Wissenschaftlicher und medizinischer Fortschritt sind nicht selten das Ergebnis von Zufällen – aber nur, wenn sich zu ihnen eine gute Beobachtungsgabe gesellt. So hatten Mediziner Mitte der neunziger Jahre staunend bemerkt, daß Patientinnen, die sich Gesichtsfalten durch eine Injektion von Botulinum-Toxin glätten ließen, plötzlich auch ihre chronischen Kopfschmerzen los waren. Jetzt ist die Methode dabei, sich in neurologischen Kliniken Deutschlands zu etablieren.
Botulinum-Toxin (Btx) ist ein Nervengift und wird vom Bakterium Clostridium botulinum produziert, einem gefürchteten Erreger von Lebensmittelvergiftungen. Schon ein millionstel Gramm kann für den Menschen tödlich sein. Es blockiert an den Schaltstellen zwischen Nerven und Muskeln die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin. Die Muskelfasern entspannen sich immer mehr, und es kommt schließlich zum Erstickungstod, weil die Atemmuskeln versagen.
Doch fein dosiert in die Muskulatur gespritzt, kann das Btx durchaus positive Wirkungen entfalten. Seit über 20 Jahren wird es gegen Schielen eingesetzt, wenn die Schiefstellung der Augenachsen durch eine andauernde Muskelanspannung hervorgerufen wird. Chronisch verspannte Muskeln sind auch die Auslöser von Lid- und Schreibkrämpfen, dem „Schiefhals“, spastischen Lähmungen, bestimmten Schluckstörungen und bei „Sorgenfalten“ im Gesicht – alles weitere Anwendungsgebiete des Btx. Da Acetylcholin ebenfalls bei der Anregung von Schweißdrüsen eine Rolle spielt, wirkt Btx auch gegen übermäßiges Schwitzen. Dazu kommt: Das Toxin hat nicht nur entkrampfende, sondern auch schmerzlindernde Wirkungen.
Prof. Hartmut Göbel, Arzt für Neurologie und Chefarzt der Schmerzklinik Kiel: „Patienten, die wegen muskulärer Verspannungen Btx injiziert bekommen, spüren meist schon eine Schmerzlinderung, bevor die eigentliche Entspannung der Muskelverkrampfung einsetzt.“ Btx wird von den Nervenfasern aufgenommen und von da in das zentrale Nervensystem befördert. Dort stimuliert es die Freisetzung von Enkephalinen, die wie körpereigene Schmerzmittel wirken. Außerdem hemmt das Toxin die Produktion von Substanz P (von englisch „pain“). Bestimmte Nervenfasern geben diesen Stoff bei übermäßiger Reizung ab und lösen so eine schmerzhafte Entzündungsreaktion aus. Bei Migränikern entzünden sich auf diese Weise die Blutgefäße in der Hirnhaut. Das pulsierende Blut verursacht dann den pochenden Schmerz. Auch Patienten mit chronischen Spannungskopfschmerzen lassen sich mit Btx erfolgreich behandeln. Hartmut Göbel: „Bei 70 bis 80 von 100 Patienten schlägt die Therapie an. Und am ehesten unserer Erfahrung nach bei Patienten, die sowohl an Migräne als auch an Spannungskopfschmerzen leiden.“
Je nach Art des Kopfschmerzes erhalten die Patienten während einer Behandlung bis zu 20 Btx-Injektionen in die Gesichts-, Nacken- und Schultermuskulatur. Die Wirkung tritt in der Regel zwei bis drei Wochen nach der Injektion ein und kann drei und mehr Monate anhalten. Falls erforderlich, wird die Behandlung wiederholt. Ganz auf Schmerzmittel können jedoch viele Patienten auch in dieser Zeit nicht verzichten. Aber für Patienten, die nicht mehr zehnmal, sondern nur noch einmal im Monat von Migräne-Attacken heimgesucht werden, ist das bereits ein großer Erfolg.
bdw-Community
INTERNET
Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft
www.dmkg.org
Liste von Kliniken, die eine
Btx-Behandlung anbieten:
www.neurologienetz.de/
BOTULINUM/botulinum.html
LEsen
Hartmut Göbel
KOPFSCHMERZEN UND
MIGRÄNE
Leiden, die man nicht
hinnehmen muß
Springer-Verlag 1998
DM 38,–
KonTakt
Schmerzklinik Kiel
Heikendorfer Weg 9–27
24149 Kiel
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Ulrich Fricke