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Ihr Hobby: Wissenschaft

Allgemein

Ihr Hobby: Wissenschaft
Schmetterlings-Killer oder Wissenschaftler aus Bürgerpflicht? Was bringt Hobby-Gelehrte dazu, durch matschige Baugruben zu stiefeln oder vergilbten Manuskripten nachzuspüren?

„Stopp! Anhalten!“ – Walter Joachim stellt sich vor den rasselnden Löffelbagger und winkt mit ausgestreckten Armen. Der Fahrer des gelben Kettenfahrzeugs legt zögernd den Leerlauf ein. „ Das ist vielleicht römisches Mauerwerk!“ ruft der Hobby-Archäologe in Richtung Führerhaus und zeigt auf einige Scherben und Ziegelsteine in der Baugrube: „Machen Sie mal eine Pause! Ich steige runter und schau mir das an.“

„Niemand hätte in vier Meter Tiefe mit römischen Siedlungsresten gerechnet“, erinnert sich Walter Joachim an den überraschenden Fund von 1999 in Stuttgart-Bad Cannstatt: „In solchen Situationen braucht man Einfühlungsvermögen. Denn der Bauherr und die Baufirma haben es eilig – und der Archäologe darf nur bremsen, wenn er ein Grab oder Mauerwerk entdeckt hat.“

Seit 1972 ist der pensionierte Polizeibeamte mit Spaten und Hacke unterwegs. „Joachim ist der Star unter den Amateuren“, schwärmt Jörg Biel, Leiter der Archäologischen Denkmalpflege in Baden-Württemberg.

Rund 250 ehrenamtliche Beauftragte für Ausgrabungen gibt es in dem südlichen Bundesland – darunter nur zwei Frauen. „Männer sind viel ehrgeiziger“, erklärt Biel. „Im Hasenverein wollen sie immer den größten Rammler züchten.“

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Sie kratzen Lehmklumpen an Scherben ab, starren an ihrem Feierabend durch Heim-Teleskope und sitzen im Morgengrauen bewegungslos auf der Vogelwarte: Einige Hunderttausend Hobby-Forscher gibt es in Deutschland, vor allen in den beobachtenden Wissenschaften Astronomie, Archäologie und Ornithologie – die genaue Zahl ist unbekannt. Allein in den Vogelschutzverbänden registrieren etwa 25000 Mitglieder bedrohte Vogelarten, rechnet Peter Berthold von der Forschungsstelle für Ornithologie der Max-Planck-Gesellschaft vor. „Die Amateure sind unersetzlich – und unbezahlbar: Bei einem hypothetischen Stundenlohn von zehn Mark müsste unsere Vogelwarte in Radolfzell den 300 Ehrenamtlichen jährlich eine Million Mark bezahlen!“

In den USA sind Amateur-Wissenschaftler längst aus dem Dunstkreis der Vereinsmeier und Schmetterlings-Killer getreten: „ Citizen Scientists“ heißen sie dort in der Öffentlichkeit: Wissenschaftler aus bürgerlichem Engagement. Ganz geheuer ist dem Denkmalpfleger Biel der Begriff „Hobby-Forscher“ nicht: „Man denkt sofort an Spinner und Wünschelruten-Gänger, die zu Hause lange Bücherreihen von Erich von Däniken besitzen!“

„In der Astronomie haben Freizeit-Forscher beim Beobachten von variablen Sternen die Nase vorn“, sagt Johannes Andersen vom Niels-Bohr-Institut für Astronomie in Kopenhagen. „Bei nationalen Forschungsgesellschaften wie der Astronomical Society of the Pacific und der Société Astronomique de France arbeiten professionelle Astronomen deshalb mit Amateuren in einem Team.“

Viele Sternenbegeisterte haben ihr Heim mittlerweile in ein Hightech-Observatorium umgerüstet. Die Preise für Teleskope, Digitalkameras und leistungsfähige Computer sinken seit Jahren, und die gespeicherten Daten lassen sich im Internet schnell verschicken: Mehr als 300000 Aufnahmen aus aller Welt erhielt 1999 die Amerikanische Vereinigung von Beobachtern variabler Sterne (AAVSO) – eine Datenmasse, die professionelle Astronomen in Zeiten von Budgetkürzungen nie zusammentragen könnten.

Auch in dem deutschen Fachblatt Sterne und Weltraum verfassen Amateur-Astronomen einen Großteil der Beiträge. „So mancher Kollege könnte sich vom flüssigen Schreibstil der Hobby-Forscher eine Scheibe abschneiden“, meint Klaus Meisenheimer vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg.

Innerhalb der Internationalen Astronomischen Union kommt seit 1994 eine gemischte Arbeitsgruppe in der Kommission 22 (Meteore und interplanetarischer Staub) zusammen, PAWG genannt – die Abkürzung von „Professional-Amateur Working Group“. Ein Gremium wie die PAWG gibt es in Deutschland nicht. Nur in zwei Einrichtungen nehmen Profis Astro-Freaks ernst: Im Institut für Atmosphärenphysik in Kühlungsborn und im Institut für Planetenerkundung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin. „Dabei leisten Amateure so viel wie Berufsastronomen – allerdings aus reinem Interesse und mit der Option, sich jederzeit einem anderen Gegenstand zuzuwenden“, meint Jürgen Rendtel vom Astrophysikalischen Institut in Potsdam.

Hobby: Wissenschaftler – aus „reinem Interesse“ und Entdeckerfreude? Oder um unsterblich zu werden wie die Kometenjäger Tom Bopp und Alan Hale 1995? „Vielleicht ist es das Schaudern, etwas in der Hand zu halten, was über Jahrtausende unberührt in der Erde lag“, erklärt Walter Joachim seine Faszination für die Archäologie. „Ich will kleine Mosaiksteine zur Erforschung der Vor- und Frühgeschichte im Land beisteuern.“ Sein Faible für die Frühzeit hat ihm auch über die Sinnkrise nach 40 Jahren Berufsleben geholfen: „Die Archäologie hat mir den Übergang in den Ruhestand erleichtert. Ich bin in kein Loch gefallen wie viele meiner Kollegen.“

Nicht jeder Hobby-Archäologe arbeitet allerdings fair und wissenschaftlich korrekt: „Ich kenne meine Pappenheimer“, klagt Joachim. „Immer wieder kommen uns Raubgräber dazwischen.“ Deshalb müssen sich ehrenamtliche Beauftragte regelmäßig weiterbilden – und bei wichtigen Entdeckungen sofort den zuständigen Archäologen informieren.

Einmal hat Joachim sogar ein archäologisches Dogma widerlegt: In einer keltischen Anlage im schwäbischen Fellbach-Schmiden fand er einen über 2000 Jahre alten holzverschalten Schacht. „ Keltische Viereckschanzen mit solchen Schächten gibt es in ganz Süddeutschland. Sie galten lange als Kultorte, an denen geopferte Menschen in den Schacht geworfen wurden“, erklärt der ehemalige Polizist. „Ich konnte beweisen, dass dieser Schacht ein Brunnen war. Wahrscheinlich wurde die Anlage also landwirtschaftlich genutzt.“ Für seine Spurensuche als Archäologe und Polizeibeamter erhielt Joachim 1982 als Erster den Württembergischen Archäologiepreis und 1994 das Bundesverdienstkreuz.

Bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ist man zurückhaltender. „Auch talentierte Leute müssen eine klassische akademische Ausbildung vorweisen, um von uns gefördert zu werden“ , betont Dieter Hüsken von der DFG. „Für Amateur-Wissenschaftler sind die Stiftungen und Landesverbände der Natur- und Denkmalschützer zuständig.“

Hermann Süß hat es trotzdem geschafft: Der ehemalige Zugbegleiter sichtet seit 1996 alte hebräische, syrische und jiddische Schriften an der Universität Rostock – die Stelle finanziert die DFG. Mit dem „üblichen Schmarren“ wurde er auf seinen ersten Konferenzen in Oxford, New York und Jerusalem vorgestellt: „Die Veranstalter sahen in mir den Exoten: Ein Wagenschaffner der Bundesbahn mit einer Schwäche für verschollene Bücher“, erinnert sich der 68-Jährige. „Mittlerweile werde ich in der Fachwelt nicht mehr als Laie betrachtet.“

Die jiddische Sprache entstand zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert im Südwesten Deutschlands aus mittelhochdeutschen Dialekten – aber sie wird mit hebräischen Zeichen geschrieben: „ In den fünfziger Jahren las ich einen Zeitungsbericht über die Ähnlichkeit zwischen dem Altjiddischen und dem Fränkischen“, erinnert sich der gebürtige Nürnberger an den Beginn seiner Leidenschaft. „Daraufhin schrieb ich aus einer Enzyklopädie die hebräischen Zeichen ab – und entzifferte jiddische Texte.“

„Als Protestant wollte ich schon früh die jiddische Literatur kennen lernen“, sinniert Süß. „Ich musste aber feststellen, dass die Altbestände der Bibliotheken in Erlangen, Lindau und Ansbach nicht systematisch organisiert waren. Das hat mich erst recht angespornt.“

Süß ging 1973 zur Bahn – mit einem Hintergedanken: „Ich wusste, durch den Schichtdienst werde ich unter der Woche frei haben. Zeit, um in Bibliotheken nach alten Schriften zu stöbern.“ 1997 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Erlangen. Sein internationales Ansehen verdankt Hermann Süß seiner Neugierde, Begabung und Ausdauer – und einem Quäntchen Glück. Er verließ sich nicht auf die Beteuerung, „Wir sind eine wissenschaftliche Bibliothek, bei uns sind alle Bücher verzeichnet“, sondern ging in die abgelegenen Magazine. Ein altes Namensetikett in einem jüdisch-deutschen Arzneibuch brachte ihn schließlich 1979 auf die Fährte einer verschollenen Privatbibliothek: der Wagenseil-Sammlung.

Der Name des Orientalisten Johann Christoph Wagenseil (1633 bis 1705) lässt Religionsforscher auf der ganzen Welt aufhorchen. Der Hofmeister und Prinzenerzieher stellte auf seinen Reisen durch Europa etwa 300 Bände zusammen – darunter mehrsprachige Bibeln, Sittenbeschreibungen und jüdisch-deutsche Literatur.

„Bibliothekare kennen häufig eben nur die Kataloge, nicht aber die Bestände. Selbst bei der Inventur werden nur die Signaturen überprüft“, entschuldigt Süß die Zunft, die ihm das Leben zuweilen schwer machte. Zusammen mit dem semitischen Philologen Hartmut Bobzin hat er die Wagenseil-Sammlung Band für Band gesichtet und rekonstruiert – seit 1996 gibt es eine Mikrofiche-Edition und einen CD-Katalog mit allen Titelblättern.

„Dein Busen und die Hüften/Das macht dir kaane nach/Du hast so schöne Füßlich/Als wie ein Sarkophag“ – unter den Traktaten befinden sich auch literarische Perlen wie dieses Liebesgedicht aus dem Jahre 1905. Bekommt der Bibliomane Süß nicht zuweilen Lust, ausgefallene Bände zu besitzen? „Gott behüte! Ein Bibliograf darf niemals Raritäten sammeln, das ist viel zu gefährlich. Ich möchte in öffentlichen Bibliotheken arbeiten, bis mir irgendwann der Griffel aus der Hand fällt.“

Kompakt

Amateure sind in der Grundlagenforschung für Astronomie, Archäologie und Vogelkunde unersetzlich – einige schaffen sogar den Sprung in die internationale Fachwelt.

bdw-Community

Lesen

Ornithologie

Bernhard Weßling

Kranichgedanken

(mit CD-ROM)

Margraf Verlag, 2000

DM 50,–

Internet

Ornithologie

Bernhard Weßlings Kranichseite mit Ergebnissen, Videos und Kranichlauten:

www.craneworld.de/

International Crane Foundation:

savingcranes.org/

Auswilderungsprojekt für Schreikraniche:

operationmigration.org

Biologie der Kraniche: www.npsc.nbs.gov/resource/distr/birds/ cranes/cranes.htm

Link zu weiteren Ornithologie-Projekten in Deutschland:

www.ornithologie.de/alg/urlneu.htm

Archäologie

Links zu archäologischen Projekten und Vereinen:

www.archaeologie-online.de/links/

Astronomie

Magazin „Sterne und Weltraum“:

www.mpia-hd.mpg.de/suw/suw/SuW/ Programm/SuW/P-SuW.html

Kontakt

Astronomie

Vereinigung der Sternfreunde e.V.

Am Tonwerk 6

64646 Heppenheim

Fax: 06252 | 787 220

www.vds-astro.de/

American Association of Variable Star

Observers (AAVSO)

25 Birch Street

Cambridge, MA 02138, USA

Tel. 001 – 617 | 354-0484

Fax 001 – 617 | 354-0665

E-Mail aavso@aavso.org

www.aavso.org

C. Gregor Barié

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

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Ka|ta|ly|sa|tor|au|to  〈n. 15; Kfz〉 mit einem Abgaskatalysator ausgestattetes Auto

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Na|sen|spie|ge|lung  〈f. 20; Med.〉 Untersuchung des Naseninnern mit einem Nasenspiegel; Sy Rhinoskopie … mehr

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