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Zum 100. Heft: Gut drauf, aber fünf Sekunden hinterher

Allgemein

Zum 100. Heft: Gut drauf, aber fünf Sekunden hinterher
bdw-Leser erfuhren 1972 früher als die meisten anderen von ersten Erkenntnissen der Sportpsychologie. Doch viele Ratschläge von damals erscheinen heute in einem anderen Licht.

In Ausgabe 100 berichtete bild der wissenschaft über eine neue Forschungsdisziplin: die Sportpsychologie (bdw 8/1972, „Grenzen sportlicher Leistungsfähigkeit“). Autor war ein junger Forscher namens Horst Tiwald. Er wurde später Professor für Sportwissenschaft an der Universität Hamburg und ist inzwischen emeritiert. Jürgen Beckmann, Professor für Sportpsychologie an der Universität Potsdam, analysiert die Ideen von damals und vergleicht sie mit neuen Erkenntnissen seines Fachs. Beckmann, der einige Jahre Mitglied im Trainerteam der deutschen Ski-Nationalmannschaft war, untersucht vor allem lähmende Ängste sowie leistungssteigernde Motivationsschübe.

bild der wissenschaft: Herr Beckmann, haben Sie Ihr Fachgebiet beim Lesen des alten Artikels wiedererkannt?

Beckmann: Es war schon manchmal etwas seltsam, zum Beispiel, dass vor allem Ideen, aber kaum experimentelle Befunde vorgestellt wurden. Aber das ist kein Wunder: 1972 ging es gerade los mit der Sportpsychologie. Überrascht hat mich, dass das Gehirn damals kaum eine Rolle spielte. Sätze wie „Die Psychoschulung versucht das Nervensystem optimal einzusetzen“ klingen ein bisschen merkwürdig aus heutiger Sicht. Man dachte damals vor allem an das periphere Nervensystem, nicht an das Zentralnervensystem. Alles was man „mental“ nennen kann und was für uns heute in der Sportpsychologie eine große Rolle spielt, tauchte damals noch gar nicht auf: die störenden Gedanken, die Zweifel oder die bewusste Kontrolle von Bewegungen.

bdw: Was gilt heute von den damaligen Ideen noch uneingeschränkt?

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Beckmann: Vieles, was Tiwald geschrieben hat, gilt natürlich weiterhin. Zum Beispiel, dass von zwei gleich austrainierten Sportlern derjenige gewinnt, der die größere mentale Stärke hat. Es ist sogar noch extremer, wie man inzwischen herausgefunden hat. Man hat Experimente mit Armdrücken gemacht und dem objektiv messbar Stärkeren gesagt: Dein Gegner ist um einiges stärker als du, und hat bisher immer gewonnen. Dem Schwächeren hat man gesagt: Dein Gegner ist schwach. Und prompt hat der Schwächere gewonnen.

bdw: Damals wurde die Methode der Mechanical Guidance empfohlen, bei der der Trainer den Sportler in seinen Bewegungen führt.

Beckmann: Inzwischen hat man herausgefunden, dass das Bewegungsführen eher schadet als nützt. Denn die für einen flüssigen Bewegungsablauf nötigen Nervenverknüpfungen im Gehirn können sich nicht richtig ausbilden, wenn viel von außen geführt wird. Das ist ähnlich wie beim Autofahren mit Navigationssystem. Damit kommt man wunderbar an sein Ziel, aber ohne sich merken zu können, wie man hingekommen ist. Deshalb gibt man heute Hilfen, um die Bewegungsabläufe selbstständig zu erfahren. Viele Untersuchungen haben gezeigt: Man muss die Bewegungen selbst machen. Der Trainer kann nur die Anleitung dazu geben. Golflehrer allerdings führen immer noch gerne die Bewegungen.

bdw: 1972 wurde auch empfohlen, sich Bewegungsabläufe im Geist vorzustellen.

Beckmann: Dieses Vorstellungs- oder idiomotorische Training spielt weiterhin eine große Rolle. Es ist sogar verfeinert worden. Hier kann man deutlich sehen, wie Forschung eine Methode verändert. Tiwald schrieb zum Beispiel, dass man sich die Bewegungen immer wieder vorstellen solle. Nun haben Studien aber gezeigt, dass es dafür auch falsche Zeitpunkte gibt. Wenn ein Sportler vor dem Wettkampf idiomotorisches Training häufig wiederholt, kann das zu mentaler, aber auch zu körperlicher Ermüdung führen. Er geht dann nicht mehr frisch in den Wettkampf.

bdw: Wie sieht es mit dem damals propagierten Entspannungstraining aus?

Beckmann: Das ist gerade für das Vorstellungstraining immer noch eine wichtige Voraussetzung. Fehlt es, kann es zu Störungen in den geistigen Vorstellungen kommen, und Ängste können einfließen. Zum Beispiel bei einem Skislalomläufer, der weiß, dass ein bestimmtes Tor besonders kritisch ist. Wenn er sich nicht richtig auf das Vorstellungstraining vorbereitet, sieht er sich möglicherweise genau an diesem Tor stürzen und programmiert damit einen falschen Bewegungsablauf. Auch andere Vorstellungen können die Motorik behindern. So wurden in den Achtzigern so genannte Knotenpunkte in den Bewegungen definiert, um die Abläufe besser zu strukturieren. Beim Golfschlag wäre das: zurück, oben, vor und impact. Jetzt zeigen aber neue Ergebnisse aus unserer Arbeitsgruppe, vor allem von Felix Erlenspiel, dass das gerade bei runden Bewegungen so allgemein nicht gilt.

bdw: Kommen wir noch mal auf das Entspannungstraining zurück…

Beckmann: Ja, das war in den Siebzigern neben dem Vorstellungstraining die Hauptaufgabe der Sportpsychologen. Man glaubte, dass die Erregung eines Sportlers und seine Leistung in einer umgekehrt U-förmigen Beziehung zueinander stünden. Man wollte das mittlere Niveau in der Spitze des „U“ mit Entspannungsmaßnahmen erreichen. Aber das ging nicht so einfach. Mir erzählte mal ein Skitrainer: „Da kam zu uns der Psychologe und machte Entspannungstraining. Später fragte er mich: ,Na, sind unsere Burschen jetzt nicht gut drauf?‘ Und ich antwortete: ,Ja, gut drauf sind sie schon, aber sie fahren fünf Sekunden hinterher.‘“ Das Entspannungstraining am Wettkampftag hatte die Wettkampfspannung heruntergefahren.

bdw: Aber gibt es nicht so etwas wie eine optimale Mischung von An- und Entspannung für den Wettkampf?

Beckmann: Natürlich, aber die neuere Forschung hat gezeigt: Es ist keine so einfache Beziehung. In den Siebzigerjahren dachte man vor allem an die Anspannung im peripheren neuromuskulären System. Heute aber sind mehrere „Spannungssysteme“ im Zentralnervensystem bekannt – von der Schlaf-Wachheitsregulation bis zur Aufmerksamkeitsregulation. Die allgemeine Erregung ist gar nicht ausschlaggebend. Man hat sich inzwischen von diesen Vorstellungen zu Leistung und Erregung getrennt und benutzt Rechenmodelle aus der Physik, um die Zusammenhänge zu analysieren. Dabei hat man einen „Splittingfaktor“ entdeckt. Entscheidend ist, wie man die Erregung bewertet: Entweder erlebt man eine Bedrohung und ist entsprechend besorgt – oder man steht vor einer Herausforderung, bei der man etwas gewinnen kann, und sieht die Anspannung als Signal des Körpers, bereit zu sein. Ähnliches hat man für die Prüfungsängstlichkeit gefunden. Der leistungsbegrenzende Faktor von Aufregung liegt nur im „ Besorgtsein“, die andere Erregung steigert die Leistung. Der amerikanische Sportpsychologe Richard Dienstbier meint sogar: Man kann gar nicht genug Adrenalin im Blut haben. Entscheidend ist, wie man die Situation bewertet.

bdw: Die Sportpsychologie wurde in ihren Anfangsjahren mal als Wundermittel angesehen, dann wieder verfemt. Wie steht sie heute da?

Beckmann: Sie hat sich als ernsthafte Wissenschaft und Trainingsmethode etabliert, auch wenn es nach wie vor viele Vorurteile gibt. Als ich 1992 Sportpsychologe der Ski-Nationalmannschaft wurde, schrieb die Bildzeitung: „ Skimannschaft holt sich Psychiater“. Dabei liefert die Sportpsychologie in erster Linie keine Hilfe für Menschen mit psychischen Problemen, sondern bietet Trainingsmöglichkeiten, um psychische Stärken optimal zu gestalten. Sie ist ein ganz normales Training neben anderen.

Das Gespräch führte Thomas Willke ■

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