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Flucht aus der Milchstrasse

Astronomie|Physik

Flucht aus der Milchstrasse
Astronomen sind den schnellsten Sternen auf der Spur. Manche der geheimnisvollen Raser werden unsere Galaxis für immer verlassen. Was hat sie auf ihr irrwitziges Tempo gebracht?

In klaren Sommernächten verzückt ihr Glitzern den Nachtschwärmer: die Milchstraße. Astronomen sehen nüchterner auf das schimmernde Band. Sie wissen, dass sie ein Sternsystem vor Augen haben – die Innenansicht unserer Galaxis. Für Millionen von Fixsternen ist sie die kosmische Heimat. Auch Sonne und Erde umkreisen seit Jahrmilliarden ihr Zentrum. Alle Bewegungen scheinen in angestammten Bahnen zu verlaufen. Doch die friedliche Ordnung trügt, denn zwischen all den Angepassten schwirren auch krasse Außenseiter: Als sie einst auf mysteriöse Weise beschleunigt wurden, begann ihre rasante Flucht.

Lange spekulierten die Forscher über die Möglichkeit, ob es überhaupt Himmelskörper gibt, die ihre Heimatgalaxie verlassen können. Es dauerte bis zum Jahr 2005, als Astronomen endlich den ersten kosmischen Raser meldeten. Der Stern im Sternbild Hydra brach alle Rekorde: Mit nie zuvor beobachteter Geschwindigkeit jagte er durch eine abgelegene Region der Milchstraße, rund 200 000 Lichtjahre von uns entfernt. Warren Brown aus Cambridge an der amerikanischen Ostküste hat den Heißsporn zusammen mit Kollegen entdeckt. Er nannte seinen Fund einen „Ausgestoßenen“ .

Obwohl die Kugeln einer Kalaschnikow mit knapp einem Kilometer pro Sekunde aus dem Rohr schießen, werden sie unweigerlich wieder zu Boden fallen – für einen Flug ins All sind solche Projektile viel zu langsam. Anders Raketen: Um der Erdschwerkraft zu entrinnen, müssen sie auf 11,2 Kilometer pro Sekunde beschleunigt werden. Raumsonden auf dem Weg hinaus aus dem Sonnensystem müssen sogar über 40 Kilometern pro Sekunde erreichen. Auch Sterne können der Milchstraße entfliehen – wegen deren enormer Masse müssen sie aber über zehnmal so schnell sein.

Als Brown und seine Kollegen das Tempo des ausgestoßenen Sterns aus dessen Spektraldaten berechneten, verblüffte sie das Resultat: Mindestens 709 Kilometer pro Sekunde, das sind mehr als 2,5 Millionen Kilometer pro Stunde. Die Forscher sind überzeugt: Er wird die Milchstraße verlassen. Mittlerweile wurde für solche Parias unter den Sternen ein neuer Begriff geprägt: Hyperschnellläufer.

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Rüde auseinandergerissen

Wie kommt der Flüchtling zu seinem irrwitzigen Tempo? Schon 1988 hatte der Astrophysiker Jack Hills vom Los Alamos National Laboratory in New Mexiko gezeigt, dass das theoretisch möglich ist. Seine Computersimulationen verwiesen auf das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße. Es vereint in seinem Inneren die unvorstellbare Zahl von vier Millionen Sonnenmassen. Ein Doppelstern, der sich diesem Monstrum näherte, würde von dem enormen Schwerefeld rüde auseinandergerissen. Der eine Partner müsste sich fortan in eine elliptische Umlaufbahn um das Loch fügen, der andere würde ins All katapultiert. Ein solcher Rauswurf, so errechnete Hills, geschieht mit hohem Tempo: bis zu 4000 Kilometer pro Sekunde sind theoretisch möglich. Die Eigenschaften des Paria-Sterns, den die Astronomen unter seiner Katalogbezeichnung SDSS J090745 + 0024507 kennen, scheinen dieses Szenario zu stützen: Die Richtung seiner Fluchtbewegung zeigt weg vom wahrscheinlichen Ort, an dem sein kosmischer Rauswurf stattfand.

Ist der Paria ein Einzelfall oder Teil einer Kaste von Ausgestoßenen? Selbst nach jahrelanger Fahndung ist die Liste immer noch kurz, Hyperschnellläufer sind extrem selten. Allerdings es ist auch schwierig zu klären, ob ein Stern für eine mögliche Flucht rasant genug ist. Ein Beispiel ist HD 271791, über den ein Forscherteam um Ulrich Heber von der Universität Erlangen-Nürnberg im Jahr 2008 berichtete. Rund 70 000 Lichtjahre von der Erde entfernt schießt er durchs All. Durch ihren Fund konnten die Forscher erstmals sämtliche Geschwindigkeitskomponenten eines hyperschnellen Sterns vermessen. Das Ergebnis: Auch HD 271791 legt ein beachtliches Tempo vor – zwischen 1,9 und 3,3 Millionen Kilometer pro Stunde. Der stellare Flitzer, so fand man bald heraus, ist etwas Besonderes. „Er hat die elf- fache Masse der Sonne“, wundert sich Heber. „Und Hyperschnellläufer haben typischerweise nur etwa die dreifache Sonnenmasse.“ Als Hebers Team die Bahn des Sterns berechnete, stellten die Forscher einen weiteren Unterschied fest: Sein Ursprung war nicht das Zentrum, sondern vielmehr der Rand der Milchstraße. Dort gibt es aber keine massereichen Schwarzen Löcher. HD 271791 muss sein Tempo also anders erreicht haben.

Hinweise lieferte die spektrale Zerlegung seines Lichts, durch die sich die chemische Zusammensetzung des Sterns entschlüsseln ließ. „Wir fanden viel Silizium, mehr als bei anderen Sternen. Und dieses Element kann nur in einer Supernova entstanden sein“, erklärt Heber. Die Oberfläche von HD 271791 wurde wahrscheinlich durch Material kontaminiert, das eine nahe Sternexplosion abgestoßen hat. Ursprünglich, so das plausibelste Szenario, kreiste der Stern um einen massereichen Begleitstern mit mindestens 55-facher Sonnenmasse. Ein solcher Stern hat nur eine geringe Lebenserwartung: Der Übergewichtige detoniert schon nach wenigen Millionen Jahren als Supernova. Unmittelbar zuvor dürfte die Umlaufdauer von HD 271791 nur einen Tag betragen haben. Der Astrophysiker Norbert Przybilla aus Hebers Team erklärt: „Eine Faustregel besagt: Wenn der massereiche Stern bei der Explosion mehr als die Hälfte seiner Masse verloren hat, wurde sein Begleiter gravitativ ungebunden.“ Die Schwerkraft reicht also nicht mehr aus, um die Himmelskörper aneinander zu ketten. Sollte sich derartiges bei HD 271791 ereignet haben, wäre der Stern ohne die Fessel der Schwerkraft einfach mit hohem Tempo geradlinig davongeschossen.

AUf der Flucht

Ob Sternen wie HD 271791 die Flucht gelingt, lässt sich allerdings nicht sicher sagen, denn Wissenslücken machen den Astronomen zu schaffen. So ist die Position dieser Sterne innerhalb der Milchstraße oft nicht genau genug bekannt. Das ist aber entscheidend, um zu beurteilen, welche Wegstrecke entgegen den galaktischen Anziehungskräften ein Flüchtling zurücklegen muss. Und man weiß zu wenig über die Geschwindigkeiten der meisten Sterne. Üblicherweise ist nur die sogenannte Radialgeschwindigkeit bekannt: die Komponente entlang der Sichtlinie zur Erde. Die größte Unsicherheit bei der Beurteilung der Fluchtchancen liegt jedoch buchstäblich im Dunkeln: die Masse der Milchstraße. Je größer sie ist, desto schneller müssen Sterne sein, um der Galaxis zu entfliehen.

Doch der Großteil der Masse steckt in der mysteriösen „Dunklen Materie“. Anders als die reguläre leuchtende Materie der Sterne und Gasnebel, kann die Dunkle Materie nur indirekt bestimmt werden. Daher kennen Astrophysiker die Gesamtmasse der Milchstraße bislang nur ungenau. „Der Gehalt an Dunkler Materie in der Milchstraße wird lebhaft diskutiert“, schrieb Przybilla 2010 im Fachblatt Astrophysical Journal. Zusammen mit Kollegen war er auf einen besonders schnellen Stern gestoßen – Katalogname: SDSS J153935.67 + 023909.8. Mit knapp 2,5 Millionen Kilometern pro Stunde saust er durchs All. Anders als die Hyperschnellläufer rast er auf das Innere der Milchstraße zu. Er wird das Zentrum unserer Galaxis mit knapp 30 000 Lichtjahren Abstand passieren. „Der Stern ist kein Einwanderer aus einer benachbarten Galaxie, denn in rückwärtiger Flugrichtung sind keine Sternsysteme auszumachen“, sagt Przybilla. „Trotz seines hohen Tempos ist er sehr wahrscheinlich an die Milchstraße gebunden.“

Milchstrasse auf der Waage

Den Forschern gelang es, alle Bewegungskomponenten des Rasers zu messen. Sie nahmen eine gebundene Umlaufbahn an – und rechneten zurück. Durch diesen Trick konnten sie die Milchstraße gleichsam auf die Waage legen. Mit überraschendem Resultat: „ Wahrscheinlich wird die Masse unserer Galaxis unterschätzt“, lautet Przybillas Schlussfolgerung. Für die untere Grenze setzt er 1800 Milliarden Sonnenmassen an – fast doppelt so viel wie andere Astronomen.

Was bedeutet das für die galaktischen Flüchtlinge? Momentan sind 17 Kandidaten als Hyperschnellläufer in der Diskussion. Wie viele übrig bleiben, muss sich zeigen, wenn die Masse der Milchstraße genauer bekannt ist. Denn vielleicht ist diese Masse so groß, dass nicht alle 17 Sterne dem Gravitationsfeld entkommen können, sondern einige gefangen bleiben.

Neue Messdaten sind auch nötig, um zu klären, ob es tatsächlich das Schwarze Loch im Galaktischen Zentrum ist, das immer wieder Sterne aus der Milchstraße schleudert. Große Hoffnungen richten sich auf den Gaia-Satelliten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, der im Dezember 2012 starten soll (siehe Kasten links „Mission zur Milchstraße“). „Gaia wird die vollständige Raumbewegung und die Distanzen der Sterne mit unerreichter Präzision messen“, freut sich Ulrich Bastian vom Astronomischen Rechen-Institut in Heidelberg. „Durch die präzisen Daten werden wir höchstwahrscheinlich klären können, welcher Mechanismus hinter der Sternenflucht steckt.“ Die Masse der Galaxis werden die Astrophysiker dann ebenfalls sehr genau bestimmen können. ■

THORSTEN DAMBECK ist promovierter Physiker und regelmäßiger bdw-Autor. In Heft 12/2010 schrieb er über die Herkunft der Ozeane.

von Thorsten Dambeck

Mission zur Milchstrasse

Gaia soll Ende 2012 mit einer Sojus- Rakete vom Weltraumbahnhof der ESA im südamerikanischen Kourou starten. Der zwei Tonnen schwere Satellit wird 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt stationiert. Zur Bestimmung der Distanzen und Bewegungen der Himmelsobjekte werden deren Winkel am Himmel vermessen – mit unerreichter Präzision. Gaias Genauigkeit entspricht dem Betrachtungswinkel, unter dem man von der Erde einen Golfball auf dem Mond sieht. Für solche Winkelmessungen peilt Gaia stets in zwei verschiedene Raumrichtungen. Im Lauf der Zeit werden die beiden Bordteleskope den gesamten Himmel erfassen. Gaia soll nicht nur bei der Suche nach Hyperschnellläufern helfen. Binnen fünf Jahren soll der Satellit auch rund eine Milliarde Himmelsobjekte vermessen. Fast alle Teildisziplinen der Astronomie werden von diesem umfassendem Katalog profitieren. Gaia gehört zu den Schwergewichten der europäischen Weltraumbehörde und kostet rund 600 Millionen Euro. Der Satellit wird bei EADS Astrium in Friedrichshafen und Toulouse gebaut.

Gut zu wissen: Die Milchstrasse

Könnten wir einen Blick von außen auf unsere Heimatgalaxie werfen, würden wir eine Spirale von gewaltigen Ausmaßen sehen. 100 000 Lichtjahre beträgt der Durchmesser der Milchstraßen-Scheibe. Ihre charakteristischen Spiralarme sind Zonen hoher Sterndichte und leuchtender Gasnebel. Eingebettet ist die Spirale in eine Art kugelförmige Wolke, den galaktische Halo. Er besteht aus rund 150 Kugelsternhaufen und meist alten Einzelsternen. Die Scheibe wird von jüngeren Sternen bevölkert, darunter ist auch die Sonne. Gemeinsam mit den Planeten umkreist sie das Zentrum in rund 30 000 Lichtjahren Abstand. Am Zentrum ballen sich die Sterne, sichtbar durch die Aufwölbung der Scheibe. In ihrem Innern lauert ein supermassereiches Schwarzes Loch mit rund vier Millionen Sonnenmassen.

Irdische und kosmische Raserei

Gegenüber den gewaltigen Geschwindigkeiten, mit denen manche Sterne durchs All sausen, spielen sich die irdischen „Rasereien“ im reinsten Schneckentempo ab.

KOMPAKT

· Einem Stern, der dem Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße zu nahe kommt, droht der Rauswurf aus der Galaxis.

· Er wird auf bis zu 14 Millionen Kilometer pro Stunde katapultiert.

· Rasende Sterne lassen sich nutzen, um die Masse der Milchstraße genauer zu bestimmen.

MEHR ZUM THEMA:

Lesen

Gutes wissenschaftliches Lehrbuch: A. Weigert, H. J. Wendker, L. Wisotzki ASTRONOMIE UND ASTROPHYSIK Wiley-VCH, Weinheim 2009, € 59,–

Brillante Einführung zu den Ursachen und Folgen von Sternexplosionen: Hans-Thomas Janka Supernovae und kosmische Gammablitze Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2011, € 14,95

Internet

Reinhard Genzel über das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße: www.scienceface.org/clip.php?clip=17 www.youtube.com/watch?v=ZDxFjq-scvU

Animation der Milchstraßen-Sterne im Orbit um das zentrale Schwarze Loch: www.eso.org/public/videos/eso0846h/

Das Gaia-Projekt: www.esa.int/SPECIALS/Operations/SEMK5HZTIVE_0.html

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