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Hammerschläge im Ohr

Gesundheit|Medizin Technik|Digitales

Hammerschläge im Ohr
Bei extremer Schwerhörigkeit versagen selbst die besten Hörgeräte. Doch ein neuartiges Ohr-Implantat bringt einen Teil des Hörvermögens zurück.

Es sind nicht nur alte Menschen, die bei einem Gespräch achselzuckend nicken oder sich hilflos abwenden, weil sie nichts verstanden haben. Schwerhörigkeit kann auch junge Menschen treffen – und sich bis zur völlig Taubheit verschlimmern. Wie bei Susanna Müller aus Thörigen im Schweizerischen Emmental: Im Alter von 30 Jahren ließ sie ihr Hörgerät selbst nachts stets auf höchster Empfindlichkeitsstufe eingeschaltet. Sie hatte Angst, ihre beiden kleinen Jungs zu überhören, wenn die aus einem schlechten Traum aufschreckten und nach ihr riefen. Ihr Mann Walter war womöglich nicht da, denn als Briefträger stand er bereits um vier Uhr morgens auf und verließ kurz darauf das Haus.

Die Schwerhörigkeit, unter der Susanna Müller schon wenige Jahre nach der Schulzeit zu leiden begann, hat einen medizinischen Namen: Otosklerose – eine Erkrankung, deren Ursache noch ungeklärt ist. Eine Masern-Virus-Infektion oder eine erbliche Veranlagung könnten die Ursache sein. Es trifft vor allem Frauen. Viele bemerken die ersten Anzeichen während der Schwangerschaft. Deshalb ziehen Forscher auch hormonelle Veränderungen als Auslöser der Otosklerose in Betracht.

Entzündung am Steigbügel

Erste Symptome sind leichte Hörprobleme, die meist schubweise auftreten, manchmal begleitet von unangenehmen Ohrgeräuschen. Dass diese Probleme allmählich bis zur Taubheit fortschreiten können, beruht auf einem Entzündungsprozess, der hinter dem Trommelfell im Mittelohr beginnt. Dort befinden sich drei nur wenige Millimeter große Gehörknöchelchen, die durch Muskeln und Bänder miteinander verbunden sind. Sie verwandeln die akustischen Schwingungen der Luft in mechanische Vibrationen, die zur Gehörschnecke im Innenohr weitergeleitet werden. Die Entzündung durch die Otosklerose beginnt am heikelsten der drei Gehörknöchelchen: dem Steigbügel, der über das sogenannte ovale Fenster direkt mit dem Innenohr verbunden ist. Die Folge: Der Steigbügel verknöchert, sodass die Schwingungen nur noch schlecht oder überhaupt nicht mehr übertragen werden können. Dieser Prozess ist nicht zu stoppen und befällt allmählich auch die Hörschnecke. Dort befinden sich etwa 16 000 Haarzellen, die die Vibrationen über die Hörnerven ins Hörzentrum des Gehirns übermitteln, wo letztlich der Höreindruck entsteht. Schweizer Forscher am Inselspital in Bern haben nun ein Implantat entwickelt, das es erstmals ermöglicht, diesem Verfall Paroli zu bieten.

Die heute gebräuchlichen Hörhilfen sind vor allem gegen Schwerhörigkeit im Alter gedacht. Sie betrifft meist das Innenohr. Wenn die durch Verschleiß geschwächten Haarzellen dort nicht mehr sensibel genug auf Bewegungen reagieren, versucht man, den ins Ohr gelenkten Schall durch kleine Lautsprecher zu verstärken. Mittlerweile ist die Technik so weit fortgeschritten, dass sich beim vollständigen Ausfall der Haarzellen die Hörnerven in der Schnecke direkt durch elektrische Impulse anregen lassen. Dafür sorgen sogenannte Cochlea-Implantate. Für die recht seltene Otosklerose, an der etwa 12 von 100 000 Menschen erkranken, haben die Ohrchirurgen, die Otologen, andere technische Lösungen parat: Zunächst wird der Steigbügel durch einen winzigen Kolben aus Teflon ersetzt – ein operativer Eingriff, der durch den äußeren Gehörgang erfolgt. Außerdem gibt es Implantate, um die Bewegungen der Gehörknöchelchen zu intensivieren.

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Nur noch blecherner Singsang

Auch bei Susanna Müller, die mittlerweile 63 Jahre alt ist, brachten konventionelle Hörhilfen irgendwann nichts mehr. Sie unterzog sich deshalb vier Operationen, in der Hoffnung, ihre Kinder und Enkel weiter verstehen und sich mit ihnen unterhalten zu können. Ein Cochlea-Implantat im linken Ohr verschaffte ihr bis vor Kurzem einen letzten Höreindruck. Telefonieren konnte die Schweizerin da aber schon nicht mehr. Besonders bedrückend für die Naturliebhaberin war, dass sie Vogelstimmen über das Implantat nur als lästige Störgeräusche oder blechernen Singsang wahrnahm.

Doch seit ein paar Monaten hört Susanna Müller den Gesang der Vögel wieder als fröhliches Zwitschern. Und sie kann Gesprächen wieder mühelos folgen. Das neuartige Implantat aus Bern brachte ihr das Hörvermögen zurück. Die Entwickler bezeichnen das Gerät mit dem Kürzel „DACS“, das für „Direkte Akustische Cochlea Stimulation“ steht. „Es ist das beste Gerät, das ich je hatte“, freut sich Susanna Müller. Die neue Gehörprothese liefert einen viel naturgetreueren Klang als Cochlea-Implantate. Denn die stimulieren durch elektrische Impulse lediglich rudimentär die Hörnerven. Dem DACS gelingt es dagegen, durch verstärkte akustische Schwingungen die Sinneszellen beim natürlichen Hörprozess anzuregen – und die eingeschränkte Beweglichkeit der Haarzellen durch intensive mechanische Impulse auszugleichen.

Initiator der Entwicklung des Ohr-Implantats war der inzwischen emeritierte Berner Ohrchirurgie-Professor Rudolf Häusler. Er suchte nach einer neuen technischen Lösung, weil sich viele Patienten bei ihm über die schlechte Qualität und die eingeschränkten Möglichkeiten der gebräuchlichen Hörgeräte beklagten und sie außerdem nur ungern außen am Ohr trugen. Häusler arbeitete mit dem Mikrotechniker Hans Bernhard und dem Elektroingenieur und Audiologen Christof Stieger vom medizintechnischen Forschungsinstitut Artorg an der Universität Bern zusammen. An der Entwicklung des Implantats beteiligten sich auch die Hörsystem-Hersteller Cochlear und Phonak.

Intensive Stimulation

DACS setzt dort an, wo konventionelle Hörhilfen und Mittelohr-Implantate systembedingt an Grenzen stoßen. Zum einen überbrückt das Gerät die in ihrer Funktion eingeschränkten Gehörknöchelchen. Dazu regt ein künstlicher Steigbügel am Eingang des ovalen Fensters direkt das Innenohr an – und zwar viel stärker als das die Gehörknöchelchen beim gesunden Menschen tun. Diese Verstärkung ist nötig, weil die Haarzellen im Innenohr, die durch die Erkrankung bereits in Mitleidenschaft gezogen sind, intensiver stimuliert werden müssen, damit sie in Aktion treten. Zum anderen wandelt DACS den Schall – anders als herkömmliche Hörhilfen – nur einmal um, bevor die Signale ins Innenohr gelangen. Wie bei einem konventionellen Gerät nimmt ein Mikrofon hinter dem Ohr den Schall auf, den ein Audioprozessor verstärkt. Doch während ein Hörgerät den verstärkten Schall über einen kleinen Lautsprecher durch den äußeren Gehörgang zum Trommelfell schickt, setzt DACS die akustischen Wellen direkt in mechanische Bewegung um. Bei gesunden Menschen bewegen sich die Gehörknöchelchen, die vom Trommelfell angeregt werden. Beim Berner Ohr-Implantat erledigt das ein winziger Aktor. Er erzeugt Wellen in der Innenohr-Flüssigkeit, die die Haarzellen anregen.

Da die menschlichen Gehörknöchelchen nur 4 bis 8 Millimeter groß sind und der Aktor deshalb ebenfalls klein sein muss, waren die Anforderungen an die Präzision des filigranen Geräts enorm. Den Schweizer Ingenieuren ist es gelungen, einen geeigneten Aktor mit einem Durchmesser von 3,6 und einer Länge von 14 Millimetern zu entwerfen. Damit er sich so hinter dem äußeren Gehörgang fixieren lässt, dass die kleine Koppelstange bis ins Innenohr reicht, muss dort zunächst Platz geschaffen werden. Dazu ist ein operativer Eingriff erforderlich, der drei bis fünf Stunden dauert.

knopfgrosser Empfänger im Ohr

In einem speziell eingerichteten Operationssaal des Berner Inselspitals nahm der Chirurg Marco Caversaccio, der Nachfolger Rudolf Häuslers als Leiter der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie, diese Operation bei Susanna Müller vor. Nachdem er ihr Innenohr in aufwendiger chirurgischer Feinarbeit entsprechend präpariert hatte, machte er den knopfgroßen Empfänger am äußeren Gehörgang fest. Dort fixierte Caversaccio das Bauteil, das über ein Kabel mit dem Aktor verbunden ist. Durch die Kopfhaut oberhalb des Ohrs leitet nun der Audioprozessor die Signale an den Empfänger weiter. Noch während der Narkose erfolgte der erste Testlauf des Implantats.

Die Vorteile des DACS haben sich inzwischen in ganz Europa herumgesprochen. In einer Studie, an der sich mehrere medizinische Institute beteiligt haben, sind die Geräte bei 20 schwerhörigen Menschen implantiert worden – 8 davon durch Thomas Lenarz, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist überzeugt, dass das neue Implantat dank seiner technischen Überlegenheit nicht nur Otosklerose-Patienten zugutekommt: „Es ist die erste Methode, die es ermöglicht, Patienten mit einer hochgradigen kombinierten Schwerhörigkeit des Mittel- und Innenohrs zu behandeln.“

Herkömmliche Hörhilfen mit Lautsprechern geben laute Töne oft verzerrt wieder, zudem lassen sich mit ihnen hohe Töne nur bis zu einer Frequenz von maximal 5000 Hertz wahrnehmen. „Bei dem Berner Implantat erfolgt die Verstärkung dagegen gleichmäßig über alle Frequenzen bis 10 000 Hertz“, betont Hans Bernhard, der über die Entwicklung des Implantats an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne promoviert hat. Diese Gleichmäßigkeit sorgt für einen guten Klang – Kinderlachen und Vogelstimmen hören sich wieder ganz natürlich an. ■

Christian Bernhart berichtet in bdw regelmäßig über neue Entwicklungen in der Medizintechnik. Zum Glück hat er ein gutes Gehör.

von Christian Bernhart

Töne im Knochenlabyrinth

Das Ohr ist ein höchst komplexes Organ, das nicht nur fürs Hören, sondern auch fürs Gleichgewicht zuständig ist. Beim Hören leitet die knorpelige Ohrmuschel den Schall zunächst in den äußeren Gehörgang, der in einer leichten S-Krümmung zum Trommelfell führt. Dieses Häutchen wird durch Schall in Schwingung versetzt. Der sogenannte Hammer, das erste von drei Gehörknöchelchen im Mittelohr, ist direkt mit der Rückseite des Trommelfells verbunden und nimmt die Schwingungen auf. Über Bänder und Muskeln sind die drei Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel miteinander verbunden. Ihre Aufgabe ist es, die vom Trommelfell aufgenommenen Schwingungen durch eine Hebelwirkung zu verstärken und ins Innenohr zu leiten. Dazu ist der Steigbügel direkt mit dem ovalen Fenster des Innenohrs verknüpft.

Die schneckenartige Form des Innenohrs ist funktionsbedingt. Das Innenohr ist ein aufgerolltes Knochenlabyrinth mit einem verzweigten System von Gängen und Hohlräumen. Darin werden die akustischen Schwingungen physikalisch registriert. Dazu erzeugt der Steigbügel über das ovale Fenster in der Innenohr-Flüssigkeit eine Wellenbewegung, die sich über den oberen Gang des Innenohrs bis zu Schneckenspitze fortpflanzt. Von dort breitet sich die Strömung durch den unteren Gang fort. Zwischen oberem und unterem Gang befindet sich ein dritter Hohlraum, dessen Membranen die Vibrationen aufnehmen. Rund 16000 Haarzellen reagieren sensibel auf kleinste Bewegungen und leiten die Signale über Neuronen zum Hörnerv weiter. Die hohen Frequenzen werden beim Eingang und die tiefen an der Spitze der Hörschnecke, der Cochlea, registriert. Über die Schneckenspindel leitet der Hörnerv die Signale über die verzweigte Hörbahn weiter zum Gehirn, wo schließlich der akustische Eindruck entsteht.

Ohr mit Hörstationen und Implantat: 1 Ohrmuschel, 2 äußerer Gehörgang, 3 Innenohr-Implantat (DACS), 4 Gehörknöchelchen, 5 Innenohr, 6 Hörschnecke (Cochlea) mit Haarzellen, 7 Mittelohr, 8 ovales Fenster, 9 Trommelfell

kompakt

· Ein künstliches Gehörknöchelchen überträgt Schallwellen ins Innenohr.

· Das Implantat verstärkt Töne extrem gleichmäßig und ermöglicht so einen naturgetreuen Klang – viel besser als herkömmliche Hörhilfen.

Mehr zum Thema

Internet

Uniklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten am Inselspital Bern: hno.insel.ch/de

Deutscher Gehörlosen-Bund: www.gehoerlosen-bund.de

Schweizerischer Verband Fachhilfe Gehörlosenorganisationen: www.sonos-info.ch

Österreichischer Gehörlosenbund: www.oeglb.at

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