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Fünf Finger sind genug

Allgemein

Fünf Finger sind genug
Hände mit nur wenigen Fingern sind eine moderne Erfindung der Evolution.

„Mein Sohn wurde voriges Jahr mit einer Missbildung geboren. Er hat an jeder Hand sechs Finger. Woher kommt das? Ein Gendefekt?“, fragte Andrea ratlos in einem Forum für Kindermedizin auf den Internetseiten von www.warum.de.

Fehlbildungen an Händen oder Füßen sind gar nicht selten. Und so überrascht es nicht, dass sich auf die Frage von Andrea viele Eltern meldeten, deren Kinder auch mit zu vielen Fingern auf die Welt gekommen sind. Etwa eines von 1000 Neugeborenen hat Fehlbildungen an Händen und/oder Füßen. Am häufigsten sind verschiedene Formen von Kurzfingrigkeit und Vielfingrigkeit. Seltener sind beispielsweise Spalthand oder -fuß, mit denen etwa sechs von 10000 Kindern auf die Welt kommen.

Heute versucht man, solche Fehlbildungen schon im Säuglingsalter zu beheben. Früher mussten die Menschen nicht nur mit ihren fehlgebildeten Gliedmaßen leben, sie waren auch Opfer abstruser Vorurteile. Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts war man der Meinung, dass Fehlbildungen speziell der Hände mit Degeneration und schwachem Intellekt verbunden seien sowie häufig bei Kindern syphilitischer Eltern vorkämen. Inzwischen weiß man, dass Hand- und Fußfehlbildungen nichts mit dem Charakter, sondern vielmehr mit der Embryonalentwicklung zu tun haben und dass sie oft erblich sind. Manchmal treten sie aber auch als Begleiterscheinung einer Erkrankung auf, zum Beispiel des Down-Syndroms (volkstümlich „Mongolismus“ genannt).

„Mit 27 Knochen und 36 Gelenken ist die menschliche Hand eine komplizierte Konstruktion, deren Entwicklung von einer Vielzahl von Genen gesteuert wird“, erklärt Prof. Stefan Mundlos. Er untersucht am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik die Grundlagen der Skelettbildung.

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Am menschlichen Embryo kann man etwa vier Wochen nach der Befruchtung winzige seitliche Ausstülpungen erkennen, die Armknospen. Die Zellen darin vermehren sich, die Knospen werden immer länger. Zuerst bildet sich der Oberarm, es folgen Unterarm und Hand, dann entstehen die Gelenke. Am Ende der sechsten Schwangerschaftswoche sind alle Skelett-Teile von Arm und Hand angelegt. Allerdings sind sie noch nicht verknöchert, sondern bestehen aus Knorpel. Und die Finger sind wie bei einem Frosch miteinander verwachsen. Das Gewebe zwischen den Fingern verschwindet beim Menschen erst ab dem 38. Tag der Schwangerschaft durch einen programmierten Zelltod, die „Apoptose“ . Am Ende der achten Schwangerschaftswoche sind Arm und Hand im Rohbau fertig. Danach entwickeln sich Muskeln, Nerven und Adern. Die meisten der bislang noch knorpeligen Knochen verknöchern.

Die Armknospen bestehen am Anfang nur aus zwei verschiedenen Arten von Zellen und bilden trotzdem eine komplex geformte Extremität aus Knochen, Gelenken, Muskeln, Adern und Nerven. Die entscheidenden Signale für diese Entwicklung kommen aus drei Schlüsselregionen an der Armknospe. Dort kontrollieren Gene die Produktion von Signal-Molekülen, die mit den umliegenden Zellen kommunizieren und so die Entwicklung des Grundgerüstes von Arm und Hand in allen drei Dimensionen steuern. Am einfachsten lässt sich dieser komplexe Vorgang nachvollziehen, indem man gedanklich durch Arm und Hand ein Koordinatensystem legt. Eine Achse verläuft von der Schulter zu den Fingerspitzen, die zweite Achse beschreibt die Lage von Handfläche und Handrücken und die dritte Achse spannt sich zwischen kleinem Finger und Daumen auf.

Das Längenwachstum von Oberarm, Unterarm und Fingern entlang der ersten Achse steuern Wachstumsfaktoren. Mindestens zwei Gene sorgen dafür, dass der Handteller unten und der Handrücken oben liegt. Wo Daumen und kleiner Finger wachsen, wie also die dritte Achse der Hand liegt, wird von der „Zone der polarisierenden Aktivität“ geregelt. Sie sitzt an der Armknospe auf der Seite des zukünftigen kleinen Fingers. Dort agiert als einer der entscheidenden Weichensteller für diesen Prozess das Gen „Sonic Hedgehog“.

Dieses Gen ist im Tierreich weit verbreitet. Bei der Extremitätenentwicklung übernimmt Sonic Hedgehog eine spezielle Funktion. Transplantiert man die Zellen aus der polarisierenden Zone bei Hühnern auf die Daumenseite der Wachstumsknospe, dann entstehen an dieser Stelle Skelettelemente des Flügels doppelt, allerdings seitenverkehrt. „Würde man dieses Experiment beim Menschen machen, so entstünde eine Hand mit zwei außen liegenden kleinen Fingern und zwei innen liegenden Daumen, wobei viele Finger vermutlich miteinander verwachsen wären“, sagt Mundlos. „ Tatsächlich gibt es Fehlbildungen an Händen, die wahrscheinlich entstanden sind, weil Sonic Hedgehog während der Embryonalentwicklung an der verkehrten Stelle gebildet wurde.“ Damit Oberarm, Elle und Speiche sowie Handwurzelknochen, Handmittelknochen und Fingerknochen in korrekter Zahl und an den richtigen Stellen wachsen, benötigen Vierfüßler – zu denen evolutionsbiologisch auch der Mensch zählt – allerdings mehr als die hier genannten Gene. Sie sind zwar entscheidende Signalgeber, aber doch nur ein kleiner Teil eines komplizierten und noch nicht in allen Details verstandenen Netzes von Molekülen und Genen.

Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Vitamin-A-Säure und die Entwicklungs-Gene der Hox-Gruppe, von denen der Mensch 39 besitzt. Sie legen fest, wie und wo die einzelnen Körpersegmente – Bauch, Brust, Kopf und Extremitäten – liegen. Mitglieder der HoxA- und HoxD-Gruppen regeln die Entwicklung der Arme, Beine und vor allem der Hände. Die Arbeitsgruppe von Mundlos fand heraus, dass Mutationen im HoxD13-Gen zu „Synpolydaktylie“ führen, einer speziellen Art der Vielfingrigkeit. Menschen mit Fehlern in diesem Gen haben nicht fünf Finger, sondern meistens sechs, wobei in der Regel der vierte Finger verdoppelt und mit dem fünften Finger verschmolzen ist. Die Hox-Gene werden vom Körper durch die Vitamin-A-Säure – auch Retinsäure genannt – ein- und ausgeschaltet. Aus diesem Grund dürfen Schwangere keine Vitaminpillen schlucken, die Vitamin A enthalten. Das könnte zu Missbildungen des Embryos führen. Auf welche Weise das Beruhigungsmittel Contergan Anfang der sechziger Jahre zu Missbildungen – auch der Hände – bei ungeborenen Kindern führte, weiß man bis heute nicht. Da das Medikament bei keinem anderen Lebewesen außer beim Menschen zu Entwicklungsschäden führt, können die Forscher das Problem nicht untersuchen.

Nur fünf Finger an den Händen und fünf Zehen an den Füßen zu haben, ist eine relativ neue Erfindung der Natur. Sie entstand erst, als Fische vor über 350 Millionen Jahren das Wasser verließen und zu Landtieren wurden. Prof. Denis Duboule und seine Mitarbeiter von der Universität in Genf haben erforscht, wie in der Evolution aus vielstrahligen Flossen fünfstrahlige Hände wurden.

Die Forscher schalteten bei Mäusen nacheinander und in allen möglichen Kombinationen sämtliche 13 HoxD-Gene aus und schauten sich die Pfoten der neugeborenen Tiere an. „Wir hatten zunächst sehr verwirrende Resultate“, sagt Duboule. „Aber dann entdeckten wir ein neues Gen, das die HoxD13-Gene steuert.“ Fehlt dieses Steuerelement, haben die Nager vielstrahlige Pfoten. Duboule: „ Solche überzähligen Finger und Zehen bei den Mäusen sind ein Rückschritt in der Entwicklungsgeschichte. Zu ihm kommt es, weil ein evolutionär modernes Steuerelement ausfällt.“ Dieses Steuer-Gen bremst bei Mäusen die Anlage von Fingern und Zehen während der Embryonalentwicklung herunter – auf die Zahl fünf.

Zur großen Überraschung von Duboules Team haben Fische zwar vielstrahlige Flossen, besitzen aber trotzdem das Steuer-Gen. Doch dieser scheinbarer Widerspruch ist in Wahrheit keiner, wie Duboule bewies: „Bei Fischen ist das Steuer-Gen nicht aktiv. Wenn wir bei Mäusen deren Steuer-Gen durch das eines Fischs ersetzen, haben auch die Mäuse vielstrahlige Pfoten“, sagt er. Es sieht also ganz so aus, als habe dieses Gen früher eine andere, bislang unbekannte Funktion gehabt und erst im Laufe der Zeit die neue Aufgabe eines Steuer-Gens übernommen. Ein Prinzip, das in der Evolution häufig ist: Altes und Bewährtes wird nicht verworfen, sondern erhält einen neuen oder zusätzlichen Nutzen.

Karin Hollricher

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Lak|ka|se  〈f. 19; unz.; Biochem.〉 Enzym, das den gelben Saft des zur Familie der Wolfsmilchgewächse gehörenden Lackbaumes zu tiefschwarzem Japanlack oxidiert

sor|do  〈Mus.〉 dumpf, gedämpft [ital.]

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