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Der verschluckte Planet

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Der verschluckte Planet
Kannibalismus im All: Astronomen haben erstmals einen Stern entdeckt, der einst mindestens einen seiner Planeten verschlang.

Der perfekte Mord – das weiß jeder Krimileser – ist jener, bei dem weder eine Leiche auftaucht noch irgendeine Spur des Verbrechens. Die Arbeitsweise von Astronomen hat manches mit der guter Detektive gemeinsam: Aus der akribischen Suche und Analyse winziger Hinweise versuchen sie, einen verborgenen Sachverhalt zu ermitteln. Nun gelang es erstmals, ein brachiales Ende ohne Leiche aufzuspüren. Denn ein kaum merkliches Indiz hat den kannibalischen Akt doch verraten.

Der „Fingerabdruck“ des Täters ist eine winzige asymmetrische Absorptionslinie im Spektrum eines rund 90 Lichtjahre entfernten Sterns namens HD 82943. Die Schlußfolgerung der Astrokommissare lautet: HD 82943 hat mindestens einen großen Planeten verschluckt.

Daß ein solcher kosmischer Kannibalismus möglich ist, vermuten Astronomen schon länger. Seit einigen Jahren kennen sie nämlich einige große Gasplaneten – inzwischen über 60 –, die andere Sterne in häufig erstaunlich geringem Abstand umrunden, und zwar teilweise auf abenteuerlich verzerrten Ellipsenbahnen. Nach den etablierten Theorien der Planetenentstehung können diese Welten nicht so nahe an ihrem Stern entstanden sein. Sie müssen sich viel weiter entfernt – im Abstand von mindestens 750 Millionen Kilometer – aus dem Gas und Staub ihrer Geburtswolke verdichtet haben. Einige bewegten sich, so die Hypothese, später zu ihrem Mutterstern hin: Entweder hat sie die Schwerkraft anderer Planeten umgelenkt oder diese Welten wurden infolge von Wechselwirkungen mit den Resten ihrer Geburtswolke auf Wanderschaft gezwungen. Zahlreiche dieser kosmischen Vagabunden, so die Vorstellung, sind dabei auf Kollisionskurs mit ihrem Stern geraten und wurden von diesem regelrecht verschluckt. Die veränderten Gravitationsverhältnisse bewirkten die exzentrischen Bahnen der überlebenden Planeten.

Doch wie läßt sich eine solche Vereinnahmung nachweisen – womöglich noch Jahrmilliarden später? Die Antwort lautet: mit Lithium. Dieses nach Wasserstoff und Helium drittleichteste Element im Universum ist nicht wie die meisten schwereren Elemente im Inneren von Sternen durch Kernverschmelzungsprozesse erbrütet worden. Es hat sich bereits in den ersten Minuten nach dem Urknall gebildet oder entstand durch Spallation: aus der Abspaltung von größeren Atomkernen, die durch den Zusammenstoß mit energiereichen Protonen aus der kosmischen Strahlung in Stücke geschlagen wurden. Lithium-6 besteht aus drei Protonen und drei Neutronen, Lithium-7 hat ein Neutron mehr.

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Lithium-7 läßt sich in den Außenschichten der Sterne nachweisen: durch eine Absorptionslinie bei 670,8 Nanometer. Hier verschluckt Lithium teilweise das Licht. Lithium-6 macht sich in einer Asymmetrie dieser Linie bemerkbar. Aus dem Grad dieser Ungleichmäßigkeit und der Stärke der Linie können Astrophysiker den Masseanteil an Lithium in Sternen berechnen.

Lithium-6 ist sehr fragil. Es wird schon bei Temperaturen um 1,5 Millionen Grad durch die Kollision mit Protonen zerstört. (Zum Vergleich: Die energieliefernde Kernfusion von Wasserstoff zu Helium benötigt Temperaturen von rund 10 Millionen Grad.) Deshalb übersteht Lithium die Frühstadien der Sternentwicklung in der Regel nicht. Die starken Bewegungen der Sternmaterie führen zu großen Durchmischungen der äußeren (kühlen) und inneren (heißeren) Schichten, so daß Lithium-6 innerhalb weniger Jahrmillionen komplett verschwindet.

Astronomen haben bislang nur in den Atmosphären von fünf metallarmen und demnach sehr alten Sternen kleine Spuren von Lithium-6 nachgewiesen. Bei metallreicheren, also galaktisch jüngeren Sternen, bei denen die Durchmischung der Materie stärker ist, wurde bislang überhaupt kein Lithium-6 gefunden.

Um so größer war die Aufmerksamkeit, die kürzlich eine Veröffentlichung in der renommierten Fachzeitschrift nature auf sich zog. Darin berichten Garik Israelian und Rafael Rebolo vom Instituto de Astrofísica de Canarias auf der Kanareninsel Teneriffa sowie Nuno C. Santos und Michel Mayor vom Genfer Observatorium in der Schweiz über die Entdeckung von Lithium-6 und -7 im Stern HD 82943. Mit Hilfe des hochauflösenden UVES-Spektrographen am 8,2-Meter-Very Large Telescope „Kueyen“ der Europäischen Südsternwarte in Chile entdeckten sie erstmals Lithium-6 in einem metallreichen, sonnenähnlichen Stern. Bezogen auf Lithium-7 ist der Lithium-6-Gehalt von HD 82943 mehr als doppelt so hoch wie in den fünf bekannten metallarmen Sternen mit Lithium und sogar etwas höher als in Meteoriten. Die Messungen lassen nur eine Folgerung zu: Das Lithium muß von außen in HD 82943 gelangt sein.

„Die einfachste und überzeugendste Erklärung der Beobachtungen ist, daß ein oder zwei Planeten – oder zumindest planetarisches Material – in den Stern gestürzt sind, lange nachdem er seine frühe Entwicklungsphasen hinter sich gelassen hat“, faßt Santos die Resultate und Schlüsse seines Teams zusammen. Planeten werden nämlich nie so heiß, daß sie ihr Lithium verlieren. Und nach dem turbulenten Jugendstadium der Sterne nimmt ihre innere Durchmischung stark ab, so daß sich Lithium bis zu einigen Jahrmilliarden in ihren kühlen Außenschichten halten kann.

Das Spektrum erlaubt auch Rückschlüsse auf die Menge des hineingestürzten Materials: „Auf Grundlage der geschätzten Masse des Sterns und der bekannten Lithium-6-Gehalte von Meteoriten ist es wahrscheinlich, daß HD 82943 einen großen Gasplaneten mit der doppelten Masse Jupiters verschlungen hat“, sagt Israelian. Wenn der unglückliche Planet von erdähnlichem Typ gewesen wäre, wo der Lithium-6-Anteil größer ist, hätte er ungefähr die dreifache Masse der Erde besessen.

Die Astronomen gehen davon aus, daß der Kannibalismus zirka 10 bis 30 Millionen Jahre nach der Jugendphase des Sterns stattfand. Dieser Zeitraum ist vereinbar mit der Lebenszeit der planetaren Geburtswolke und der Dauer der Planetenwanderung von den Entstehungsregionen hin zum Stern. Wäre der Trabant früher verschlungen worden, hätte sein Lithium in der Sternatmosphäre nicht überlebt.

„Noch ist der Nachweis nicht hieb- und stichfest“, kommentiert Guillermo Gonzalez von der University of Washington in Seattle. „ Wir müssen zum Vergleich andere Sterne mit ähnlichen Temperaturen sowie mit und ohne Planeten erforschen.“ Israelian stimmt zu und bereitet – wie Gonzalez – gegenwärtig weitere Spektraluntersuchungen von Sternen vor. Es ist zu erwarten, daß demnächst noch zahlreiche mörderische Spuren ins Blickfeld der Forscher gelangen – Hinweise auf längst verbrannte Leichen in den feurigen Gräbern der Sterne.

Tatort Wasserschlange

Der Stern HD 82943 ist 10 Prozent größer und 200 Grad heißer als unsere Sonne, gehört zur Spektralklasse G0 und ist rund sechs Milliarden (plus/minus eine Milliarde) Jahre alt. Er steht 89,5 Lichtjahre entfernt im Sternbild Wasserschlange. Zwei erst kürzlich entdeckte riesige Gasplaneten umrunden ihn auf stark elliptischen Bahnen. Ihre Mindestmasse beträgt 0,88 und 1,63 Jupitermassen, ihr Abstand von HD 82943 etwa 0,73 und 1,16 Astronomische Einheiten, ihre Umlaufszeiten 221,6 und 444,6 Tage, und ihre Bahnexzentrizität hat den Wert 0,54 plus/minus 0,05 und 0,41 plus/minus 0,08.

Gasplaneten bei anderen Sternen: bild der wissenschaft 1/2001, „Ein Reigen neuer Welten“

Hypothese von der Orbitalverringerung von Planeten: bild der wissenschaft 5/2000, „Welten auf Wanderschaft“

Jupitermasse: 1,899 · 1027 Kilogramm = 317,83 Erdmassen

Astronomische Einheit (AE): die mittlere Entfernung von Sonne und Erde (1 AE = 149,6 Millionen Kilometer)

Bahnexzentrizität ist die Elliptizität, das heißt die Abweichung einer Umlaufbahn von der exakten Kreisbahn.

Rüdiger Vaas

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