Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Wollen Sie wirklich alt werden?

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Wollen Sie wirklich alt werden?
Altern ist nicht nur individuelles Schicksal. Es spielt sich auf vielen Ebenen der Gesellschaft ab. Zum Abschluss unserer Serie „Altern” ein Essay des Versicherungsexperten Jan Boetius.

„Lever duad üs Slaw” – für unsere Brüder und Schwestern im Süden, Westen und Osten übersetzt: „Lieber tot als Sklave.” Der Spruch im Stadtwappen von Wyk auf Föhr war zwar der Schlachtruf der Nordfriesen in ihrem tapferen Kampf gegen die dänischen Eindringlinge, könnte aber ebenso gut als Parole im modernen Mehrkampf der Generationen herhalten: Lieber tot als alt!

Alter als die Sklaverei von heute? Das denken in der Tat viele, die bereits im Alter angelangt sind und das Altern als Vorstufe der Qualen ansehen, die sie als humanistisch Gebildete im Hades erwarten. Wie der französische Dichter Paul Claudel, der einst sinnierte: „80 Jahre! Keine Augen mehr, keine Ohren mehr, keine Zähne mehr, keine Beine mehr, kein Atem mehr! Und das Erstaunliche ist, dass man letztlich auch ohne all das auskommt!”

Als Claudel 1868 geboren wurde, hatte er nach der damaligen Lebenserwartung Aussicht, 35 Jahre alt zu werden. Tatsächlich starb er 1955 im Alter von 86 Jahren. Heute beträgt die Lebenserwartung eines neugeborenen Knaben 75 Jahre. Wird er unter der Claudel’schen Messlatte 184 Jahre alt?

Was das volkswirtschaftlich und gesellschaftlich bedeuten würde, machen sich die Politiker noch immer nicht klar, obwohl sie alle inzwischen „Demografie” richtig schreiben können und „ Nachhaltigkeit” als Gebrauchsprosa beliebig oft in ihre Reden einbauen. Alter korreliert mit Erfahrung – dem einzigen Gut, das man nicht durch Auswendiglernen erwerben kann. Fixiert auf Jugendarbeitslosigkeit gab die Politik der Wirtschaft die Anreizsysteme in die Hand, die Alten zu Lasten der ohnehin strapazierten Sozialkassen vorzeitig aus dem Berufsleben auszusortieren.

Anzeige

Dass damit auch die immateriellen Werte der Erfahrung vernichtet wurden, störte niemanden, weil diese auf der Aktivseite ja nicht bilanziert werden. Kann Deutschland es sich mit seiner anhaltenden Wirtschaftsschwäche tatsächlich leisten, diese Werte wie Abfall wegzuwerfen?

Die unternehmerische Kurzsichtigkeit wird – was nicht leicht ist – nur noch von der sozialpolitischen übertroffen, denn die Regeln des Generationenvertrages sind offenbar in Vergessenheit geraten. Dabei sind die Formeln so einfach, dass sie auf den bekannten Bierdeckel passen, der neuen Maßeinheit für ein Politikerhirn: 1 + 1 = 2: Vor 100 Jahren ernährten sechs Erwerbstätige einen Rentner, heute sind es bloß zwei Erwerbstätige und im Jahr 2050 wird es fast nur noch ein einziger sein.

Als ein Deutscher 1900 in Rente ging, hatte er 40 bis 50 Jahre gearbeitet und die Aussicht, noch 10 bis 13 Jahre Rente zu beziehen. Zugespitzt formuliert: Etwa 200 Arbeitsjahre mit niedrigen Sozialbeiträgen finanzierten 10 Rentenjahre. Vom gesamten Leben wurden 62 Prozent in Arbeit und 18 Prozent in Rente verbracht. Heute entfallen auf das Arbeitsleben 50 Prozent und auf das Rentnerleben 25 Prozent. Alles zusammengenommen (merke: 1 + 1) heißt: Um die alten Verhältnisse, auf denen der Generationenvertrag beruht, wiederherzustellen, müssten die Deutschen so lange arbeiten, bis sich die Rentenbezugsdauer durch biologische Automatik von selbst verkürzt. Dann gäbe es auch wieder 40- und 50-jährige Dienstjubiläen, wie sie früher üblich waren.

Aber da gibt es noch andere Facetten. Was heißt denn das eigentlich – Altwerden? Zunächst einmal: späterer Erbfall. Pech für die Kinder, denn die schönen Antiquitäten können sie nicht mehr gebrauchen, weil sie ihre Wohnungen inzwischen selbst eingerichtet haben. Also eine Generation überspringen, und ab zu den Enkeln. Prima Idee – wenn es nur welche gäbe!

Und dann kommt es heimtückisch. Altwerden heißt auch: kränklich werden. Das Krankheitsrisiko steigt ab 60 progressiv, ein 90-Jähriger verursacht sechsmal soviel Krankheitskosten wie ein Mensch in jungen Jahren. Je älter umso kränker. Wer alt wird, bekommt Krankheiten, die er in früheren Zeiten gar nicht erlebt hätte. Und das mehrfach und gleichzeitig: Multimorbidität.

Das ist ein demografisches Problem für die Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Doch die Sozialpolitiker aller Couleur wiegeln ab: Wer älter werde, bekomme seine Krankheiten später; die zusätzlichen Lebensjahre würden in Gesundheit und nicht in Krankheit verbracht. Woher weiß die GKV das eigentlich? Sie hat in ihrem System der fragmentierten Krankheitsdaten keine Längsschnittinformationen über die Lebensdauer der Versicherten hinweg – wie die privaten Krankenversicherungen, die Längsschnittanalysen durchführen können, weil sie die Krankheiten ihrer Versicherten im Zeitablauf vollständig auf dem Schirm haben. Die wissen es deshalb besser: Die zusätzlichen Lebensjahre werden nicht in Gesundheit, sondern in Krankheit verbracht. Das ist die eigentliche demografische Falle.

Das wirklich dicke Ende kommt aber noch: Was für die GKV schon dramatisch ist, wird für die soziale Pflegeversicherung (SPV) zur Katastrophe. 24 Prozent der deutschen Bevölkerung sind 60 Jahre und älter, sie verbrauchen 82 Prozent der Pflegeleistungen. 2050 werden sie 38 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Hätten wir diese Bevölkerungsstruktur bereits heute, müssten 220 Prozent Pflegeleistungen erbracht werden, 120 Prozent wären also nicht finanziert. Angesichts dieser von allen seriösen Wissenschaftlern stetig wiederholten Fakten die Zukunftsfähigkeit der sozialen Umlageverfahren zu predigen, gefährdet die Zukunft des Staates und damit das Gemeinwohl.

Aber wen interessiert das schon? Die Alten von heute zucken mit den Schultern und studieren lieber Trend-Magazine, die ihnen sagen, was sie noch alles drauf haben: SMS verschicken, Mallorca online buchen, Nordic Walking, mit dem Off-Roader zum Einkaufen fahren und ab in die Beauty Farm gegen die Altersfalten. Das ist modernes „sich ent-falten”.

Eines der größten Missverständnisse ist, dass Altwerden keine Frage der Darstellung, sondern der Einstellung sei. Die Seniorenindustrie hat das noch immer nicht verstanden und produziert schlafwandlerisch am Bedarf vorbei. Sie will den Älteren das Leben bequemer machen – welch verhängnisvoller Irrtum! „Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen”, wussten schon die alten Griechen. „Ohne Schweiß kein Preis” ist deutsch, riecht aber auch nicht feiner. Dabei ist Verzicht auf falsche Bequemlichkeit das richtige Rezept für Jugendfrische:

• Kein Navigationssystem im Auto – denn das macht abhängig und lässt die Fähigkeit zur Orientierung verkümmern. Navigationshilfen sind für die da, die sich wirklich nicht mehr orientieren können. Wollen Sie dazu gehören?

• Treppensteigen ist das billigste Fitness-Studio – deshalb darf den Aufzug nur der innere Schweinehund benutzen oder der Lahme. Wollen Sie eine lahme Ente sein?

• Lassen Sie das Fernsehgerät des Öfteren mal ausgeschaltet – und seien Sie ruhig stolz, wenn Sie über den letzten Sabine-Christiansen-Talk nicht mitreden können, weil Sie es vorgezogen haben, ein gutes Buch zu lesen oder ins Theater zu gehen.

So sein wie die Jungen: Ihre Kinder – auch schon an die 40 Jahre – finden das toll. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie selbst die Gekniffenen sind. Sie werden doppelt zur Sozial-Kasse gebeten: Heute für die Alten und morgen noch einmal für die Alten – für sich selbst. Weil sie der nachfolgenden Kindergeneration die Zeugung verweigert haben.

Ist Altwerden erstrebenswert? Für die heute Älteren: Ja. Und je mehr sie fürs Noch-Älterwerden tun, umso anstrengender wird es für die Jüngeren. Eigentlich nicht ungerecht. ■

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Pho|to|vol|ta|ik|an|la|ge  〈[–vl–] f. 19〉 = Fotovoltaikanlage

He|me|ro|phyt  〈m. 16; Bot.〉 Pflanze, die nur im menschl. Kulturbereich gedeihen kann [<grch. hemeros … mehr

Hy|per|som|nie  〈f. 19; Med.〉 Schlafstörung, die sich (bes. am Tag) durch ein gesteigertes Schlafbedürfnis äußert, Tagesschläfrigkeit [<grch. hyper … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige