Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

SUSY, HIGGS UND TECHNICOLOR

Astronomie|Physik Technik|Digitales

SUSY, HIGGS UND TECHNICOLOR
An den Grenzen der Teilchenphysik – eine Frontbesichtigung.

„Dass die Elementarteilchenphysik in unseren Augen fundamentaler als andere Zweige der Physik erscheint, liegt daran, dass sie tatsächlich fundamentaler ist“, hat der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg einmal geschrieben. John Ellis, Theoretischer Physiker am Europäischen Zentrum für Teilchenphysik CERN sieht es ähnlich: „In gewisser Weise ist sogar die Beschreibung des Universums bloß ein Umwelt-Problem. Ich möchte die ihm zugrunde liegenden Naturgesetze verstehen. Es ist ein fantastischer Augenblick, wenn mir dies gelingt. Ich erinnere mich noch gut daran, als das erste Gluon entdeckt wurde“ – ein Teilchen, das die Starke Kernkraft vermittelt und dessen Nachweismöglichkeit Ellis 1976 vorgeschlagen hatte. 1979 wurde es am Deutschen Elektronen-Synchrotron in Hamburg entdeckt. „Ein einzigartiger Moment.“

Solche denkwürdigen Augenblicke, in denen Forscher der Natur gleichsam in die Karten schauen, stehen nun wieder unmittelbar bevor. Denn im Jahr 2007 wird der Large Hadron Collider der (LHC) des CERN mit Messungen beginnen. In diesem gigantischen Ringbeschleuniger von 27 Kilometer Umfang werden Protonen fast lichtschnell aufeinanderprallen, dabei eine Energie von 14 000 Gigaelektronenvolt freisetzen und physikalische Zustände erzeugen, wie sie zuletzt 10–12 Sekunden nach dem Urknall geherrscht haben. Die Trümmer der rund 800 Millionen Kollisionen pro Sekunde, die in vier haushohen Detektoren aufgefangen werden, versprechen tiefgründige Einsichten und eine neue Physik. Ein solcher Durchbruch ist auch dringend nötig. Denn das ganze Forschungsfeld wurde in den letzten Jahren ein wenig Opfer seines eigenen Erfolgs. Das Standardmodell der Materie hat sich glänzend bewährt – über 20 Nobelpreise gab es für seine Entwicklung und Bestätigung –, aber zugleich drohte den Wissenschaftlern die Motivation oder der Stoff für neue Forschungen auszugehen. Doch das Standardmodell kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

„Es ist zu barock, zu byzantinisch, als dass es die ganze Wahrheit sein könnte“, sagt Chris Llewellyn Smith, CERN- Generaldirektor bis 1998, als der Bau des LHC beschlossen wurde. „ Die Frage, was jenseits des Standardmodells liegt, treibt die Physiker nun schon seit Jahren um“, ergänzt der Physik-Nobelpreisträger Gerard ‚t Hooft von der Universität Utrecht.

Der LHC wird für eine Revolution in der Elementarteilchenphysik sorgen. Und zwar auch dann, wenn er nicht das findet, was die Experten erwarten. „Der LHC ist eine Entdeckungsmaschine“, sagt Robert Aymar, seit 2004 Generaldirektor des CERN. „Wir bauen ihn nicht, um eine bestimmte Theorie zu bestätigen. Es gibt heute viele Modelle, die eine Vielzahl unterschiedlicher Teilchen vorhersagen. Der LHC wird zeigen, welche davon richtig sind.“

Anzeige

„Das Standardmodell fasst eine Vielzahl theoretischer Einsichten und experimenteller Ergebnisse aus verschiedenen Gebieten der Elementarteilchenphysik konsistent zusammen. Es befindet sich in hervorragender Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Präzisionsexperimente, die zu seiner Überprüfung dienten“, lobt Henning Genz, Professor für Theoretische Physik an der Universität Karlsruhe. So unterscheiden sich theoretische Voraussage und experimentelle Messung des magnetischen Dipols der Elektronen erst in der elften Dezimalstelle – eine außerordentliche Übereinstimmung, die kein Zufall sein kann. Doch im Lauf der Jahre kam eine eindrucksvolle Liste von Problemen und weiterführenden Fragen zusammen.

Familien: Es existieren drei Quark-Leptonen-Familien – warum? Dass es nicht mehr sind, haben kosmologische Forschungen ergeben: Weitere hätten die Häufigkeit der leichten Elemente, die sich in den ersten drei Minuten des Urknalls gebildet haben, so stark verändert, dass das Häufigkeitsverhältnis dieser Elemente heute anders wäre als gemessen. Doch nur die erste Familie (u- und d-Quarks sowie Elektronen) baut unsere vertraute Welt auf. „Eine Welt, in der das Standardmodell mit nur einer Familie gälte, wäre genauso existenzfähig wie die wirkliche Welt mit ihren drei Familien und würde sich nur unwesentlich von ihr unterscheiden“, sagt Genz. Denn die Teilchen der zweiten und dritten Familie treten bloß in Reaktionen von Teilchen der ersten Familie bei hohen Energien auf und zerfallen mit Ausnahme der Neutrinos bald wieder in ebendiese Teilchen.

PARameter: „Das Standardmodell der Materie passt zwar zu allen experimentellen Daten, ist aber theoretisch unbefriedigend“, stellt John Ellis fest. So werden die meisten Teilchen-Eigenschaften nicht erklärt (etwa die elektrische Ladung). Außerdem enthält es mindestens 19 zufällige Parameter. Sie können nicht abgeleitet werden, sondern müssen gemessen und gleichsam von Hand ins Modell eingefügt werden. Deshalb bleibt offen, warum diese Eigenschaften und Parameter so sind, wie sie sind, und nicht ganz anders. „Keine Theorie mit 19 Parametern kann wirklich fundamental sein“, sagt Henning Genz.

Masse: 9 der 19 freien Parameter charakterisieren die Ruhemassen der 6 Quarks und 3 Leptonen. Doch das ist nicht alles. Erklärt werden muss auch, wie die Teilchen überhaupt zu ihrer Masse kommen. Dazu hat 1964 Peter Ward Higgs von der University of Edinburgh einen Vorschlag gemacht: Ein Skalarfeld – ihm zu Ehren inzwischen Higgs-Feld genannt – füllt den Raum aus. Dessen Überträger sind die Higgs-Bosonen. Teilchen, die mit ihnen wechselwirken können, gewinnen dabei Masse – so als würden sie die Higgs-Bosonen verschlingen und dadurch zunehmen. Dieser Higgs-Mechanismus ist mathematisch sehr ausgefeilt – die Physiker sprechen von einer spontanen Symmetriebrechung – und gut verstanden. Das Higgs-Teilchen ist allerdings experimentell nicht nachgewiesen – und damit das letzte fehlende Puzzle-Stück des Standardmodells. Woher das Higgs-Feld stammt, welche Masse das Higgs-Boson selbst besitzt und wie schnell es zerfällt, lässt sich vom Standardmodell ebenfalls nicht ableiten. Außerdem gibt es nur einen eng begrenzten Higgs-Wert, der nicht entweder zur Skylla einer riesigen, aber nicht beobachteten neuen Naturkraft und völliger Unberechenbarkeit führt oder zur Charybdis eines instabilen, kollabierenden Vakuums, das unser Universum vernichten würde.

Neutrinos: Die drei Neutrino-Arten sind im Standardmodell masselos. Doch das ist in der Realität anders, wie Präzisionsmessungen von Neutrinos gezeigt haben, die in Kernreaktoren, bei Kollisionen der Kosmischen Strahlung mit der Erdatmosphäre und bei Kernfusionsprozessen im Sonneninneren erzeugt wurden: Neutrinos können sich ineinander umwandeln. Das ist nur möglich, wenn sie eine Ruhemasse besitzen. Dies bedeutet aber, dass das Standardmodell mit weiteren neun Parametern ergänzt werden muss.

Hierarchie-Problem: Aus theoretischen Gründen sollten die Fermionen- und Bosonen-Massen nicht so leicht sein, wie sie tatsächlich sind, sondern entweder 0 betragen oder in der Größenordnung der Planck-Masse liegen (10–5 Gramm oder 1019 Gigaelektronenvolt, der höchst möglichsten Elementarteilchen-Masse). Das Problem lässt sich auch anders formulieren: Warum endet das Standardmodell bei bestimmten Größenordnungen von Energie und Länge und nicht woanders? „Wir wissen, dass Quarks und Leptonen punktförmig sind bis zu Distanzen von 10–17 Zentimetern“, sagt Guido Altarelli, ein Theoretischer Physiker am CERN. Doch was jenseits davon geschieht, ist unerschlossenes Gelände. Es ist also noch vieles möglich bis hinab zum kleinstmöglichen physikalischen Abstand – der Planck-Länge von 10–33 Zentimetern. Die Teilchenphysiker sprechen von der „Großen Wüste“, weil sie keine Ahnung haben, ob es irgendwelche interessanten Strukturen in dieser Region des Mikrokosmos im Energiebereich zwischen 103 und 1019 Gigaelektronenvolt gibt. Diese Wüste wäre, verglichen mit dem Reichtum der Erscheinungen auf allen anderen Energie- und Längenskalen in der Natur, allerdings ziemlich verwunderlich.

Materie-Überschuss: Eigentlich sollte gleich viel Materie und Antimaterie im Urknall entstanden sein. Da sich beide aber gegenseitig zerstrahlen, dürfte es überhaupt keine Materie mehr geben. Woher stammt also die anfängliche Asymmetrie?

Dunkle Materie: Astronomische Messungen der Dynamik von Galaxien und Galaxienhaufen sowie Modellrechnungen ihrer Entstehung belegen, dass die gewöhnliche Materie aus Fermionen und Bosonen in der Minderheit sein muss, und dass der Weltraum rund sechsmal so viel nichtbaryonische Materie besitzt: Partikel, die keine Starke und Elektromagnetische Wechselwirkung haben und somit nicht leuchten oder anderweitig sichtbar zu machen sind, aufgrund ihrer Schwerkraft aber weitreichende Wirkungen haben. Woraus diese ominöse Dunkle Materie besteht, weiß bislang niemand. Im gegenwärtigen Standardmodell der Elementarteilchen hat sie keinen Platz. Feinabstimmungen: Wenn man das Standardmodell auf 10–19 Protonen-Durchmesser ausdehnt, wären extreme Feinabstimmungen der Parameter notwendig, um eklatante Widersprüchen zu vermeiden: „Als würde jemand einen Bleistift auf die Spitze stellen und so genau austarieren, dass er nach 19 Minuten umfällt“, sagt Gerard ‚t Hooft. Das Standardmodell versagt also vermutlich bei höheren Energien und kleineren Maßstäben.

Vereinheitlichung: Bei höheren Energien, wie sie im frühen Universum vorherrschten, waren die Naturkräfte nicht getrennt, sondern eine Einheit. Die Vereinheitlichung der Schwachen und Elektromagnetischen Wechselwirkung zur Elektroschwachen Wechselwirkung ist bereits experimentell erwiesen und im Standardmodell integriert. Um auch die Starke Kraft mit zu vereinheitlichen, haben Jogesh Pati, Abdus Salam, Howard Georgi und Sheldon Glashow „Grand Unified Theories“ (GUTs) vorgeschlagen. Diese Großen Vereinheitlichten Theorien erklären, wie sich Quarks, Antiquarks und Leptonen bei 1016 Gigaelektronenvolt als gleichberechtigte Teilchen verhalten: Mathematisch wird das beschrieben, indem die Teilchen sich durch Symmetrietransformationen ineinander überführen lassen. Dazu ist die Existenz bestimmter Austauschteilchen nötig. In den bestehenden Beschleunigern lassen sich diese X-Teilchen nicht nachweisen, da ihre Masse zu groß ist. Auch indirekte Effekte sind noch nicht beobachtet worden, etwa der vorausgesagte Protonenzerfall.

Diese Liste schmälert die Verdienste des Standardmodells nicht. Sie zeigt aber, dass es noch ein weiter Weg zu den wahren Fundamenten der Natur ist – falls sich diese überhaupt jemals aufspüren lassen. In jedem Fall ist es nötig, über eine Physik jenseits des Standardmodells nachzudenken – und mit Experimenten wie dem LHC den Weg dorthin zu bahnen.

Zur Zeit ist die Suche nach dem Higgs-Boson – es könnte auch mehrere Sorten davon geben – so etwas wie der Heilige Gral der Teilchenphysik. Spätestens mit dem LHC wird man das Higgs-Teilchen finden, wenn es nicht zu schwer ist. Tatsächlich sind CERN-Physiker mit dem LHC-Vorgänger LEP (Large Electron Positron Collider) bereits auf erste Anzeichen von Higgs-Bosonen mit einer Masse um 115 Gigaelektronenvolt gestoßen. Schon der eben in seiner Leistungsfähigkeit gesteigerte Tevatron-Beschleuniger am Fermilab in Batavia, Illinois, hat gute Chancen, in den nächsten drei bis fünf Jahren rund 3000 Higgs-Kandidaten zu produzieren – aus einer halben Billiarde Protonen-Antiprotonen-Kollisionen.

Eine andere Front der Teilchenphysiker sind die Neutrinos. „ Die Neutrino-Massen und -Mischungen könnten eine Art Messsonde für die Physik auf der GUT-Energieskala sein und das Problem der Quark-Farben und -Massen aus neuer Perspektive zeigen“, sagt Guido Altarelli. „Gegenwärtig gibt es mehrere Modelle, um die Neutrino-Massen zu erklären.“

Unbekannt ist freilich noch, ob die Massen der drei Neutrino-Arten in derselben Größenordnung liegen oder ob sie sich stark unterscheiden. Auch der Anteil der Neutrinos an der Gesamtmasse des Kosmos ist nicht klar, vermutlich aber eher gering. Immerhin könnten sie als Heiße Dunkle Materie die Galaxienbildung beeinflusst haben. Möglicherweise gibt es sogar noch weitere, massereiche Neutrinos, deren Spin „rechtshändig“ wäre – im Gegensatz zu den bekannten drei linkshändigen Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Experimente werden die Umwandlungen der Neutrinos und somit deren Eigenschaften in den nächsten Jahren genauer inspizieren. So sollen am Fermilab und am CERN künstlich erzeugte Neutrino-Strahlen zu 700 Kilometer entfernten Detektoren geschickt werden.

Supersymmetrie – oder kurz SUSY – heißt die gegenwärtig erfolgversprechendste Kandidatin für eine Theorie jenseits des Standardmodells. Sie ist am detailliertesten ausgearbeitet und macht die genauesten Vorhersagen. Der Ansatz wurde von Julius Wess, Bruno Zumino und anderen entwickelt. Grundidee ist eine durch Symmetrieprinzipien bestehende fundamentale Verwandtschaft zwischen Fermionen und Bosonen. Mit der Ausdehnung und Abkühlung des Universums wurde die Symmetrie gebrochen, seither haben die Teilchen eigene Schicksalsbahnen. Dieser Phasenübergang lässt sich mit einem Bleistift illustrieren, der erst auf seiner Spitze balanciert (Symmetrie) und dann in irgendeine Richtung umfällt (Symmetriebrechung).

SUSY erfordert eine Fülle neuer, noch nicht nachgewiesener Partikel. Ihre Namen sind wenigstens einfach zu merken: Die Konvention der Physiker versieht die supersymmetrischen Fermionen vorne mit einem „S-“ und die Bosonen mit der Endung „-ino“. Also gibt es SUSY zufolge Sfermionen wie Squarks und Sleptonen (Selektronen, Sneutrinos) sowie Bosinos wie das Photino, Wino, Zino, Gluino und Higgsino. „Wir haben eine neue Sredeweise, gesprochen von Sphysikern“, scherzt Gordon Kane von der University of Michigan in Ann Arbor.

„SUSY schafft auch eine verlockende Verbindung zu den GUTs“, freut sich Altarelli. „Das öffnet uns ein Fenster zur Physik bei sehr großen Energie-Skalen.“ Howard Georgi, Helen Quinn und Steven Weinberg hatten schon in den siebziger Jahren gezeigt, dass sich die drei Kräfte des Standardmodells in supersymmetrischen GUTs bei 1016 Gigaelektronenvolt vereinigen – was in GUTs ohne SUSY nicht der Fall zu sein scheint (siehe Grafik „Die Kraft der Kräfte“). Die Unifikationsmasse der SUSY-GUTs ist circa 20- bis 30-mal größer als für gewöhnliche GUTs. Diese Vereinheitlichung und einige andere Merkmale erlauben es SUSY, die offenen Flanken des Standardmodells zu schließen. „ SUSY ist deshalb der am weitesten entwickelte und akzeptierte Ansatz jenseits des Standardmodells“, sagt Altarelli. „Besonders MSSM, das Minimale Supersymmetrische Standardmodell der Elementarteilchen, ist eine vollständig spezifizierte, konsistente und berechenbare Theorie, die sich mit allen Präzisionstests der Elektroschwachen Wechselwirkung vereinbaren lässt.“ Auch Henning Genz hat Gefallen an SUSY: „Sie löst das Hierarchie-Problem und macht die Feinabstimmungen überflüssig.“

Im MSSM sind leichte Sneutrinos mit Massen herunter bis 50 Gigaelektronenvolt nicht ausgeschlossen, während geladene Sleptonen Massen über 100 und Sfermionen über 1000 Gigaelektronenvolt haben müssen. Wenn SUSY stimmt, gibt es außerdem nicht nur ein einziges Higgs-Teilchen, sondern vermutlich fünf: drei neutrale und zwei geladene. Sie würden auch das Skylla-und-Charybdis-Dilemma verhindern.

„SUSY ist eine der plausibelsten Erweiterungen des Standardmodells, gut motiviert vom Hierarchie-Problem, vereinbar mit den Messungen der Kopplungsstärken und damit, dass das Higgs-Boson relativ leicht ist. Und SUSY liefert Kandidaten für die Dunkle Materie in der Astrophysik“, sagt John Ellis. Das leichteste supersymmetrische Teilchen sollte nämlich stabil sein, also nicht zerfallen, und wäre damit noch immer massenhaft im All vorhanden. Freilich ist unklar, was der leichteste Superpartner ist: das Photino, Wino, Zino oder Higgsino oder aber ein Gemisch verschiedener Partikel namens Chargino (aus Winos und geladenen Higgsinos) oder Neutralino (aus einem Photino, einem Zino und zwei elektrisch neutralen Higgsinos).

„SUSY ist perfekt vereinbar mit den GUTs und tatsächlich bereits quantitativ gestützt durch die Daten von den Kopplungsstärken und Neutrinomassen. Alle anderen Hypothesen für eine Physik jenseits des Standardmodells teilen diese Synthese mit den GUTs nicht“, erklärt Ellis, der spaßeshalber schon einmal einen Vortrag über die Teilchenphysik aus der Perspektive des Jahres 2011 gehalten hat, um die mutmaßlichen Entdeckungen vorwegzunehmen. „SUSYs Gültigkeit ist überprüfbar, zum Beispiel mit dem LHC, und lässt sich somit durch Experimente entscheiden.“ Das ist ein Gütesiegel und wesentliches Kennzeichen wissenschaftlicher Theorien. So macht SUSY Voraussagen zu den Zerfällen und Massen der Higgs-Bosonen. Das leichteste Higgs-Teilchen sollte dem MSSM gemäß „leichter“ als 130 Gigaelektronenvolt sein – und müsste sich mühelos mit dem LHC nachweisen lassen. Da die LEP-Daten zeigen, dass es über 114 Gigaelektronenvolt besitzt, ist der Parameterraum bereits stark eingeschränkt. Mit anderen Worten: Wenn das Higgs-Boson existiert, haben es die Physiker bereits so weit in die Enge getrieben, dass sie es bald zu fassen bekommen sollten. „Die Tage des Higgs-Bosons sind gezählt“, schmunzelt Ellis.

Freilich ist die Natur auf energiearmen Skalen nicht supersymmetrisch, sonst hätten Physiker beispielsweise die Selektronen schon entdeckt. Außerdem würden sie sich alle auf dem niedrigsten Energieniveau um den Atomkern scharen und dessen positive Ladung abschirmen, sodass es keine Elektronenhülle um ihn herum gäbe – und somit auch keine stabilen Atome. Vielmehr muss die Supersymmetrie schon in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall gebrochen worden sein.

„Das Problem ist, dass niemand einen einzigen Beweis gefunden hat, um SUSY zu bestätigen“, meint Graham Farmelo vom London Science Museum. „Die größte Entdeckung wäre allerdings, wenn SUSY falsch wäre. Auf den ersten Theoretiker, der ein Schlupfloch findet, oder einen Experimentator, der eine der Hauptvoraussagen widerlegt, wartet Stockholm. Die meisten Teilchenphysiker wären vielleicht gedemütigt – aber sie würden entschädigt durch eine wissenschaftliche Revolution.“

Möglicherweise sind Quarks und Leptonen auch gar nicht fundamental, sondern ihrerseits aus noch einfacheren, kleineren Bausteinen zusammengesetzt, mitunter Präquarks genannt. Dann würde sich die Geschichte wiederholen: Denn entgegen ursprünglicher Annahmen erwiesen sich ja auch die Atome und Atomkerne und Protonen und Neutronen als nicht fundamental. Ähnelt die Materie womöglich einer russischen Puppe mit immer kleineren Püppchen bis ins Unendliche?

Immer noch hält sich eine Hypothese namens Technicolor. Ihr zufolge sind Quarks nicht fundamental, und das Higgs-System soll aus einem Kondensat von Fermionen bestehen. Dadurch lässt sich das Hierarchie-Problem lösen, doch muss eine starke Bindungskraft angenommen werden, die tausendmal stärker als die Starke Kraft wäre. Problematisch daran ist, dass sich dann Myonen in Elektronen allein via Photonen-Emissionen umwandeln könnten. Solche Prozesse wurden aber noch nie beobachtet – stets sind Neutrinos beteiligt.

Technicolor könnte sogar mit SUSY verbunden werden. Dann wäre nicht nur die Existenz sehr schwerer neuer Teilchen gefordert, sondern auch schwach wechselwirkender Techni-Pionen, die Bestandteil der Dunklen Materie sein könnten.

Aber solange die Schwerkraft nicht mit einbezogen ist, ist das letzte Wort nicht gesprochen. Immerhin gehen die beiden elaboriertesten Quantengravitationstheorien, die Stringtheorie und die Quantengeometrie, ebenfalls von fundamentaleren Bausteinen der Natur aus – schwingenden Saiten oder einem Geflecht von Raumzeit-„Atomen“ namens Spin-Netzwerk (bild der wissenschaft 4/2004, „Das Duell: Strings gegen Schleifen“). Freilich dürfte SUSY auch in der Quantengravitation eine entscheidende Rolle spielen. „Wenn SUSY entdeckt wird, dann wird das die Physik auf eine neue Ebene bringen“, ist String-Obertheoretiker Edward Witten vom Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey, überzeugt. Doch bis zur „Theorie von Allem“, die über die SUSY-GUTs hinausgeht und die Gravitation integriert, ist es noch ein weiter Weg. Physiker, die mit ihren kühnen Hypothesen die Große Wüste durchqueren wollen, wären mit einer Strophe von Wilhelm Müller gut beraten: „Ich kann zu meiner Reisen / Nicht wählen mit der Zeit: / Muss selbst den Weg mir weisen / In dieser Dunkelheit.“ Rüdiger Vaas■

Ohne Titel

· Das Standardmodell der Materie liefert eine exakte Beschreibung der atomaren Bausteine – und kann doch nicht das letzte Wort der Teilchenphysik sein.

· Jenseits des Standardmodells sind großartige Entdeckungen zu erwarten: Supersymmetrie, exotische Partikel und eine vereinheitlichte Naturkraft.

· Doch zunächst soll der Large Hadron Collider (LHC) das Higgs-Boson aufspüren, das den Teilchen ihre Masse verleiht. Damit wäre das Standardmodell komplett.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ab|bruch|re|ak|ti|on  〈f. 20; Chem.〉 chem. Reaktion, die zum Abbruch einer Kettenreaktion führt

Zit|ter|pap|pel  〈f. 21; Bot.〉 Pappel mit fast runden Blättern, die beim leisesten Luftzug zittern: Populus tremula; Sy Espe … mehr

di|dak|tisch  〈Adj.; Päd.〉 die Didaktik betreffend, auf ihr beruhend, belehrend, lehrhaft ● ~e Fähigkeiten vermitteln; ~ erfahrene Lehrer

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige