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Die Lüge vom Moloch

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Die Lüge vom Moloch
Mexico City: Die Einwohnerzahl stagniert seit 20 Jahren. Wirklich ein Moloch von Stadt, wo man nur noch mit Sauerstoffmaske auf die Straße kann? Ein deutscher Journalist berichtet aus seiner zweiten Heimat Mexico City – und macht Schluß mit einer Legende.

Mexico City soll „eine der am schnellsten wachsenden Agglomerationen der Erde“ sein – will man aktuellen Nachschlagewerken wie der Encyclopaedia Britannica glauben. Als Extremfall unkontrollierbarer Urbanisierung ist die Metropole spätestens 1996 auf der Weltsiedlungskonferenz „Habitat II“ in Istanbul ins Gerede gekommen. „Eine Stadt wächst sich zu Tode“ überschrieb das Nachrichtenmagazin Focus danach seinen Bericht: Es ließen sich täglich mehr als 2000 ärmste Teufel aus dem Umland in den „cinturones de pobreza“ nieder, den Slum-Gürteln der Armut. Cacique (selbsternannter Sheriff) und Coyote (Dealer), Mordida (Schmiergeld) und Pepenadores (Müllsammler) – griffiges Milieu-Vokabular und Katastrophenberichte lieferten exotischen Stoff für die Print-Branche. Doch auch wenn es die internationale Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommen hat: Die Einwohnerzahl der vermeintlichen Horror-Metropole stagniert seit mehr als 20 Jahren. „Mexico City wird voraussichtlich nie die größte Stadt der Welt sein, und sie ist es auch bisher nicht gewesen“, stellt die Städteplanerin MarÆa Eugenia Negrete fest: „Das Bevölkerungswachstum liegt unter dem Nationaldurchschnitt von zwei Prozent.“ Mehr als 30 Millionen Mexikaner – so sagten Demographen in den achtziger Jahren voraus – würden sich zur Jahrhundertwende in der gigantischsten Asphaltwüste der Menschheitsgeschichte zusammendrängen. Tatsächlich werden es zum Jahresende nicht einmal 19 Millionen sein. Ein Kalkulationsfehler mit fatalen Image-Folgen: Mexico City ist seither die obligatorische Metapher für krebsartig wuchernde Verstädterung, für Landflucht und Bevölkerungsexplosion. Dem deutschen Publikum wurden reihenweise Bären über Mexico City aufgebunden: Sauerstoffkabinen und Atemschutzmasken für smoggeplagte Bürger, verkrüppelte Neugeborene mit Bleivergiftung, riesige Ventilatoren, die kontaminierte Luft aus der eingekesselten Hochebene herausblasen sollen. Dementis hat es von mexikanischer Seite nie gegeben. Im Gegenteil: „Dieser Ballungsraum beherbergt die zahlreichste urbane Bevölkerung unseres Planeten“, verkündete schon vor zehn Jahren Patricio Chirinos, mexikanischer Minister für Stadtentwicklung, vor der UNO-Generalversammlung – um im gleichen Atemzug um technologische und finanzielle Unterstützung zur Bewältigung des ökologischen Desasters zu bitten. Der statistische Sündenfall geht auf die mexikanische Volkszählung von 1980 zurück. Sie wird in der Fachwelt mittlerweile als unbrauchbar angesehen. Rechenfehler oder politisches Kalkül? „Die Einwohnerzahl ist ein schlagkräftiges Argument für Subventionen“, schmunzelt MarÆa Eugenia Negrete. „Welche Stadtverwaltung würde freiwillig zugeben, daß ihre Kommune nicht wächst? Außerdem galt lange: Eine wachsende Stadt ist eine reiche Stadt.“

Mexiko hat bei der Verringerung der Geburtenrate erstaunliche Erfolge erzielt. Die Zeiten beängstigender Bevölkerungsexplosion – Resultat von Verbesserungen im Gesundheitswesen in den sechziger und siebziger Jahren – sind längst überwunden. Die durchschnittliche Kinderzahl ist von ehemals 5 (1970) auf 2,7 gefallen. Obgleich die Fertilitätsquote weiter rückläufig ist, wird der „demographische Übergang“ – wie die Entstehung von Kleinfamilien in einer modernen Industriegesellschaft unter Experten heißt – voraussichtlich erst um das Jahr 2050 abgeschlossen sein. Die Bevölkerungszahl Mexikos, heute 99,7 Millionen, könnte dann dauerhaft bei 147 Millionen stagnieren. Längst kündigt sich in Mexico City eine graduelle Angleichung der demographischen Eckdaten an europäische Gegebenheiten an. Übertriebener Optimismus wäre allerdings ebensowenig realistisch wie Horrorszenarien. So sind Kernstadt und Peripherie der Metropole zwar zu einem eng verzahnten Wirtschaftsraum zusammengewachsen – zur Zona Metropolitana, die fast 1500 Quadratkilometer umfaßt. Doch die strukturellen Unterschiede zwischen Innen- und Außenbezirk haben sich weiter verschärft. Die Chilangos, die Bewohner der Kernstadt, sind im Schnitt wesentlich älter und wohlhabender als die Vorstädter. Die besten Jobs werden nur in der City geboten. Die Verwaltung ist zweigeteilt: in einen Regierungsdistrikt (Distrito Federal) und in die Vorstadtkommunen, die dem angrenzenden Bundesstaat unterstellt sind. Das blockiert ein übergreifendes Gesamtkonzept für Mexico City. Die Luftqualität hat sich durch die Verwendung von bleifreiem Benzin und strengere Abgaskontrollen merklich verbessert. Was allerdings das soziale Klima betrifft, bedauert MarÆa Eugenia Negrete, seien die Chancen bislang verspielt worden. „Selbst in den Jahren des mexikanischen Wirtschaftswunders gab es nur eine langsame Annäherung zwischen Arm und Reich“, sagt Negrete. „Das neoliberale Wirtschaftsmodell der achtziger und neunziger Jahre polarisierte weiter. Der Bevölkerungsdruck ist zwar geringer geworden – aber die soziale Kluft wird immer größer.“

Cletus Gregor Barié

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