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PÜNKTLICHE IGEL

Erde|Umwelt

PÜNKTLICHE IGEL
Nur Menschen kennen Zeitdruck? Von wegen! Auch das Leben von Igeln, Bienen, Vögeln und sogar von Cyanobakterien ist inneren Uhren unterworfen.

Im Februar 2011 wurde Dieter P., wohnhaft am grünen Rand des schwäbischen Städtchens Lauffen, unerwartet zum Verhaltensforscher. Schuld daran war ein Igel, der eines frostigen Abends in seinem Garten auftauchte. Das Tier war sichtlich unterernährt, daher stellte Dieter P. ihm ein Schälchen Futter hin. Es schmeckte dem Igel, am nächsten Abend war er wieder zur Stelle – zur gleichen Zeit. Der Forschergeist in Dieter P. erwachte. Abend für Abend wartete er in seinem Wohnzimmer ab, bis der Igel den Bewegungsmelder der Gartenbeleuchtung auslöste. Das Stacheltier kam zuverlässig – und bald mit ihm zwei Artgenossen, offenbar unabhängig voneinander aus verschiedenen Richtungen. So ging es monatelang. „Man konnte die Uhr nach den Igeln stellen“, sagt Dieter P. Wohlgemerkt, er tat nichts, um die Igel zu erziehen. Die Igel waren von sich aus so pünktlich.

Ein solches Verhalten erwartet man von Igeln nicht. Warum sollten die Insektenfresser solchen Wert darauf legen, stets zur gleichen Uhrzeit zu Abend zu essen? Tiere sind frei von Zeitdruck, möchte man glauben, sie können in den Tag hineinleben. Kein Wecker, keine Termine. Einfach essen, wenn man hungrig ist, und schlafen, wenn man müde ist. Aber so ist es nicht. Igel leben nach Plan. Sie pflegen zweimal täglich zu fressen, und zwar möglichst immer zur gleichen Zeit, in ihren beiden Hauptaktivitätsphasen abends und sehr früh morgens. Sie lieben die Dämmerung, wenn sie reichlich Insekten, Schnecken und Mäuse finden. Tagsüber verkriechen sie sich in den Schutz ihrer Nester aus Laub und Moos. Aber auch in den Nachtstunden, in denen die räuberischen Dachse und Uhus unterwegs sind, sind sie vorsichtig.

FRÜHAUFSTEHER-SCHIMMELPILZ

Tiere lieben es, zur gleichen Zeit das Gleiche zu tun. Das kann man auch auf einer Kuhweide beobachten. Am Nachmittag, stets zur gleichen Zeit, trotten die Kühe unaufgefordert zum Melken in den Stall. In ihnen – und in anderen Tieren und Pflanzen – ticken biologische Uhren, wie auch wir Menschen sie in uns tragen. Aus dem immer gleichen Grund: „Jedes Lebewesen hängt direkt oder indirekt vom Zyklus der Sonne ab“, sagt der Chronobiologe Till Roenneberg von der Universität München, „entweder direkt von ihrem Licht oder indirekt als Beute- oder Raubtier.“ Alle Ökosysteme des Planeten ticken im 24-Stunden-Rhythmus. Biologische Uhren steuern fast alle wichtigen Körperfunktionen: Schlafen und Wachen, Jagdtrieb, Bewegungsdrang und Verdauung bei Tieren sowie Photosynthese bei Pflanzen. Ob es die Amsel ist, die kurz vor der Dämmerung zu singen beginnt, der Eiswurm, der sich vor dem Sonnenlicht ins Gletschereis verzieht, oder die Fledermaus, die pünktlich zur Dämmerung auf Mückenfang geht: Alle folgen ihren eingebauten Uhren. Sogar Schimmelpilze, wenn sie sich ausruhen: Bei ihnen gibt es „Frühaufsteher“ und „ Spätaufsteher“.

Bis vor Kurzem waren Verhaltensbiologen überzeugt, dass jedes Lebewesen ungefähr nach dem Lauf der Sonne lebt. Doch es gibt Ausnahmen. Eine besonders bemerkenswerte Ausnahme wurde gerade erst von einem europäischen Forscherteam in einer Oasenhöhle aufgestöbert, mitten in der somalischen Wüste: ein blinder, bleicher Fisch, genannt Phreatichthys andruzzii, der dort seit zwei Millionen Jahren abgeschnitten vom Sonnenlicht lebt. Sein Fress- und Aktivitätszyklus misst nicht 24, sondern 43 Stunden. Auch er lebt nach einer inneren Uhr, nur läuft sie bei ihm anders. Sie richtet sich nicht nach Tag und Nacht – die spielen dort in der dunklen Einsamkeit kaum eine Rolle –, sondern nach den Stoffwechsel-Bedürfnissen des archaischen Wassertiers.

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IN WEITEM BOGEN NACH AFRIKA

Mit ihrer Ganggenauigkeit müssen biologische Uhren den Vergleich mit mechanischen Uhren nicht scheuen. „Ich glaube, dass sie auf die Sekunde genau sein können, wenn sie richtig synchronisiert sind“, sagt Roenneberg. Hähne können immerhin auf die Minute genau krähen. Von Menschen ist bekannt und im Labor überprüft, dass sie sich abends beim Einschlafen auf die Viertelstunde genau vornehmen können, wann sie aufwachen. Doch die Präzisionsmeister im Zeitnehmen sind die Zugvögel. Sie nutzen ihre Körperuhren, um auf ihren Langstreckenflügen auf Kurs zu bleiben. Wie ihnen das gelingt, zeigte der Ornithologe Eberhard Gwinner schon in den 1960er-Jahren am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie am Starnberger See. Er setzte einige Tiere in Käfige mit Papierwänden und einem mit Stempelfarbe getränkten Boden, während ihre Artgenossen von Bayern in einem weiten Bogen über Südspanien in Richtung Afrika zogen. An den Farbspuren konnte Gwinner zu jeder Zeit erkennen, in welche Richtung sich die Tiere hauptsächlich bewegten. Und siehe da: Die gefangenen Vögel orientierten sich stets genau dorthin, wohin die freien gerade flogen – exakt gleichgerichtet von ihren inneren Uhren. Schon bei wenigen Grad Abweichung würden sie ihr Ziel um Hunderte Kilometer verfehlen. Ähnliche Versuche hatte der Münchner Verhaltensforscher Karl von Frisch Anfang des 20. Jahrhunderts mit Bienen durchgeführt – mit dem gleichen Befund. Auch Bienen nutzen ihre inneren Uhren als Navigationsinstrumente, um Nahrungsquellen wiederzufinden und ihren Artgenossinnen anzuzeigen.

DER RHYTHMUS DER MIMOSE

Dass die Natur eine Uhrmacherin ist, wissen Forscher schon seit fast drei Jahrhunderten. Im Jahr 1729 fiel dem französischen Physiker Jean Jacques d’Ortous de Mairan auf, dass die Mimose an seinem Schreibtischfenster jeden Abend pünktlich zum Sonnenuntergang die Blätter einklappte. Und das tat sie auch, wenn de Mairan sie in seinem Schreibtisch vom Sonnenlicht abriegelte. Die Pflanze reagierte also nicht bloß auf den abendlichen Lichtwechsel. Der Rhythmus kam aus ihr selbst. De Mairan hatte keine Zeit, die Sache weiter zu untersuchen. Und andere Forscher interessierten sich zunächst nicht sonderlich dafür.

Zwar beobachteten sie in den folgenden Jahrhunderten weitere vereinzelte Uhrenphänomene bei Pflanzen und Tieren. Doch erst jetzt wird den Forschern klar, wie allgegenwärtig Uhren in Fauna und Flora sind. Schon in Cyanobakterien, die zu den ältesten bekannten Lebewesen gehören, sind Uhren zu finden – obwohl nicht wenige Forscher deren Existenz jahrzehntelang bestritten hatten. „ Vermutlich hat jede Zelle, die auf der Erde lebt, eine Uhr“, sagt Till Roenneberg. Wirklich jede? Da kann natürlich niemand sicher sein. Jeden Tag könnte eine Zelle entdeckt werden, die ohne Eigenzeit lebt. Aber bisher finden die Forscher Uhren, wo immer sie nach ihnen suchen. Säugetiere von der Gewichtsklasse des Menschen bestehen insgesamt aus rund 100 000 000 000 000 Zellen. 14 Nullen! Und nach heutigem Wissensstand hat jede einzelne davon eine eigene Uhr. Diese Erkenntnis ist eine Überraschung, denn bis vor Kurzem waren Forscher davon ausgegangen, dass nur komplexe Zellen Uhren haben können. Jetzt aber fanden die Biologen Akh Reddy und John O’Neill von der britischen University of Cambridge, dass sogar rote Blutkörperchen eigene Uhren besitzen. Zu manchen Tageszeiten sind sie besser bereit, Sauerstoff zu transportieren, als zu anderen. Und das, obwohl sie nicht einmal einen Zellkern besitzen.

Ein Zellkern galt bis vor Kurzem als unerlässlich für eine innere Uhr, denn die bis dahin bekannten „Uhrwerke“ bestanden in verwickelten Rückkopplungsprozessen zwischen bestimmten Uhren-Genen und Proteinen, die aus diesen Genen gebildet werden (siehe Beitrag „Falsch getaktet“ ab Seite 36). Für solche Prozesse ist die Maschinerie eines Zellkerns nötig. Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass es auch biologische Uhren gibt, die viel einfacher gebaut sind. Stoffwechselprozesse, an denen keine Gene beteiligt sind, taugen ebenfalls als Zeitgeber. Schon mit drei Proteinen und dem universellen Energieträger ATP in einem Reagenzglas lässt sich über Wochen hinweg ein Reaktionszyklus von 24 Stunden in Gang halten. Das zeigte eine Gruppe amerikanischer Zellbiologen um Erin O’Shea von der Harvard University in einem Experiment, das sie im Jahr 2007 im Fachmagazin Science beschrieben haben. Das große Ziel der Chronobiologen ist jetzt, die „Uruhr“ (englisch: primordial clock) zu finden, die Mutter aller biologischen Uhren. Reddy und O’Neill glauben, ihr auf der Spur zu sein. Die Uhr, die sie in den roten Blutkörperchen entdeckt haben, soll eine Nachfahrin der Uruhr sein, behaupten sie.

Alle Tiere besitzen also Zeitgeber. Aber haben sie auch ein Zeitbewusstsein? Bakterien und Igel ziemlich sicher nicht. Sie brauchen keine Begriffe von Vergangenheit und Zukunft, sie müssen ihre Tage nicht planen, um pünktlich zu sein. Es genügt, wenn sie ihren momentanen Trieben und Instinkten folgen, denn auch die sind von Uhren gesteuert.

BUSCHHÄHER SIND SCHLAUE PLANER

Gibt es, abgesehen von uns Menschen, überhaupt Tiere, die in die Zukunft denken können? Lange war „Nein“ die übliche Antwort. Es galt die sogenannte Bischof- Köhler-Hypothese, benannt nach Norbert Bischof und Doris Köhler, zwei Psychologen der Ludwig-Maximilians-Universität München. Tiere leben vollkommen im Jetzt, behaupteten die beiden. Nur Menschen sind fähig, im Geiste durch die Zeit zu reisen. Doch seit einigen Jahren wankt die Bischof-Köhler-Hypothese. Ratten und Tauben können zumindest minutenweise die Zukunft planen. Schimpansen denken immerhin eine Stunde voraus: In Versuchen nehmen sie zum Beispiel Werkzeug an sich, von dem sie wissen, dass sie es erst eine Stunde später gebrauchen können. Zu den schlauesten Planern im Tierreich gehören die Buschhäher. Diese Rabenvögel sind eifrige Nahrungssammler und Vorratshalter – und ziemlich diebisch. Bei jeder Gelegenheit bedienen sie sich in fremden Speisekammern und vergraben ihre Beute anderswo. Dabei achten sie genau darauf, welcher Artgenosse ihnen beim Graben zugeschaut hat – und merken es sich tagelang. Wenn ihnen am nächsten Tag die Lage verdächtig vorkommt, verlegen sie ihr Depot.

So flexibel waren Dieter P.s Igel nicht. Sie kamen stets pünktlich zur selben Zeit – bis in den September. Dann kamen sie plötzlich gar nicht mehr. Wie sich herausstellte, waren die Katzen schuld. Sie hatten die Igel vertrieben. Denn auch sie waren scharf auf das Futter und hatten verstanden, dass es allabendlich um die gleiche Zeit etwas Gutes gab. Auch Katzen haben innere Uhren. ■

TOBIAS HÜRTER hat sich auch für sein aktuelles Buch „Du bist, was du schläfst“ intensiv mit inneren Uhren beschäftigt.

von Tobias Hürter

KOMPAKT

· „Vermutlich hat jede Zelle, die auf der Erde lebt, eine innere Uhr“, sagt der Chronobiologe Till Roenneberg.

· Hintergrund: Alle Ökosysteme des Planeten ticken im 24-Stunden-Rhythmus des Sonnentages.

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