Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

PILLENKNICK IM FLUSS

Erde|Umwelt

PILLENKNICK IM FLUSS
Hormonspuren im Auslauf von Kläranlagen gelten als Grund für die Verweiblichung vieler Wasserbewohner. Doch dafür gibt es auch natürliche Ursachen.

DER ANGEBLICH SCHULDIGE war schnell gefunden: Hormone aus der Anti-Baby-Pille sollten der Grund sein, warum Forellen zunehmend verweiblichen, erklärte Ende der 1980er-Jahre eine englische Forschergruppe um den Ökologen John Sumpter von der Brunel University in Uxbridge. Die Wissenschaftler hatten entdeckt, dass die männlichen Fische in der Nähe des Auslaufs von Kläranlagen großenteils steril waren. Die Schuldzuweisung klang plausibel: Sumpters Team hatte im geklärten Wasser von neu gebauten Abwasserreinigungsanlagen winzige Hormonkonzentrationen nachweisen können. „Einige Jahre zuvor wären die Hormone in einem großen Schadstoffcocktail untergegangen“, kommentiert der Ökotoxikologe Christoph Schäfers vom Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie.

Aufgeschreckt warnten vor 20 Jahren Zeitungen und Rundfunk vor der Vernichtung der Fischpopulationen im Land. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde großzügig Forschungsgeld in die Analyse des Problems gepumpt. „Daher konnte die folgenden zehn Jahre auf diesem Gebiet gut geforscht werden“, erinnert sich der Biologe Werner Kloas vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Und wer sucht, der findet: Schnell wurden neue Verdächtige identifiziert. Es seien allerdings nicht die Östrogene aus der „Pille“, die den Fischen ihre Männlichkeit rauben, berichteten einige Forschergruppen. Der Verdacht fiel auf östrogenartige Substanzen, „Pseudohormone“.

Eine davon ist Bisphenol A, ein Weichmacher in vielen Plastikartikeln. „120 000 Tonnen werden pro Jahr produziert“, sagt Kloas, und er schätzt, dass 20 000 bis 40 000 Tonnen davon am Ende in der Umwelt landen. So stand in den 1990er-Jahren jemand Neues am Pranger – „nicht mehr wir selbst, sondern die skrupellose chemische Industrie, die die Artenvielfalt verarmt“, spöttelt Christoph Schäfers. Doch auch dies galt nur so lange, bis die Arbeitsgruppe um John Sumpter ihre ursprünglichen Aussagen korrigierte: Nicht nur die Hormone der Anti-Baby-Pille, sondern auch die in menschlichen Ausscheidungen enthaltenen körpereigenen Sexualhormone brächten via Klärwerk die Fortpflanzung der Fische durcheinander.

Anfang des neuen Jahrtausends erlahmte das Interesse der Öffentlichkeit, und der Fluss an Fördermitteln versiegte. Bis eine neue Sau durchs Dorf getrieben wurde: Forscher berichteten jetzt, auch sogenannte anti-androgene Stoffe in Gewässern könnten eine große Rolle spielen. „Anti-Androgene werden zum Beispiel bei der Bekämpfung von Prostatakrebs eingesetzt“, erläutert Schäfers. Sie hemmen die Wirkung der männlichen Sexualhormone und damit die Bildung von Samenzellen. Doch diese Schadstoffe müssen nicht menschlichen Ursprungs sein, wie die Berliner Forscher um Kloas feststellten: In Versuchen an Krallenfröschen zeigte sich, dass Laub, das von Bäumen am Ufer ins Wasser fällt, anti-androgen wirken kann. Speziell Eichenblätter, so Kloas, enthalten viele derartige Stoffe. Auch wenn keine Eiche am Ufer steht, können die Fische steril werden: Im Berliner Müggelsee lässt ein parasitärer Plattwurm bei Rotaugen die Geschlechtsorgane verschwinden.

Anzeige

Letztlich, resümiert Kloas, gibt es wohl viele Mechanismen, auch natürliche, die zu Verweiblichung und Sterilität bei Wassertieren führen können. Dass die „Pille“ gravierende Auswirkungen habe, ist bis heute nichts als ein Verdacht. Unter dem, so die Berliner Forscher, neuerdings speziell die Minipille steht: Das auf Gestagenen basierende Verhütungsmittel, besonders der Wirkstoff Levonorgestrel, habe höchstwahrscheinlich gravierendere Auswirkungen auf Wasserlebewesen als die Östrogene der klassischen „Pille“. Also: Auf ein Neues! Nadine Eckert ■

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ko|mö|die  〈[–dj] f. 19〉 1 heiteres Drama, Lustspiel 2 〈fig.〉 erheiterndes Ereignis … mehr

Schar|be  〈f. 19; Zool.〉 1 = Kormoran 2 〈norddt.〉 kleiner Plattfisch ohne wirtschaftl. Bedeutung: Drepanopsetta platessoides … mehr

mag|gio|re  〈[mador] Mus.〉 Dur [ital., ”größer“]

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige