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Dialog der Gehirne

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Dialog der Gehirne
Prof. Wolf Singer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Er befaßt sich mit der Hirnentwicklung und der Simulation von Hirnleistungen in neuronalen Netzen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist das Problem, wie das Gehirn die ständig neuen Sinneseindrücke mit dem gespeicherten Wissen in Verbindung bringt und daraus Entscheidungen ableitet. Gibt es dafür ein Koordinationszentrum, eine Art Beobachter im Gehirn? Der Beitrag ist eine bearbeitete Fassung eines Vortrages, den Prof. Singer vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat.

Die biologische Besonderheit des Menschseins – unterstellt, sie gibt es – ist eng verbunden mit den Funktionen der Großhirnrinde, dieser grauen, in Falten und Windungen gelegten Substanz, die unser Bild vom Gehirn prägt. Diese Struktur ist besonders geeignet, kombinatorische Probleme zu lösen, die Ergebnisse in universelle Datenformate zu kodieren, zu speichern und dieses Wissen flexibel zur Steuerung von Verhalten umzusetzen.

Wie sehr die Funktionen der Großhirnrinde mit der Entwicklung spezifisch menschlicher Qualitäten aus niedrigeren – tierischen – Seinssphären verbunden sind, läßt sich nicht nur aus der Evolution unseres Gehirns allgemein ableiten, sondern bei jedem einzelnen Menschen verfolgen. Denn die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist zum Zeitpunkt der Geburt nicht abgeschlossen. Sie zieht sich bis zur Pubertät hin, wobei die meisten dieser späten Schritte von Spezialisierung und Differenzierung eine Folge der Reifung der Großhirnrinde sind.

Besonders interessant ist dabei, daß zwischen dieser Jahre dauernden Entwicklung und der Zunahme geistiger Leistungen ein faszinierend enger Zusammenhang besteht. So ist zum Beispiel die Fähigkeit, auf Reize aus der Umwelt nicht spontan, sondern erst dann zu reagieren, wenn man die möglichen Folgen bedacht hat, unmittelbar von der Ausreifung gewisser Hirnregionen im Stirnbereich abhängig. Konkret: Wo das wenig entwickelte Gehirn auf einen Rempler auf der Straße reflexhaft mit Aggression antwortet, prüft der differenzierte Geist zuvor die Umstände: Absicht oder Zusammenstoß im Volksfestgetümmel, und wenn Absicht: ist der Rempler stärker, vielleicht sogar bewaffnet?

Bereits auf der Basis des heutigen Wissens läßt sich nahezu lückenlos nachvollziehen, wie Umweltreize im Gehirn zu elektrischen Abbildungen der Wahrnehmung und damit den Grundlagen allen Erkennens und Bewertens verarbeitet werden. Es ist nachvollziehbar, wie Entscheidungsprozesse organisiert und Handlungsabfolgen programmiert werden. Im Prinzip, so scheint es, sollte es möglich sein, alle Hirnleistungen – einschließlich der höchsten geistigen und psychischen Funktionen – auf die Wechselwirkungen von Nervenzellen zurückzuführen, die den bekannten Gesetzen von Physik und Biochemie folgen.

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Wenn dies zutrifft, muß folgerichtig gelten: Allein die Vermehrung der Großhirnrinde ist dafür verantwortlich, daß wir nicht nur Signale aus der Umwelt und aus unserem Körper verarbeiten und in Aktionen umsetzen können, sondern daß wir zudem fähig sind, uns dieser Vorgänge gewahr zu werden, ja mehr noch, daß wir die Gabe haben, geistige Modelle von Vorgängen sogar in anderen Gehirnen zu erstellen, daß wir in Diskurse eintreten können der Art: „Ich weiß, daß du weißt, daß ich fühle“ oder „Ich weiß, daß du weißt, daß ich meiner bewußt bin“.

Und dennoch legt unsere Intuition nahe, daß zwischen den einfachen Hirnleistungen, die uns zu umweltangepaßten Reaktionen befähigen, und diesen geistigen Prozessen von Bewußtsein Unterschiede bestehen, die durch eine Vermehrung von Hirnrinde allein nicht zu erklären sind. Wir möchten gefühlsmäßig, daß menschliches Bewußtsein einen anderen Status hat als all jene Hirnfunktionen, bei denen wir keine Schwierigkeiten haben, ihre Existenz mit der Evolution und besseren Überlebensfähigkeiten zu erklären.

Am Beispiel der Evolution der Großhirnrinde läßt sich nachvollziehen, wie durch wiederholte Aneinanderreihung immer gleicher Strukturen etwas ganz Neues entstehen kann, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Menschenaffen und Menschen haben mehr Großhirn als die niederen Säugetiere, aber die zusätzlichen Hirnareale sind mit den älteren immer noch auf die gleiche Weise verbunden, wie diese mit den Sinnesorganen, über die die Informationen aus der Umwelt aufgenommen werden. Da sich die „alten“ und „neuen“ Rindenareale strukturell gleichen, kann man davon ausgehen, daß sie Informationen prinzipiell in gleicher Weise verarbeiten.

Biochemisch und physiologisch geschieht nichts anderes, wenn die älteren Hirnteile die Signale der Sinnesorgane – Licht, Lärm, Schmerz – in Nervenimpulse umsetzen und wenn die neuen Hirnareale die Ergebnisse dieser Informationsverarbeitung noch einmal bündeln. Das Ergebnis aber ist etwas völlig anderes, eine höhere Ebene der Erkenntnis.

Unterhalb dieser Ebene reagiert der Körper zwar auch unablässig auf viele Umweltreize, sie kommen aber nie ins Bewußtsein, sind automatische Reflexe, über die man nicht nachdenkt. Erst durch die Verarbeitung in den evolutionär jüngsten Arealen der Großhirnrinde werden die Reaktionen, ihre Ursachen und Folgen dem Menschen bewußt.

Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen wird also im zweiten Schritt selbst zum Gegenstand von Erkenntnisprozessen. Die Wiederholung von im Prinzip gleichartigen Vorgängen – die Aktivierung von Nervenzellen – genügt, um Erkenntnisleistungen höherer Ordnung hervorzubringen, von Reflexion und Analyse. Ein Gehirn, das diese Organisationsstufe aufweist, ist in der Lage, über die in ihm ablaufenden Verarbeitungsprozesse Protokoll zu führen. Wann diese Fähigkeit in der Evolution ausgeprägt wurde, ist auch unter Wissenschaftlern umstritten. Während einige sie nur dem Menschen zuerkennen, andere sie noch den Menschenaffen zugestehen, sind wieder andere überzeugt, daß selbst Katzen in der Lage sind, über ihr Handeln nachzudenken (siehe „Haben Tiere doch ein Bewußtsein“, Seite 60).

Wenn nun diese Strukturen höherer Ordnung nicht nur Signale aufnehmen, sondern über Nerven und Muskeln auch handeln können, dann können sich die Gehirne in Aktionen des sie beherbergenden Organismus – mit Gesten, Taten und Sprache – darüber austauschen, was in ihnen vorgeht. Sie können einem anderen Gehirn mitteilen, welche Wahrnehmungen sie haben, wie sie diese emotional bewerten, und warum sie im Moment gerade so und nicht anders denken.

Ich stelle nun folgende These zur Diskussion: Erst durch diesen Dialog zwischen Gehirnen, bei dem jedes dem anderen seine Sicht der Welt vermittelt, erfährt der Organismus, daß er Individualität besitzt, ein mit Absichten ausgestattetes Wesen ist, jemand, der zu subjektiven Empfindungen fähig ist, entscheiden kann, Bewußtsein hat. Bewußtsein ist nach dieser Vorstellung das Ergebnis der geistigen Reflexion in Bezug zu einem Gegenüber.

Das Entstehen von Bewußtsein ist in diesem Sinne nicht mehr gleichsam wie das Auftauchen eines isolierten Gehirns aus dem Meer von Unbewußtem, es ist ein Phänomen, das nur durch die Wechselwirkung mit anderen Gehirnen entstehen kann. Damit aber wird Bewußtsein zu einem Teil des sozialen Miteinanders. Bewußtsein ist dann gar nicht mehr anders zu denken als im Zusammenhang mit anderen Menschen.

Und mehr noch: Weil die am Dialog mit dem werdenden Gehirn teilhabenden Bezugspersonen ihrerseits wieder stark von den Menschen und der Kultur geprägt sind, die ihnen selbst einmal zu Bewußtsein verholfen haben, erhält Bewußtsein zusätzlich eine historische Dimension. Bewußtsein, das „Sichgewahrsein seiner selbst“, wird in dieser Betrachtungsweise zu einem Produkt nicht nur der biologischen, sondern auch der kulturellen Evolution. Daraus folgt, daß unsere Art, uns zu erfahren, uns unseres Selbst bewußt zu sein, kulturspezifische Merkmale aufweisen muß. Unsere Ich-Erfahrung ist deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit verschieden von der unserer Großeltern und von der Ich-Erfahrung, wie sie Afrikaner oder Eskimos haben.

Diese Sichtweise macht einige der Schwierigkeiten deutlich, die wir mit dem Begriff „Bewußtsein“ haben. Wir haben keine Probleme, einfache Sinneswahrnehmungen oder Verhaltensreaktionen aus der Evolution zu erklären, zuzugeben, daß wir auf dieser Ebene nicht anders reagieren als alle Tiere. Aber darüber, denken wir, muß doch mehr sein.

Der Grund ist, daß Phänomene, die durch den beschriebenen Dialog der Gehirne entstehen, eine soziale Dimension haben. Sie entziehen sich somit einer Erklärung innerhalb von Beschreibungssystemen, die sich – wie die Neurobiologie – ausschließlich mit Vorgängen innerhalb eines einzelnen Gehirns befassen. Dies ist meiner Ansicht nach auch einer der Gründe, warum wir bestimmte Aspekte des Bewußtseins als geistige Phänomene erleben, die außerhalb der Klasse jener Prozesse zu liegen scheinen, die mit naturwissenschaftlichen Verfahren analysiert und erklärt werden können.

Wolf Singer

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