Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Haben Tiere doch ein Bewußtsein?

Allgemein

Haben Tiere doch ein Bewußtsein?
Verhaltensforscher und Neurobiologen zweifeln an der Sonderstellung des Menschen. Tauben verhalten sich nach den Regeln formaler Logik, Makaken-Affen kaschieren geschickt sexuelle Seitensprünge, und Wüstenmäuse bilden Kategorien im Kantschen Sinne. Wissen die Tiere, was sie tun?

Ein Pfiff, und das Mäuschen springt. Mühelos hüpft es über eine Hürde hinüber zur anderen Seite der Box. Stille, dann noch ein Pfiff. Prof. Henning Scheich, Direktor des Instituts für Neurobiologie in Magdeburg, zieht vergnügt an seiner Pfeife. Kleiner Test für neugierige Reporter. „Was, meinen Sie, wird das Tier jetzt tun?“ Das Tier tut nichts. Es betrachtet die Menschen vor der Box.

Ein neuer Pfiff, und wieder einer, immerfort. Mal springt die Maus, mal springt sie nicht. Dr. Wolfram Wetzel, der Versuchsleiter und Herr über ein paar Handvoll mongolischer Wüstenmäuse, schaut etwas bange auf seinen braunschwarzen Schützling. Doch die Maus scheint genau zu wissen, was sie zu tun hat. Irgendwann fällt auch beim Besucher der Groschen. Geht der Pfeifton nach oben, springt die Maus, geht er nach unten, bleibt sie sitzen.

Was aussieht wie eine Zirkusnummer, ist Teil einer Weltpremiere. Henning Scheich und Wolfram Wetzel haben bewiesen, daß Mäuse imstande sind, „Kategorien zu bilden“, also unterschiedliche Dinge oder Ereignisse unter einem Begriff zusammenzufassen. In diesem Fall alle Pfeiftöne mit „aufsteigender Modulation“ – egal, in welcher Höhe, egal, ob langgezogen oder kurz, ob laut oder leise, ob steil ansteigend oder flach. „Zuweilen habe sogar ich Schwierigkeiten, die Töne einzuordnen“, sagt Henning Scheich. Dennoch: Wenn der Pfiff nach oben geht, springen Wolfram Wetzels Mäuse.

Eine gewitzte Kreatur bevölkert die Labors der Hirnforschung und der kognitiven Ethologie, eines neuen Zweigs der Verhaltensforschung: In der Forschungsstation für Meeressäuger auf Hawaii zum Beispiel gibt es Delphine, die ihre Kunststückchen selbständig miteinander verabreden und synchron ausführen. Und an der Universität Konstanz gibt es Tauben, die logisch schlußfolgern: Wenn A besser als B und B besser als C ist, dann muß A auch besser als C sein. Ratten lernen aus fremder Erfahrung, Nymphensittiche pflegen kranke Artgenossen, Schimpansen verständigen sich mit Menschen in der Taubstummensprache. Und es gibt Mäuse, die begriffliche Konzepte bilden. Was soll man von alledem halten?

Anzeige

Den Forschern beginnt zu dämmern, daß auch Tiere eine Art Bewußtsein besitzen könnte.

„Die Denkart der Tiere ist von Natur gleichartig mit der des Menschen“, schrieb um 400 v. Chr. der chinesische Philosoph Lieh Tse. Der Unterschied zwischen der Seele von Menschen und höheren Tieren sei „doch nur ein gradueller und kein prinzipieller“, sagte Darwin 1871, als er seine Erkenntnis über die tiefe Verwandtschaft von Mensch und Tier veröffentlichte. Mit feinem Instrumentarium hat der Mensch inzwischen gelernt, daß es bei ziemlich allen seinen Sinnesleistungen Tiere gibt, die ihm haushoch überlegen sind. Und niemand kann mehr ernsthaft bestreiten, daß Tiere Schmerz empfinden und Freude.

Mit raffinierten Experimenten erkundet die kognitive Ethologie nun das geistige Leben der Kreatur, doch bei der Interpretation windet sie sich, das Naheliegende zu benennen. „Transitive Inferenz“ bezeichnet Juan Delius in Konstanz das Phänomen, daß seine Tauben logisch schlußfolgern. Andere reden von „mentaler Vorstellung“. „Gott sei Dank gibt es im Englischen den Begriff ,aware`“, sagt Delius. Das heißt soviel wie „wissend“ und wirkt unverfänglicher als „bewußt“, was im Englischen „conscious“ lautet.

Woher kommt diese Scheu vor dem Gedanken, auch Tiere könnten ein Bewußtsein haben?

Tatsächlich hat der Mensch ein Problem mit dem bewußten Sein: Es ist eine ganz persönliche Erfahrung. Im Grunde wissen wir nicht einmal von unserem Nachbarn genau, ob er ein Bewußtsein besitzt. Es gibt keinen eindeutigen Beweis dafür. Wir gehen nur davon aus, weil er sich, soweit wir das beurteilen können, so verhält wie wir: Es bekümmert ihn, wenn jemand am Lack seines Autos kratzt, er freut sich über einen Gewinn im Lotto und er flucht, wenn der Staat mehr Steuern von ihm haben will. Aufgrund eines Analogieschlusses nehmen wir an, daß auch der andere denkt (siehe „Dialog der Gehirne“, Seite 68). Ebenso sind wir bei Tieren auf das Verhalten angewiesen, wenn wir eine Antwort darauf suchen, ob sie eine bewußte Kenntnis ihrer selbst und ihrer Umwelt haben. Wenn sich ein Schimpanse vor dem Spiegel den roten Fleck abwischt, den man ihm unbemerkt auf die Nase gemalt hat, zeigt er ohne Zweifel ein Bewußtsein seiner selbst. Und Selbstbewußtsein ist Bewußtsein.

Solche Experimente liefen in den siebziger Jahren, sie funktionierten nur bei Menschenaffen: bei Orang-Utans, Schimpansen und Zwergschimpansen (Bonobos), sowie, eingeschränkt, auch bei Gorillas. Die Tiere lernten schnell, den Spiegel als Instrument zu nutzen, um ihre eigene Kehrseite zu untersuchen oder versteckte Leckerbissen hinter einer Barriere zu finden. Hunde, Katzen, Meerschweinchen und alle anderen Tiere hingegen erkennen im Spiegelbild nur einen Artgenossen, der sie schon bald nicht mehr interessiert. Er macht ja nur dasselbe wie sie.

Wo der Mensch auf Analogien angewiesen ist, läuft er immer Gefahr, zu viel zu interpretieren. Zum Beispiel bei der Gans, die am Ufer brütet: Systematisch wendet sie mit ihrem Gatten die Eier, damit der Embryo nicht an der Innenseite festklebt. Dabei rollt ein Ei aus dem Nest. Als sich die Gans wieder auf dem Gelege niederläßt, sieht sie das Ei, das eigentlich unter ihrem Bauch liegen sollte. Sie erhebt sich und holt es mit ihrem Schnabel zurück.

Umsichtig? Weit gefehlt. Die Gans rollt so ziemlich alles, was ihr vor das Nest gelegt wird und irgendwie rund ist, ins Nest – Glühbirnen, Batterien, Limonadendosen, Tennisbälle. Damit ist die Liste von Gegenständen, mit denen die Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Niko Tinbergen in den dreißiger Jahren experimentierten, nicht einmal vollständig.

Vielleicht lautet die Frage ja, wieviel vom Verhalten genetisches Programm oder Konditionierung ist – dem Pawlowschen Reflex ähnlich – und wieviel bewußte Entscheidung. Vertreter der Pawlowschen Richtung halten daran fest, daß jede Reaktion eines Tieres nur eine instinktive Antwort auf ein wiederholtes Ereignis ist – so wie der berühmte Hund des russischen Forschers beim Klang einer Glocke immer begann, Verdauungssäfte zu produzieren. Ein Reflex auf die Erfahrung: Jetzt gibt es Futter. Doch welchen Grund gäbe es, Denken auszuschließen, selbst wenn ein Tier „nur“ angeborenes Verhalten zeigt?

Der Biologe Frans de Waal berichtet von dem Makaken-Pärchen Joey und Honey, das sich im Tierzentrum Wisconsin zu einem Liebesabenteuer davonstiehlt. Es darf sich nicht erwischen lassen, denn Joey – Nummer drei in der Rangfolge der Affenhorde – steht Sex noch nicht zu. Als er zum Ziel kommt und zu einer Folge von Lustschreien ansetzt, wendet Honey abrupt den Kopf und schaut ihn drohend an. Als habe er verstanden, ist Joey still – ohne sich den Genuß zu versagen. Tage später sieht der Primatenforscher das Pärchen erneut, diesmal wendet sich Honey bereits vor dem Höhepunkt um und legt Joey die Hand vor den Mund. Fortan soll sich der Makake jede Verlautbarung seiner Wonnen verkniffen haben. „Je mehr wir über das natürliche Verhalten bestimmter Arten lernen, um so weniger davon scheint sich durch Programmierung und Konditionierung erklären zu lassen“, schreiben James Gould, Evolutionsbiologe, und Carol Gould, Wissenschaftsautorin, in ihrem Buch „Bewußtsein bei Tieren“. Womit läßt sich Verhalten dann erklären?

Hirnforscher wie Henning Scheich in Magdeburg versuchen sich einer Antwort zu nähern, indem sie „Bewußtsein“ in Komponenten zerlegen: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, aktives Verhalten gehören dazu. „Für solche Mechanismen wollen wir Korrelate im Gehirn finden.“

Dazu muß die Maus lernen. Zunächst wird sie nach allen Regeln der Kunst konditioniert, indem ihr Paare ähnlicher Töne – immer ein aufsteigender und ein fallender – vorgespielt werden. Nach dem aufsteigenden Ton wird ein leichter Strom durch die eine Hälfte der Box geschickt. Wenn es an den Pfötchen unangenehm wird, springt das Tier auf die andere Seite.

Der Lernprozeß ist mühsam. Mit jedem neuen Beispielpaar beginnt er von vorn. Mit der Zeit aber erkennt die Maus immer schneller, daß es besser ist, beim aufsteigenden Ton zu hopsen. Henning Scheich: „Mit einem Mal macht es im Kopf der Tiere ,klick`. Dann springen sie auf Anhieb bei jeder beliebigen Aufwärtsmodulation, gleichviel ob sie sie schon einmal gehört haben oder nicht. Sie haben begriffen, daß diese Töne alle zusammengehören.“

Henning Scheich und Wolfram Wetzel meinen, daß dieses Begreifen irgendwo in dem für das Hören zuständigen Areal des Gehirns, im sogenannten Hörkortex, eingraviert sein muß. „Die Kategorienbildung“, sagt Scheich, „ist eine Grenzüberschreitung von Variationen verschiedenster Beispiele zu etwas Binärem: alles oder nichts, ja oder nein, es gehört dazu oder nicht.“

Diese Grenze müßte im Gehirn doch zu lokalisieren sein, vermuten die Forscher. Eine Idee lautet: Die nervlichen Aktivitäten, die bei der Wahrnehmung der Töne zunächst irgendwo im Hörkortex erzeugt wurden, müßten sich ab dem Moment, wo die Töne als zu einer Kategorie zugehörig begriffen werden, an einer Stelle konzentrieren.

Nach der suchen die Magdeburger nun in den Datensätzen, die sie bei der Kartografie optischer Hirnsignale mit der Kernspintomografie erstellt haben. Und womöglich wird man irgendwann auf die gleiche Weise erfahren, daß auch Menschen auf diese Art Kategorien bilden.

Was genau hätten wir dann gelernt? Daß der Aha-Effekt bei Mäusen ähnlich abläuft wie bei Menschen? Und wo genau im Hirn dies passiert? Vielleicht. Es könnte etwas damit zu tun haben, was wir Bewußtsein nennen, doch es fragt sich noch immer, ob es einen endgültigen Beweis dafür geben wird.

Am Ende werden die Gehirnforscher das Verhalten behandeln wie jedes andere wissenschaftliche Problem: Sie spalten eine große Frage in viele kleine, unterscheiden in bewußte und instinktive Leistungen und reduzieren das Denken auf den Transport von Ionen an Membranen, auf die elektrische und chemische Aktivität von Nervenzellen. Henning Scheich ist sich bewußt, daß solches Zerlegen und Analysieren die Gefahr birgt, „das Bewußtsein als Ganzes aus dem Auge zu verlieren“. Vielleicht bekommen wir auch nur bestätigt, was wir schon wissen: daß Verhalten – wie das Leben überhaupt – ein Wunder bleibt, ungeachtet von Gattung und Art.

„Gänse sind eben auch nur Menschen“, sagte einst Konrad Lorenz.

Regine Halentz

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

pi|a|nis|tisch  〈Adj.; Mus.〉 das Klavierspiel, die Kunst des Klavierspielens betreffend

iden|ti|täts|stif|tend  〈Adj.〉 eine Identität vermittelnd, Individualität ausdrückend, unverwechselbar ● ein ~er Architekturstil

sharp  〈[arp] Mus.; engl. Bez. für〉 um einen halben Ton erhöht, z. B. D ~ = Dis; Ggs flat … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige