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Wie ein Fähnchen im Wind

Allgemein

Wie ein Fähnchen im Wind
Vom Kinderspielzeug bis zur Windkraftanlage. So einfach die Windrädchen auf einem der berühmten Bilder Pieter Bruegels zu bauen sind, die Mathematik dahinter ist anspruchsvoll. Sie hilft auch bei der Konstruktion kommerzieller Windkraftanlagen oder von Tragflächen großer Flugzeuge.

Unter den vielen bunten Figurengruppen auf dem berühmten Gemälde „Kinderspiele“ (Kunsthistorisches Museum Wien) von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1560 erkennt man zwei Mädchen mit dem gleichen Spielzeug. Wie zwei Ritter in einem Turnierkampf stehen sie sich gegenüber, nur daß sie statt einer Lanze ein Windrad unter den Arm geklemmt haben – ein Spielzeug, wie man es heute in dieser Form nicht mehr kennt.

Kinderspiel: Die beiden Flügel des Windrads gleichen Fähnchen an den Enden einer um ihre Mitte drehbaren Fahnenstange. Aber ihre steifen Flügel stehen senkrecht von dem Rotorholm ab, und sie liegen in einer Ebene quer zur Drehachse – wie kann der Wind sie dann in Bewegung setzen?

Befremdlich ist auch die Befestigung der flachen, zweiflügeligen Rotoren auf der Stirnseite des langen Haltestabs. Wenn kein Wind weht, müßte man den Stab nach vorn stoßen, um Fahrtwind zum Antrieb des Windrads zu erzeugen. Mein erster Gedanke war daher, der Maler müsse die Windräder wohl nach seiner unvollkommenen Erinnerung aus dem Gedächtnis gemalt haben und nicht nach der Wirklichkeit.

Der nächste Gedanke brachte mich der Lösung näher. Wenn die Flügel nicht steif wären, wie zuerst angenommen, sondern elastisch, könnte der Wind sie umbiegen. Die gebogenen Flügel würden den Wind aus seiner Richtung ablenken, und der Rückstoß des Windes könnte das Windrad drehen. Ein solches Windrad läßt sich leicht bauen (Vorschläge im Bild unten rechts). Am besten sieht man vier Flügel vor statt der zwei, damit der Rotor stabil umläuft. Der Holm des Rotors wird zwischen zwei Schmuckperlen gelagert – ein primitives Kugellager -, um die Reibung zu verringern.

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Dabei läßt sich eine weitere Beobachtung machen: Wenn man den Wind selbst erzeugt, indem man das Windrad in Richtung der Drehachse, senkrecht zum Rotor, durch die Luft schwenkt, ist es gleichgültig, ob der Wind von vorn oder von hinten kommt. Zwar werden die Flügel jeweils in eine andere Richtung gebogen, aber die Ablenkung des Windes erfolgt beide Male in die gleiche Richtung. Daher muß der Wind den Rotor im gleichen Drehsinn drehen. Die Kinder in Bruegels Bild brauchten also ihr Windrad nur hin- und herzuschwenken, um es zum Laufen zu bringen.

Die Drehung des Windrädchens beim Hin- und Herschwenken ist schwer zu berechnen. Die Drehung läßt sich jedoch mit der Frequenz f studieren, die sich bei konstantem Fahrtwind U senkrecht zur Flügelebene einstellt. Zusätzlich zur Geschwindigkeit U hat die Winkelgeschwindigkeit w = 2pf des Rotors in der Ebene des Rotors einen entgegengesetzt gerichteten Fahrtwind der Geschwindigkeit rw zur Folge. Für schmale Flügel, deren Breite b klein ist gegen den Abstand r von der Rotorachse, braucht die Veränderlichkeit von rw über die Flügelbreite nicht berücksichtigt zu werden.

Die beiden Anteile des Fahrtwindes – rw in der Rotorfläche und U senkrecht dazu – rechnen sich nach Pythagoras zum effektiven Fahrtwind V = €U2 + (rw)2 zusammen, der aus der Richtung b kommt. Das Verhältnis l = rw/U = cotb ist die Schnell-Laufzahl des Windrades.

Bei stationärem Umlauf verändert sich die Form der Flügel nicht, und die Kräfte des Windes bleiben, vom Flügel aus gesehen, immer gleich. Wie bei starren Flügeln kann man daher die Wirkung der Luft durch die resultierende Kraft auf den Flügel im Druckpunkt ersetzen, die man in den Widerstand W (in Richtung des wirksamen Windes V) und den Auftrieb A (senkrecht dazu) aufteilt. Der Begriff „Auftrieb“ kommt aus der Flugzeug-Aerodynamik und hat beim Windrad keine anschauliche Bedeutung. Der Druckpunkt D ist der „Angriffspunkt“ der Windkräfte, in Bezug auf den sie kein Drehmoment auf den Flügel ausüben. Das Drehmoment M der Windkräfte um die Achse R ist für n gleiche Flügel im Abstand r von der Drehachse: M = nr(-Asinb + W cosb).

Bei technischen Windrädern dient das Drehmoment M als Antriebsmoment – etwa für Pumpen oder für Generatoren zur Stromerzeugung. Spielzeug-Windräder, die nicht mehr leisten sollen, als sich im Winde zu drehen, haben außer dem geringen Luftwiderstand der Flügelholme nur das kleine Reibungsmoment im Lager zu überwinden. Die großen Drehmomente von Auftrieb und Widerstand der Flügel stehen also nahezu miteinander im Gleichgewicht. Das selbstgebaute Spielzeug-Windrädchen dreht sich daher in guter Näherung momentenfrei: M = 0 oder cotb = A/W = e.

Das Verhältnis „Auftrieb zu Widerstand“, die Gleitzahl e, ist ein aerodynamisches Gütemaß des Flügels bei gegebener Anströmung. Beim momentenfreien Windrad ergibt sich, daß die Schnell-Laufzahl gleich der Gleitzahl ist, also l = e, und daß das Rad mit der Frequenz f = (U/2pr)e umläuft.

Biegsame Flügel befähigen den Wind, elastische Windräder in Drehung zu versetzen, deren Flügel ohne den Wind in einer Ebene senkrecht zur Drehachse liegen. Aber Auftrieb A und Widerstand W, die das Antriebsmoment des Windrades bestimmen, reichen zur Bestimmung der Biegeformen elastischer Flügel und damit ihrer aerodynamischen Eigenschaften nicht aus. Nimmt man von den Windkräften nicht mehr zur Kenntnis, läßt sich ein elastischer Flügel nicht genauer beschreiben als durch eine starre Flügelklappe, die sich gegen den Widerstand einer elastischen Feder um ihre Vorderkante drehen läßt.

Dieses einfachste Modell des elastischen Flügels läßt sich beim Spielzeug-Windrädchen recht gut durch Papierflügel verwirklichen, die mit schmalen Stegen auf dem Holm befestigt sind und sich bevorzugt an dieser Schwachstelle verbiegen.

Das von der Feder auf den Flügel übertragene Moment, das bei kleinen Verdrehungen proportional zum Winkel g angenommen wird, Mb = kg (k ist die Federsteifigkeit), steht im Gleichgewicht mit dem Moment Nd der Windkraft N = AŸ cosa + WŸ sina senkrecht auf den Flügel. Der Hebelarm d der Kraft ist der Abstand des Druckpunktes D von der Vorderkante. Durch Gleichsetzen der beiden Drehmomente findet man den Verbiegungswinkel g = dN/k. Ist die Auslenkung g positiv, wenn der Anstellwinkel a positiv ist (wie bei ebenen Flügeln ohne den dicken Holm an der Anströmkante), ergänzen sich die Winkel a und g zu b, und es gilt g = b – a.

Aerodynamik: Um aus den kinematischen Beziehungen und Gleichgewichtsbedingungen auf die Frequenz f schließen zu können, mit der sich ein elastisches Windrad dreht, muß man die Windkräfte auf ihre Ursache – den effektiven Wind V – zurückführen, der den Flügeln des drehenden Windrads aus der Anströmrichtung a entgegenkommt. Auftrieb und Widerstand der Flügel sind aus Dimensionsgründen von der Flügelfläche F und dem „Staudruck“ rV2/2 abhängig (Luftdichte r = 1,3 kg/m3): A = (r/2)V2 Fca (a) und W = (r/2)V2Fcw(a).

Für jede Flügelform sind die dimensionslosen Proportionalitätsfaktoren ca (Auftriebsbeiwert) und cw (Widerstandsbeiwert) empirische Funktionen des Anstellwinkels a. Vom Druckpunkt D wird angenommen, daß seine Lage, gemessen durch den Abstand von der Flügelvorderkante, nur vom Anstellwinkel abhängt: d(a).

Nach Ersetzen von A und W bilden die Gleichungen einen vollständigen Satz zur Bestimmung der Frequenz f des Windrads bei Vorgabe des Windes U. Zur direkten Lösung der Aufgabe läßt sich aus den Gleichungen durch Elimination von e, b und q eine Gleichung für a gewinnen, in der außer sina und cosa die empirischen Funktionen ca(a), cw(a) und d(a) vorkommen. Die Lösung dieser Gleichung ist schwierig. Das Problem läßt sich umgehen, indem man umgekehrt vorgeht: a sei vorgeben, und f wie auch U werden bestimmt.

Ein Windrädchen mit den Werten F = 16 cm2, r = 10 cm, k = 4Ÿ 10-4 Nm (Newtonmeter = kgŸ m2/s2) soll mit dem Anstellwinkel a = 15 Grad laufen. Zu diesem a wird ca = 2,0, cw = 1,0 und d = 2,0 cm aus einschlägigen Diagrammen oder Tabellen entnommen. Aus (1) folgt e = 2,0 und b = 26,6 Grad, aus (2) g = 11,6 Grad = 0,20 im Bogenmaß. Daraus errechnet sich nach (3) q = 0,02 und nach (4) U = 0,62 m/s. Der gewählte Anstellwinkel von 15 Grad entspricht also einer sanften Bewegung des Windrads. Mit dem Wert von U finden wir nach (5) die Frequenz f = 2 Umdrehungen pro Sekunde. Durch Iteration von a lassen sich weitere Paare U und f errechnen und die Umdrehungszahl f als Funktion der Windgeschwindigkeit U darstellen.

An die Genauigkeit der Ergebnisse darf man keine hohen Anforderungen stellen. Die Vereinfachungen sind beträchtlich, und nicht alle Daten sind genau bekannt. So hängt die Steifigkeit der Flügel von der Breite der Stege ab, die sie mit dem Holm verbinden – und auch empfindlich von der Feuchtigkeit des Papiers. Trotzdem erkärt das mathematische Modell die Einflüsse der Windstärke U, der Flügelfläche F und der Steifigkeit k auf den Lauf des elastischen Windrads überzeugender als eine detailliertere numerische Simulation.

Das elastische Windrad ist eine der einfachsten Aufgaben der „Aero-Elastik“, der Wissenschaft von der Wechselwirkung elastischer Strukturen mit Luftströmungen. Ihr Anwendungsgebiet reicht von der Anregung der Zungenpfeifen beim Anblasen einer Mundharmonika bis zum Flügelflattern großer Verkehrsflugzeuge. Bei Windkraftanlagen denkt man darüber nach, ob sich die elastische Nachgiebigkeit der Flügel eines Windrades zur selbsttätigen mechanischen Drehzahlregelung, zur Verbesserung der Leistung oder zur Sturmsicherung der Anlage nutzen läßt.

Wolfgang Bürger

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