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Mann lebt gefährlich

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Mann lebt gefährlich
In der Evolution der Lebewesen gibt es nichts umsonst. Jede Anpassung und jede Weiterentwicklung hat ihre Tücken. Der amerikanische Evolutionsbiologe Michael S. Rose berichtet, wie gefährlich es für die Männer der Art Mensch ist, Hoden zu haben.

Es gibt eine ganze Reihe gesundheitlicher Probleme, die speziell bei Männern auftreten – insbesondere das erhöhte Risiko eines frühen Herzversagens. In der Neuzeit ist die geringere Lebenserwartung des Mannes gegenüber der Frau der Normalfall. Bemerkenswerte Beispiele sind Finnland und Frankreich, wo der Unterschied der Lebenserwartung 8,4 beziehungsweise 8,2 Jahre beträgt. In den Vereinigten Staaten und in Kanada liegen diese Werte bei 6,9 beziehungsweise 7,1 Jahren. Ein Mann zu sein, bedeutet demnach in den „fortgeschrittenen“ Ländern eines der bedrohlichsten Lebensrisiken.

Würde sich ein Gesundheitsjournalist in irgendeinem Skandalblatt mit diesem Thema beschäftigen und die Gruppe, um die es ginge, wären nicht gerade die Männer, dann wäre die Aufregung groß. Doch wie man an der höchst unterschiedlichen Berichterstattung über Brustkrebs und Prostatakrebs erkennt – Krankheiten mit vergleichbarer Sterberate –, scheinen etliche Leute in den Medien gegenüber den Nöten der Frauen aufgeschlossener zu sein.

Die verschiedenen Kulturen und Ernährungsweisen etwa in Japan, Kanada und Finnland machen dabei keinen Unterschied. Männern, die beispielsweise fette Bratwürste essen, kann man also nichts vorhalten: Als Mann kann man Sushi essen und dennoch früher sterben. Die Mittelchen, über die in Ernährungs- und Gesundheitsmagazinen berichtet wird, werden die Männer kaum vor dem Risiko der Männlichkeit schützen.

Die Lösung dieses Rätsels ist in der Evolutionsbiologie zu suchen. Wer einiges über Zoologie weiß, wird über die unterschiedlichen Überlebensraten der beiden Geschlechter nicht überrascht sein. Tatsächlich ist das Geschlecht einer der bedeutendsten Faktoren hinsichtlich der biologischen Lebenszeit, und diese Tatsache ist alles andere als mysteriös.

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Männliche und weibliche Körper bedeuten für die Gene unterschiedliche „Startrampen“. Es gibt Unterschiede bei der Produktion der Keimzellen, bei der elterlichen Fürsorge und beim Konkurrenzkampf um Sexualpartner. Es kommt vor, daß die Männchen zahlreiche Partnerinnen suchen, mit anderen Männchen gewaltsame Auseinandersetzungen austragen und sich kaum um den Nachwuchs kümmern, während die Weibchen sich nur mit einem einzigen Männchen paaren und sich in mütterlicher Fürsorge verausgaben. In anderen Fällen sind diese Rollen genau vertauscht, wie bei bestimmten Schnepfenarten, deren kleine Männchen das Nest hüten. Auch bei einigen Fischarten kümmern sich die Männchen um den Nachwuchs.

Das Fortpflanzungsverhalten kann verheerende Folgen für die Lebenserwartung haben – auch beim Menschen, zumindest unter den Bedingungen, die in der modernen Welt vorherrschen. Der naheliegende Test, um diese Hypothese zu überprüfen, wäre die Kastration. Aus verständlichen Gründen ist es schwierig, für derartige Experimente Freiwillige zu gewinnen. In den guten alten Zeiten einer Medizin à la Dickens dachten sich Ärzte wenig dabei, wenn sie männliche Patienten kastrierten, die sie für geistig zurückgeblieben oder krank hielten. Bei derartigen „Experimenten“ fand man heraus, daß die Lebenszeit hospitalisierter Eunuchen im Vergleich zu anderen, gleichfalls hospitalisierten Personen länger ist. Doch unter langfristiger ärztlicher Versorgung starben sowohl die kastrierten als auch die anderen Männer wesentlich früher als Männer außerhalb der Hospitäler.

Das ist also noch kein Beweis. Doch es legt nahe, daß die von den Hoden ausgehende hormonelle Steuerung der Männlichkeit teilweise oder sogar ganz für die herabgesetzte männliche Lebenserwartung verantwortlich ist. Bei anderen Organismen ist viel umfangreicheres Datenmaterial verfügbar, so etwa bei der Beutelmaus und beim pazifischen Lachs, wo ebenfalls nach der Kastration die männliche Lebenserwartung steigt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß hier Bratwürste Teil des Problems sind.

Die Hoden sind, aus medizinischer Sicht, die Bösewichter. Andererseits gilt: Kastriert man ein männliches Säugetier, bevor es geschlechtsreif wird, dann entwickelt sich daraus ein ganz anderes Tier – weniger aggressiv, mit mehr Fett und weniger Muskeln. Die Eunuchen in den Chören des Vatikans oder in den orientalischen Harems unterschieden sich beträchtlich von intakten Männern. Sie hatten andere Stimmen und waren häufig relativ groß, weil Testosteron das Wachstum langer Knochen hemmt, etwa das Wachstum des Oberschenkelknochens, der an der Körpergröße überproportionalen Anteil hat. Die Genitalien also sind das biologische Zentrum des Mannes.

Vieles an den männlichen Genitalien gibt Rätsel auf; so zum Beispiel der lange Weg, den die Spermien von den Hoden bis zum Penis zurückzulegen haben. Diese Reise findet in zwei Samenleitern statt, einer für jeden Hoden. Die Samenleiter führen innerhalb des Körpers zunächst nach oben, über das Schambein, um die Harnleiter, durch die Prostata und schließlich in die Harnröhre, etwa dort, wo der Penis ansetzt.

Der Grund für diese ungelenke Anatomie ist in der Evolutionsgeschichte der Wirbeltiere zu suchen, insbesondere in der miteinander verflochtenen Evolution von Niere und männlichen Fortpflanzungsorganen. Tatsächlich sandten unsere Vorfahren ihr Sperma durch eine primitive Fischniere und über den Nierenkanal in die Außenwelt.

Ein weiteres Rätsel ist der Ort, an dem sich die Hoden befinden. Die Hoden sind das einzige Organ, das in seinem ganzen Umfang weder im Schädel noch in der Körperhöhle liegt. Dabei ist der menschliche Körper generell so gebaut, daß die lebenswichtigen Organe geschützt sind. Auch die weiblichen Eierstöcke befinden sich tief im Innern des Körpers, wo sie gegenüber äußeren Bedrohungen weitgehend sicher sind. Beim Mann jedoch baumelt der ganze Darwinsche Sinn seiner Existenz außerhalb des Rumpfs, in einem kleinen, höchst exponierten Säckchen.

Die Erklärungsversuche für dieses Phänomen drehen sich vor allem um die Frage der Temperatur. Seit langem ist bekannt, daß enge Unterwäsche, heiße Bäder und Fieber die männliche Fortpflanzungsfähigkeit vermindern können. Die Hoden verfügen über eine Anzahl von Blutgefäßen, die dem Wärmeaustausch dienen. Das deutet darauf hin: Sie sollen gegenüber dem übrigen Körper gekühlt werden – die Differenz beträgt zwei bis drei Grad Celsius. Eine Tatsache ist auch, daß bei Vögeln während der Entwicklung der Spermien die Körpertemperatur sinkt.

Vögel und Säugetiere haben eine sehr wesentliche Anpassung gemeinsam, die Homöothermie. Beide Gruppen von Lebewesen halten eine hohe Körpertemperatur aufrecht, unabhängig von der Temperatur der Umgebung. Eine stabile, erhöhte Temperatur bietet etliche physiologische und ökologische Vorteile. Eidechsen etwa, denen die Homöothermie fehlt, haben große Schwierigkeiten, nachts oder am frühen Morgen aktiv zu werden. Ihr Stoffwechsel bleibt träge, bis sie durch die Umgebung aufgewärmt werden. Warmblütige Nagetiere hingegen sind nachts aktiv und können dann beispielsweise die Eier der lethargischen Eidechsen fressen.

Homöothermie ermöglicht es Vögeln und Säugetieren, sogar in polaren Regionen zu leben, wo sie aus ihrer Fähigkeit, trotz der Kälte ihre Kraft und Schnelligkeit aufrechtzuerhalten, die größten Vorteile ziehen. Doch hohe Temperaturen sind ungünstig für die Replikation der Erbsubstanz DNA, und damit auch für die Produktion von Spermien, die – verglichen mit anderen Körperzellen – reich an DNA sind.

Ein Mann produziert täglich etwa 100 Millionen Spermien und jedes einzelne ist vollgepackt mit DNA. Erwachsene Frauen hingegen produzieren keine neuen Eier. So sind die am Rumpf hängenden Hoden offenbar der Preis des Mannes für seine Homöothermie.

Michael R. Rose

ist Professor für Evolutionsbiologie an der University of California in Irvine. Berühmt wurde er durch seine Versuche, in denen er Fruchtfliegen mit doppelter Lebenserwartung schuf. In seinem populärwissenschaftlichen Buch „Darwins Schatten“ – nebenstehend ein Auszug – lotet der 46jährige die Bedeutung des Darwinismus aus. Die Evolutionsforschung hat großen Einfluß auf unser Weltbild, die landwirtschaftliche und die medizinische Forschung. Rose berichtet beispielsweise, warum Tomaten oft nichtssagend schmecken und warum manche Krankheiten schwer zu besiegen sind. Beiträge über Darwins Leben, die Verfälschung der Evolutionstheorie im „Sozialdarwinismus“ sowie Diskussionen über Soziobiologie und Evolutions- Psychologie runden das Thema ab.

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