Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

BETONKOPF AUF DEM WENDEHALS

Gesellschaft|Psychologie

BETONKOPF AUF DEM WENDEHALS
Neue Experimente zeigen, dass sich Menschen rasch dem Gruppendruck beugen und voller Überzeugung die Unwahrheit verbreiten. Und: Wer am heftigsten lügt, wirkt am glaubwürdigsten.

Wahrscheinlich kennt jeder folgende Situation aus der Schulzeit: Ein Lehrer, der gerade einen komplizierten Lernstoff durchgenommen hat, fragt nach, ob es irgendwelche Fragen gebe. Obwohl keiner die Lektion begriffen hat, hebt niemand die Hand. Und jeder schließt aus dem kollektiven Schweigen, dass er als Einziger nichts verstanden hat. Auch die Bürger in dem Märchen „ Des Kaisers neue Kleider“, die sich ein Scheinkostüm vorgaukeln lassen, fallen dieser „pluralistischen Ignoranz“ zum Opfer. „In beiden Situationen stellen die Menschen eine Fassade zur Schau, weil sie Angst haben, sich mit ihrem wahren Selbst zu kompromittieren“, erklärt der Psychologe Dale T. Miller von der Stanford University. „Und die vorgespiegelte Fassade ist so überzeugend, dass die anderen sie für bare Münze nehmen.“

Menschen besitzen die eigentümliche Gabe, auf kollektive Glaubenssysteme hereinzufallen – die jeder für sich allein ablehnen würde. Unter extremen Bedingungen kann das soziale Normen zementieren, die keiner haben will. Trotzdem befolgt man sie, weil man glaubt, dass sie den anderen am Herzen liegen. Laut Miller konnte die Prohibition – das Verbot von Alkohol – in den USA nur deshalb 14 Jahre fortbestehen, weil der einzelne Amerikaner fürchtete, mit seiner Ablehnung allein dazustehen. Erst als Umfragen zeigten, auf wie wenig Rückhalt das Verbot stieß, wurde es sang- und klanglos fallen gelassen.

Striche des AnstoSSes

Warum verstecken sich Menschen hinter einer Fassade – und durchschauen diese bei anderen nicht? Ein Team um den Soziologieprofessor Robb Willer von der University of California, Berkeley erklärt das so: Menschen lassen sich beim Beurteilen ihrer Wahrnehmungen durch das Urteil anderer beeinflussen – sogar, wenn die Situation eindeutig ist. Wie hoch der Konformitätsdruck in einer Gruppe ist, hat bereits in den 1950er-Jahren der amerikanische Sozialpsychologe Solomon Asch eindrucksvoll bewiesen: Er stellte Versuchspersonen die einfache Aufgabe, Striche als gleich oder unterschiedlich lang zu bewerten. Ein Kinderspiel, das von jedem fehlerfrei erledigt wurde, solange er allein im Raum war. Wankend wurden die Probanden erst in Gegenwart anderer Personen, die auf Instruktion von Asch ein einheitlich falsches Urteil abgaben. Die echten Probanden liefen in Scharen zur Mehrheit über. Nur jeder Vierte blieb standhaft bei seiner richtigen Einschätzung.

Wir lassen uns umso bereitwilliger von der Mehrheit vereinnahmen, je vager und mehrdeutiger die Tatsachen sind. Und die meisten gesellschaftlichen Glaubenssysteme basieren nun einmal auf Meinungen, moralischen, ästhetischen oder politischen Einschätzungen. Dass Menschen sich auch in dieser weltanschaulichen Sphäre dem Diktat der Gruppe beugen, haben Willer und sein Team in einer Serie von Experimenten gezeigt. Im ersten Versuch bekamen 52 Personen die Aufgabe, die Qualität von drei angeblich unterschiedlichen Weinproben zu testen. In Wirklichkeit waren die Proben A, B und C identische Weine, allerdings hatte man Probe C durch die Zugabe von Essig ungenießbar gemacht. Die Probanden absolvierten den Test entweder solo oder in einer öffentlichen Runde mit vermeintlich anerkannten Weinexperten, die mehrheitlich Probe B als „ ungenießbar“ abkanzelten. Fazit: Auf sich alleine gestellt erkannten fast alle Teilnehmer Probe C korrekt als schlechten Tropfen. Unter Gruppendruck ließ sich jedoch eine Mehrheit von 53 Prozent ein „Iii…“ für ein „Mmm…“ vormachen und erteilte Probe B die rote Karte. Und nicht nur das: Ausgerechnet die Konformisten, die scheinbar Essig in Wein verwandelt hatten, hackten hinterher in der Gruppendiskussion am heftigsten auf der „ Unfähigkeit“ der Abweichler herum, die auf dem richtigen Urteil C bestanden hatten.

Anzeige

In einem weiteren Experiment wurden 76 Probanden beauftragt, den intellektuellen Gehalt eines soziologischen Textes zu begutachten, der in einem geschwollenen Ton verfasst war. De facto handelte es sich um Auszüge aus einem Manuskript, das der amerikanische Physiker Alan Sokal 1996 bewusst unsinnig zusammenmontiert und bei der für ihre postmoderne Ausrichtung bekannten Zeitschrift „Social Text“ zur Veröffentlichung eingereicht hatte. Ein paar Zeilen O-Ton: „Hinweise auf eine solche ,emanzipierte Mathematik‘ zeichnen sich schon ab in der multidimensionalen und nichtlinearen Logik der Fuzzy-Systemtheorie; allerdings leidet dieser Ansatz noch an seinem Ursprung aus der Krise der spätkapitalistischen Produktionsverhältnisse.“

LOB FÜR AKADEMIsCHEN MÜLL

Die Zeitschrift druckte den Text unbeanstandet in einer Sondernummer ab – und setzte damit ein Fanal für die Leichtgläubigkeit und Manipulierbarkeit in bestimmten Kreisen der Wissenschaft. Die Versuchspersonen sollten das Manuskript entweder alleine prüfen, ohne jede suggestive Vorgabe, oder in einer Gruppe mit vermeintlichen „Experten“, die den gedruckten Unfug über den grünen Klee lobten. Gleiche Tendenz: Bei der privaten Inspektion verwarfen die meisten den akademischen Müll, doch unter sozialem Druck beugten sie sich der absurden Gruppennorm. Und zogen hinterher wieder abschätzig über jene her, die der Verherrlichung des Quatschs widerstanden hatten. Im dritten und letzten Experiment bestand die Aufgabe für knapp 50 unabhängige Juroren darin, die Glaubwürdigkeit und Kompetenz der Probanden aus dem vorherigen Test zu bewerten, die entweder für die Wahrheit oder die kollektive Lüge eingetreten waren. Schockierendes Ergebnis: Die Teilnehmer, die entgegen ihrer privaten Überzeugung den Unsinn hochgejubelt und die Abweichler untergebuttert hatten, wirkten kompetenter und glaubwürdiger als die Hüter der Unbestechlichkeit.

Die Studienleiter erklären das folgender-maßen: Die Teilnehmer, die „umkippen“ und sich der Norm unterwerfen, sind unsicher und versuchen das zu überspielen, indem sie nach außen besonders resolut auftreten. Sie stehen unter Beweisdruck: Die anderen könnten ja merken, dass sie sich angebiedert haben. Daher spielen sie sich auf Teufel komm raus als Vertreter des wahren Glaubens auf, was ihnen Unbeteiligte abkaufen. So werden sie zu Vollstreckern von Normen, die keiner haben will. Im wirklichen Leben sei dieser Effekt noch stärker, vermuten die Psychologen. Denn Menschen im Militär, in religiösen Gemeinschaften oder in der Politik bilden Gruppen, die auf Gedeih und Verderb auf die Loyalität ihrer Mitglieder angewiesen sind. Die Ergebnisse der Konformitätsforschung machen es übrigens unwahrscheinlich, dass es bestimmte Individuen gibt, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsmerkmale gegen den sozialen Druck gefeit sind.

rebellisch oder brav – ganz egal

So hat der amerikanische Psychologe Jerry M. Burger von der Santa Clara University kürzlich gezeigt, dass Persönlichkeitsmerkmale keinen Einfluss auf das Verhalten im berühmten Milgram-Experiment hatten. Dabei ging es um die Bereitschaft, anderen Menschen unter dem Druck eines vermeintlichen Wissenschaftlers Elektroschocks zu verpassen. Die sogenannte empathische Sorge, also die Eigenschaft, niemandem wehtun zu wollen, hatte laut Burger keinen Einfluss auf die Abgabe der Schocks. Auch Ethnizität, Glaube, Bildungsniveau, Beruf, Alter, Einkommen, moralische Reife und politische Einstellung machten keinen Unterschied. Personen, die sich selbst als rebellisch und widerspenstig beschrieben, drückten alle Hebel voll durch, andere hingegen, die sich als angepasst und brav beurteilten, brachen den Versuch ab. Bei bestimmten Themen und in einer geeigneten Gruppe wird wahrscheinlich jeder zum Wendehals.

Nur Menschen, bei denen gewisse Themen moralisch stark besetzt sind, widerstehen dem Gruppendruck, konstatiert die Psychologin Linda Skitka von der University of Minnesota. Ob Umweltschützer, religiöse Fundamentalisten oder Abtreibungsgegner – sie alle berufen sich auf ihre moralischen Grundwerte, wenn sie ihre Handlungen rechtfertigen. Im sozialen Kontext machen sich solche „ moralischen Mandate“ bemerkbar: Wer der festen Überzeugung ist, dass etwas richtig oder falsch ist, dass etwas „so sein muss“ oder „so nicht sein darf“, bleibt trotz widerstreitender Mehrheit seinem Glauben treu.

Doch das Votum für die private Wahrheit und gegen den Konformitätsdruck ist offenbar mit erheblichem Stress verbunden. Darauf deutet eine Studie des Psychiaters Gregory Burns von der Emory University in Atlanta hin. Er bat 33 Probanden, dreidimensionale Objekte im Geiste zu drehen, und sondierte dabei mit bildgebenden Verfahren die Hirnaktivität. Die Teilnehmer sollten angeben, ob sich zwei gezeigte Muster durch Drehung ineinander überführen ließen. Bei dieser Aufgabe waren sie entweder alleine oder im Beisein einer Mehrheit, die eine falsche Antwort suggerierte. Ohne Suggestion lieferten die meisten die richtige Antwort, mit Suggestion schwenkte die Hälfte auf die falsche Antwort um. Auffällig war: Bei den Probanden, die sich nicht beirren ließen, „leuchtete“ die Amygdala im limbischen System, eine Hirnstruktur, die Angst ausbrütet. Die Furcht, sich zu isolieren und von der Gruppe ausgestoßen zu werden, ist also offenbar tief im Homo sapiens verankert.

„Menschen tolerieren ungerechte soziale Bedingungen, dulden schlechte Entscheidungen und unterlassen das Drängen auf Reformen, weil sie annehmen, dass die Mehrheit ihre Meinung nicht teilt, und weil sie glauben, dass die Enthüllung der Wahrheit ihnen außer Beschämung nichts bringen wird“, rekapituliert der Psychologe Miller. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollten wir versuchen, im Einklang mit unseren privaten Ansichten zu handeln und auch nach außen zu unseren Gefühlen zu stehen. Wer zu einer Gruppe gehört, sollte sich als „Advocatus Diaboli“ betätigen und Gegenargumente ausloten. Personen, die übereifrig auf die Parteilinie pochen und sich vor Zweifeln abschotten, sollten unsere Alarmanlagen schrillen lassen. Im Grunde, unkt der Kabarettist Eckart von Hirschhausen, läuft es auf eins hinaus: „ Zehn Menschen können dümmer sein als drei.“ Schmunzelnd rät er dem Publikum: „Fragen Sie mal bei der nächsten Abstimmung in die Runde, wer das für möglich hält.“ ■

ROLF DEGEN, Wissenschaftsjournalist in Bonn, schaut gerne hinter die seltsamen Mechanismen der menschlichen Psyche.

von Rolf Degen

WIE BEI DER STASI

Nach 28 Jahren Mitgliedschaft haben Sie Scientology verlassen. Welche Rolle spielt die Gruppe, wenn man sich von der Organisation abwendet?

Man gibt die Gruppe auf, und das ist für viele Scientologen einer der Hauptgründe, trotz Zweifeln nicht auszusteigen. Nach ein bis drei Jahren in der Organisation hat man ein rein scientologisches Umfeld. Mit dem Ausstieg verliert man jeden Zugang zur Gruppe, denn kein Scientologe darf mit einem Aussteiger Kontakt haben.

Wie kontrolliert Scientology, dass sich ihre Mitglieder konform verhalten?

Wenn ein Mitglied von den Zweifeln eines anderen erfährt, ist es verpflichtet, einen „Wissensbericht“ darüber zu schreiben. Bei den Scientologen handelt jeder wie ein Angehöriger der Stasi. Mir sind etliche Fälle bekannt, in denen Kinder über ihre Eltern Wissensberichte verfasst haben. In der darauffolgenden „ Sicherheitsüberprüfung“ wird man dann, wie bei einem Polizeiverhör, zu negativen Gedanken über Scientology befragt.

Wozu dient die strenge Hierarchie bei Scientology?

Das ist wie beim Militär: Man führt die Befehle aus und denkt nicht.

Theta, Clear, Auditing – warum verwenden Scientologen eine eigene Sprache?

Man schafft dadurch eine eigene Identität. Langjährige Mitglieder sprechen in einer Sprache, die kein Fremder versteht. Das fördert das Gruppendenken.

KOMPAKT

· Durch kollektives Schweigen können sich Außenseiterpositionen durchsetzen.

· Unter sozialem Druck laufen viele Menschen zur Mehrheitsmeinung über.

· Mitläufer, die ihre Meinung geändert haben, wirken erstaunlicherweise überzeugender als Standhafte.

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Carol Tavris, Elliot Aronson Ich habe recht, auch wenn ich mich irre Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen Riemann, München 2010, € 17,95

Daniela Will Der Third-Person Effect Eine Facette von Pluralistic Ignorance Akademische Schriftenreihe Grin, München 2009, € 9,99

Internet

Artikel „Pluralistic Ignorance and Political Correctness“ in der Zeitschrift „Political Psychology“ (auf Englisch): psych.colorado.edu/~vanboven/research/publications/vanboven_pol_psy.pdf

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Li|tho|graph  〈m. 16〉 = Lithograf

In|ter|net|fo|rum  〈n. 20; IT〉 Plattform im Internet, die dem Austausch u. der Diskussion von Gedanken u. Erfahrungen (meist zu einem best. Thema) dient ● in einem ~ kommunizieren

Na|tu|ral|re|sti|tu|ti|on  auch:  Na|tu|ral|res|ti|tu|ti|on  〈f. 20〉 Schadenersatz durch Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige