der „passiv-dynamische Geher“ für Aufsehen in der Forscherszene rund um die Künstliche Intelligenz (KI).

Gehen – eine Intelligenzleistung? Den meisten Menschen mag die Fähigkeit, auf zwei Füßen zu laufen, trivial erscheinen, verglichen etwa mit Rechnen oder Schachspielen. Wer dagegen wie der Informatiker Rolf Pfeifer sein Leben lang versucht hat, intelligente Maschinen zu bauen, sieht das anders. „Die meisten menschenähnlichen Roboter, auch der berühmte Asimo von Honda, haben einen steifen, staksigen Gang“, sagt der 63-Jährige und macht es vor. „Das kommt daher, dass alle Gelenke einzeln angesteuert werden. Deshalb sind diese Roboter auch so langsam.“

Das Gangbild eines gesunden Menschen hat dagegen viel mit dem des mechanischen Gehers aus Cornell gemeinsam. „Wenn wir einen Schritt machen, schwingt unser Bein von selbst nach vorn“, sagt Pfeifer, der in seinem Züricher Labor für Künstliche Intelligenz viel mit Medizinern, Sport- und Neurowissenschaftlern zusammenarbeitet. Allgemein gesprochen: „Auch bei Kreaturen, die ein Gehirn haben, ist die Intelligenz verteilt. Sie steckt nicht nur im Gehirn, sondern auch im Bewegungsapparat.“ Neuerdings versucht der Schweizer zusammen mit Kollegen aus Paris und Hamburg, dieses Verhältnis zu quantifizieren. Er will mit informationstheoretischen Beschreibungen sozusagen den IQ unserer Muskeln, Sehnen und Knochen bestimmen. Auf Schätzungen lässt er sich nicht ein, doch er betont: „Möglicherweise ist der Mensch viel mehr ein Reflexwesen, als er glaubt.“

Er selbst hat das alles auf die harte Tour gelernt. Wie viele seiner Kollegen setzte er in den 1980-er Jahren, der Hochzeit der klassischen KI-Forschung, ganz auf Abstraktion. Künstliche Intelligenz bedeutete damals, Computern Menschensprache beizubringen, sie die logische Verknüpfung von Begriffen zu lehren. „Wir haben Expertensysteme programmiert, die beispielsweise Ärzte oder Ingenieure bei Diagnosen unterstützen sollten.“ Allerdings funktionierten diese Systeme nie besonders gut.

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EIN EXPERTE IN DER PRAXIS

Deshalb begann Pfeifer, zusammen mit Arbeitspsychologen menschliche Experten bei der Fehlersuche zu studieren, um mehr über die Art ihrer Expertise zu erfahren. Einmal versuchten die Forscher sogar, einen Techniker auszutricksen, der in Pharma-Unternehmen Pipettiermaschinen zu warten hatte. Bei einem Test im Labor stellten sie die Pipettenhalterung leicht schräg ein. Der erfahrene Mann kam ohne Hilfe nicht auf die Quelle des Übels und bemerkte schließlich verärgert: „So etwas ist bei mir in der Praxis noch nie vorgekommen.“ Das wunderte wiederum den Informatiker Pfeifer, und er begleitete den Techniker auf einem seiner Kontrollgänge in der Firma. Dabei beobachtete er Folgendes: Kaum zur Tür hereingekommen, fasste der Ingenieur mit einer automatischen Handbewegung die Pipettenhalterung und bewegte sie mehrmals auf und ab. Ein unbewusstes Ausprobieren, das ihm in Fleisch und Blut übergegangen war: Intelligenz ohne Worte, ohne Nachdenken.

Es waren Erlebnisse wie dieses, die bei Rolf Pfeifer ein Umdenken bewirkten. Eine Wende, die ab Mitte der 1980-er Jahre ein Großteil der weltweiten KI-Szene vollzog – die Wende zum „ embodiment“, zur „verkörperten Intelligenz“. Pionier in Europa war der Belgier Luc Steels. Er begann, Maschinen nach dem Vorbild der Natur zu bauen: Maschinen, die sich autonom bewegen und mit künstlichen Sinnesorganen die Welt erkunden, wie das Tiere und Menschen tun. Ziel war von Anfang ein „Verstehen durch Nachbauen“ , ein synthetischer Ansatz zur Erklärung der natürlichen Intelligenz. Pfeifer nahm ein Sabbatjahr, um in Brüssel bei Steels zu lernen, anschließend stellte er in seinem eigenen Labor an der Universität Zürich ab 1991 sein „gesamtes Forschungsprogramm auf den Kopf“.

Von nun an entstanden Maschinen wie „Puppy“, ein mechanischer Hund aus Aluminium, dessen „Schulter“- und „Hüftgelenke“ von einem simplen Programm rhythmisch bewegt werden. Je nach Geschwindigkeit des vorgegebenen Rhythmus und je nach Eigenschaft des Untergrunds verfällt Puppy dabei in unterschiedliche recht natürlich wirkende Gangarten: Er trottet oder rennt, läuft oder springt. Oder der mechanische Tänzer „Stumpy“, von drei Erfindern aus Zürich gebaut: Er steht auf vier gefederten Füßen und schwenkt nur seinen Oberkörper und die Schultern. Das Resultat sind viele komplex wirkende Bewegungen wie Gehen, Tanzen, Hüpfen und Drehen. Pfeifers aktueller Stolz ist ein selbst gebastelter „ Fisch“, der sich elegant durchs Wasser bewegt, obwohl er dafür nur eine seitwärts bewegliche Schwanzflosse aus biegsamem Kunststoff besitzt. Fürs Auf und Ab im Wasser benutzt der Fisch die Schwerkraft, und zur Geschwindigkeitsregulation kann er die Elastizität seiner Flosse verändern. „Etwas Ähnliches machen wir mit unseren Muskeln“, erklärt Pfeifer. „Wenn wir zum Beispiel von einem Stuhl herunterspringen, spannen wir sie stärker an, sodass der Aufprall besser abgefedert wird.“

Menschlicher als Puppy, Stumpy und der Fisch wirkt „Ecce“, eine Art Mann ohne Unterleib, dafür mit naturnahen Knochen, Muskeln und Sehnen ausgestattet. Entstanden ist er im Rahmen eines EU-Projekts. Pfeifer will mit ihm vor allem eine Bewegung studieren, die für ihn so etwas wie eine „Urszene“ der Wahrnehmung ist: das Ergreifen eines Gegenstandes mit der Hand und seine Beförderung ins Gesichtsfeld, sodass er angeschaut werden kann. Drei Sinnesmodalitäten sind an dieser Leistung beteiligt: Sehen, Tasten und der Bewegungssinn, der Signale aus Muskeln und Sehnen verwertet. Pfeifer ist begeistert davon, wie sehr der Bau unseres Schultergelenks diese Bewegung erleichtert, mit der wir ganz automatisch vom Greifen zum Begreifen gelangen.

Künstliche Evolution

Der Roboter auch? Möglicherweise schon, wenn er es „lernt“, zwischen den Informationen aus seinen verschiedenen Körperregionen Verknüpfungen zu bilden. Zum Lernen steht ihm nämlich ein „neuronales Netz“ zur Verfügung, ganz wie seinem Junior, dem kindlichen Roboter iCub (siehe Beitrag „Turnen, Malen, Lernen“ ab Seite 22). Roboter wie diese können nicht nur im „Hier und Jetzt“ agieren. Sie können sich auch in einer zweiten Zeitperspektive über Monate und Jahre entwickeln und dabei intelligenter werden.

Eine richtige Intelligenz-Explosion ist von Maschinen allerdings nur zu erwarten, wenn sie noch über eine dritte Zeitperspektive verfügen: Evolution. „Evolutionary robotics“ – auch dazu machen Mitarbeiter von Rolf Pfeifers Züricher Labor für Künstliche Intelligenz aufregende Experimente: Josh Bongard etwa, der heute an der University of Vermont in den USA forscht. In seiner Züricher Zeit brachte er mithilfe von Entwicklungsbiologen in seinem Computer eine Simulation zum Laufen, bei der sich kugelige Wesen („Einzeller“) über Nacht in vielen Einzelschritten zu raupenartigen Gestalten zusammensetzten, die schließlich sogar ihr – vorgegebenes – evolutionäres Ziel erreichten: einen Bauklotz umzuwerfen. Zumindest schafften sie das in der virtuellen Welt des Rechners. Und Pfeifers japanischer Doktorand Shuhei Miyashita demonstriert stolz, wie sich in der realen Welt schwimmende Plastikplättchen mit Magneten ganz von selbst zu stabilen Formen zusammenfinden. „Self-assembly“ heißt das Zauberwort, Selbstmontage. Auf molekularer Ebene passiert das in unserem Körper ständig.

Künstliche Intelligenz, künstliches Leben, gar eine künstliche Evolution: Es ist eine Entwicklung, die Emotionen weckt. „Das wird nie klappen, schließlich hatte die Evolution Milliarden Jahre Zeit dafür“, unken die einen. „Die Maschinen werden uns eines Tages über den Kopf wachsen und über uns herrschen“, fürchten die anderen. Rolf Pfeifer hat die Erfahrung gemacht, dass im Roboterlabor in der Regel erst einmal gar nichts klappt – gut für die Forscher, denn so können sie falsche Hypothesen aussondern. Und wenn dann etwas funktioniert: Kann man sicher sein, dass man genau auf die Lösung gestoßen ist, wie sie die Natur verwirklicht hat? „Das weiß man nie“, gibt Pfeifer zu.

BOTSCHAFTEN AUS DEM MUSKEL

Trotzdem glaubt er an den synthetischen Ansatz. Denn aus den Bio- und Geisteswissenschaften kommen Nachrichten, die auf eine viel engere Beziehung von Körper und Geist hindeuten, als man sie je erwartet hat:

· So haben Genetiker und Mediziner in den letzten Jahren herausgefunden, dass Muskeln keine reinen Biomaschinen sind. Sie produzieren Hunderte von Botenstoffen, mit denen sie ihre Versorgung und ihr Wachstum steuern.

· Besonders brisant: Muskelaktivität regt im Gehirn das Wachstum neuer Nervenzellen an. Bewegung schützt vor Demenz (siehe Kasten „Bewegende Medizin“ auf Seite 33) und lindert Depressionen. Eine neue „Bewegungsneurowissenschaft“ entwickelt sich.

· Psychologen haben verblüffende Experimente gemacht, die beweisen, wie sehr unsere Gedanken von unseren Körperbewegungen beeinflusst werden und umgekehrt: So erinnern wir uns eher an schöne Dinge, wenn wir Gegenstände in einem Regal von unten nach oben räumen. Räumen wir sie nach unten, fallen uns eher unangenehme Vorfälle ein. Denken wir an die Zukunft, schauen wir nach rechts oben, unser Blick in die Vergangenheit ist dagegen nach links unten gerichtet.

· Linguisten wie George Lakoff aus Berkeley weisen darauf hin, wie sehr wir unser Befinden in Metaphern der Bewegung beschreiben: „Es geht mir gut“, „Diese Aufgabe steht wie ein Berg vor mir“, „Ich muss einen Ausweg finden“. Dazu passen neurowissenschaftliche Befunde, die auf eine enge Nachbarschaft von motorischen Zentren und Sprachzentren im Gehirn hinweisen.

In seinem Buch „How the body shapes the way we think“ (siehe Kasten „Mehr zum Thema“ auf Seite 29), das er zusammen mit Josh Bongard schrieb, weist Rolf Pfeifer auf viele dieser Zusammenhänge hin. Überhaupt hätten ihn die intelligenten Maschinen, die er baut, viel über den Menschen gelehrt, sagt der Informatiker: vor allem, wie sehr wir von Faktoren unseres Körpers und unserer Umwelt gesteuert werden, die uns nicht zu Bewusstsein kommen. Der amerikanische Psychologe John A. Bargh nannte das einmal „die unerträgliche Automatizität des Seins“. ■

von Judith Rauch

KOMPAKT

· Eine neue Sicht der Intelligenz kommt aus der Informatik: Sie erklärt das Entstehen von Abstraktion aus konkreten Handlungen von Menschen, Tieren oder Maschinen.

· Ein Körper, der über Sensoren die Welt erfährt und sich darin bewegt, ist eine wichtige Voraussetzung, um lernen zu können.

· Psychologen können belegen, dass Körperhaltungen unsere Gedanken prägen, Linguisten finden viele Bewegungsmetaphern in unserer Alltagssprache.

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