bild der wissenschaft: Ist es eine vermessene Grenzüberschreitung der Wissenschaft, wenn Forscher jetzt nach Gott im Gehirn zu suchen beginnen?
EUGEN DREWERMANN: Das ist zunächst die Frage nach einer brauchbaren Definition von Religion. Wenn man jeden drogeninduzierten Zustand von Halluzination bereits als religiöse Erfahrung interpretiert, ist das Feld möglicher Zusammenhänge von Neurologie und Religionen natürlich riesig. Leider macht auch die offizielle katholische Theologie den Fehler, dass sie alle innerseelischen Erfahrungen – Marienerscheinungen zum Beispiel – für objektive Tatsachen erklärt. Unter Religion sollte eine Antwort auf die radikale Zufälligkeit und Ungesichertheit unseres Daseins verstanden werden, die Vertrauen ermöglicht und die das Ich des Menschen stärkt.
bdw: Können religiöse Erlebnisse überhaupt von der Hirnforschung erklärt werden? Zwar hat Papst Johannes Paul II. im Oktober 1996 erstmals die auf Charles Darwin zurückgehende Evolutionstheorie als „mehr als eine Hypothese” akzeptiert. Allerdings sprach er sich gegen eine materialistische Lesart aus, was das Bewusstsein betrifft. „Nicht mit der Wahrheit über den Menschen vereinbar” seien diejenigen Evolutionstheorien, die „den Geist für eine Ausformung der Kräfte der belebten Materie” halten.
DREWERMANN: Die katholische Kirche hat in den Fünfzigerjahren unter Pius XII. und im Weltkatechismus von 1992 den Dualismus von Leib und Seele dogmatisiert. Danach hat sich – vielleicht – der Leib des Menschen aus der Tierreihe entwickelt, die Seele des Menschen aber wird unmittelbar im Augenblick der Zeugung von Gott geschaffen. Das ist eine absurde Vermischung von Kreationismus, Aristotelischer Metaphysik und einer Scheintoleranz gegenüber dem Darwinismus. Eine praktische Folge dieses Ansatzes ergibt sich in der Abtreibungsfrage. Jede befruchtete Eizelle gilt als Träger einer göttlichen Seele und muss als solche geschützt werden. Wie das bei den vielen natürlichen Aborten zu machen ist, steht dahin.
bdw: Neurowissenschaftler können zwar nicht beweisen, dass Gott nur ein Hirngespinst ist, weil er unser Gehirn ja auch als Organ der Erkenntnis seiner Herrlichkeit hätte schaffen können. Trotzdem sind beispielsweise die Magnetstimulationen als Auslöser von religiös interpretierten Erlebnissen Wasser auf die Mühlen der Skeptiker. Sind Sie persönlich von den neuen Erkenntnissen beunruhigt? Machen Hirnforschung und Neurophilosophie den Glauben hinfällig?
DREWERMANN: Es ist geradewegs zu begrüßen, dass Neurologen die philosophische und psychologische Aufklärung des 18. und 20. Jahrhunderts nun auch mit biologischen Methoden fortsetzen und den magischen Gebrauch des Religiösen und dessen dogmatischen Objektivismus durch entsprechende Erklärungsmodelle obsolet machen. Auch theologisch ist das nur zu wünschen: Gott ist kein Ding, kein Gegenstand der Welt, auch kein Ort oder Erregungsmuster in unserem Gehirn. Die Religionen aber kann man davon kaum freisprechen, dass sie mit allen möglichen rituellen oder sakramentalen Praktiken auf dem Weg der Massenpsychologie die Menschen beeinflussen wollen. Gott aber sollte ein Ort der persönlichen Freiheit sein.
bdw: Wie sehen Sie das Verhältnis von Gehirn und Glauben?
DREWERMANN: Religion entsteht aus Fragen, die das vordere Stirnhirn stellt, dessen Verschaltungen sich unter ständigen Lernerfahrungen im Rahmen kultureller Vorgaben prägen. Schon die Idee scheint methodisch absurd, man könnte ein so komplexes Phänomen wie das religiöse Bewusstsein auf die Wirkung einzelner Hirnstrukturen zurückführen. Ganz grob müsste man wahrscheinlich sagen: Die Religion besteht darin, mit den Mitteln der Assoziationscortices, vor allem des vorderen Stirnhirns, auf Fragen der Daseinsbegründung zu antworten, indem sie die Ängste des limbischen Systems, besonders des Mandelkerns, mit Mitteln des limbischen Systems und der rechten Hirnhälfte zu beruhigen versucht: mittels symbolischer Bilder und Vorstellungen. Religion ist gebunden an die Aktivierung so gut wie aller Teile unseres Gehirns. Und mindestens so komplex wie der Vorgang des Lesens von bild der wissenschaft.
bdw: Mit magnetischen, elektrischen oder biochemischen Hirnstimulationen lassen sich tief greifende, von den Menschen häufig sehr spirituell gedeutete und metaphysisch interpretierte Erlebnisse hervorrufen. Ist das ein Zugang zu Gott mit neurologischen Mitteln?
DREWERMANN: Das Spiel des Zufalls mag beantworten, warum es einen Menschen gibt. Doch wonach ein Individuum fragt, ist die Berechtigung seiner Existenz als eines Einzelnen. Gerade dieses wissenschaftlich Unableitbare ist das menschlich Problematische. Es gibt auf die Frage „Warum existiere ich?” nach Überzeugung der Religion eigentlich nur eine paradoxe Antwort: „Es muss dich nicht geben aufgrund einer apriorischen Notwendigkeit. Aber es soll dich geben, weil ich möchte, dass du bist.” Die Begründung unseres Lebens ergibt sich als eine absolute Freiheit, die Liebe ist.
bdw: Evolutionsbiologen argumentieren neuerdings dafür, dass Religion eine nützliche Illusion ist. Theologen ignorieren solche Argumente häufig oder weisen sie brüsk zurück. Ist der Darwinismus nicht eine Herausforderung für die Theologie?
DREWERMANN: Vor allem der Soziobiologe Edward O. Wilson hat vor Jahren schon darauf hingewiesen, dass es einen Überlebensvorteil bieten kann, wenn nachdenklich gewordene Lebewesen sich einen Gott vorstellen, der ihnen ein ewiges Leben und ein unsterbliches Glück garantiert. Mir scheint, dass in diesen reduktionistischen Erklärungsversuchen übersehen wird, wie tief die Infragestellung der menschlichen Existenz wirklich reicht. Wir Menschen stellen Fragen an die Natur, auf welche diese niemals eine Antwort geben kann.
bdw: Auch die Genetiker sprechen inzwischen von Gottes- oder Spiritualitäts-Genen.
DREWERMANN: Es muss absurd erscheinen, wenn Genetiker wie Dean Hammer Gott zu einer Funktion bestimmter Gene erklären wollen. Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Neuronen, die Großhirnrinde allein aus 20 Milliarden. Dabei lassen sich zwischen den Neuronen bis zu 10 000 Verknüpfungen bilden. Dem steht gegenüber, dass die Informationsmenge des Genoms nur aus drei Milliarden Basenpaaren besteht, ungefähr 750 Megabyte. Dagegen wären etwa 1,25 Millionen Megabyte nötig, um die Verbindungen des Großhirns zu kodieren. Also kann Religion nicht genetisch bestimmt sein, sondern entsteht im Gehirn durch dessen Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt.
bdw: Sie haben sich im Kontext der Kosmologie und der Evolutionstheorie immer wieder gegen einen „Lückenbüßer-Gott” ausgesprochen.
DREWERMANN: Geistesgeschichtlich ist die Epoche der Kulturgeschichte ein für allemal zu Ende, in der der magische und abergläubische Gebrauch der Religion einen gigantischen Ritualdienst von Priestern und Kirchenbeamten notwendig machte und zugleich die Religion die ideologische Funktion zur Rechtfertigung der Herrschaftsverhältnisse übernahm. Wir glauben nicht mehr an gottbegnadete Kaiser und Könige und sollten auch nicht länger mehr Gottes Stellvertreter in Kirchenämtern oder gottgesandte Präsidenten im Weißen Haus akkreditieren.
bdw: Worin sehen Sie stattdessen die zeitgemäße Rolle von Religion?
DREWERMANN: Die Religion muss in ihre mystische Phase gelangen. Sie ist eine Kraft universeller Liebe und universeller Menschlichkeit. Und sie müsste längst die Integration des Menschen mit der umgebenden Kreatur im Rahmen auch einer erweiterten Ethik des Schutzes der Tiere gewährleisten. Die christliche Anthropozentrik, die den Menschen alle Rechte zur Ausbeutung der Lebewesen fast zur Pflicht macht, ist ebenso wissenschaftlich unhaltbar geworden wie die Neigung vieler Theologen, immer dann von Gott zu reden, wenn sie ein Tabu für ihre Dogmen brauchen oder sich über die Lücken ihres Wissens oder der Möglichkeiten heutiger Erklärungsmodelle hinwegtrösten wollen. Sagen wir es mit Sigmund Freud: „Die Unwissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab.” Aber die Ungeborgenheit des menschlichen Daseins verlangt nach einer Antwort.
Die Fragen stellte Rüdiger Vaas ■
Eugen Drewermann
geboren 1940, ist katholischer Theologe, Psychotherapeut, Schriftsteller und bekanntester Vertreter der tiefenpsychologischen Exegese. Nach dem Studium der Philosophie und Theologie wirkte er ab 1972 als Pfarrer, ab 1979 hielt er auch Vorlesungen in Religionsgeschichte und Dogmatik an der Katholischen Theologischen Fakultät in Paderborn. 1991 wurde ihm die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen, aufgrund von kirchenkritischen Äußerungen. 1992 folgten das Predigtverbot und ein kirchliches Strafverfahren. Drewermann hat über 70 Bücher veröffentlicht. Im Sommer 2006 erscheint im Patmos-Verlag seine Auseinandersetzung mit der Neurotheologie: „Und hauchte ihm eine Seele ein. Neurologie und Theologie.”
Ohne Titel
• Spiritualität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, dessen Ausprägung sich messen lässt.
• Zwillingsstudien zeigen, dass die Spiritualität eine genetische Anlage hat – im Gegensatz zur Religiosität, die von der Erziehung und anderen Lebensumständen geprägt wird.
• Das Gen VMAT2, das an der Steuerung des Gehirnstoffwechsels beteiligt ist, gilt als starker Kandidat für ein „Gottes-Gen” .