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KEINER VERSTEHT DIE RIESTERRENTE

Gesellschaft|Psychologie

KEINER VERSTEHT DIE RIESTERRENTE
Eine Studie deckt auf, wieso selbst Experten rätseln, was die Paragrafen aussagen.

Seien Sie ehrlich: Sie haben den rechts abgedruckten Riester-Paragrafen 7 nicht ganz gelesen. Stimmt’s? Oder haben Sie womöglich gar nicht erst angefangen, weil Versicherungsparagrafen Sie einschüchtern? Wie auch immer: Sie sind damit nicht allein. Nicht nur Laien, sondern auch Experten tun sich schwer, diese und andere Vertragsklauseln der Riesterrente zu begreifen, wie eine neue Studie belegt. Wenn Sie doch einen Blick auf den Abschnitt werfen, sehen Sie, dass die Sätze weder verschachtelt sind, noch aus Fremdwörtern bestehen. Dennoch hatten die Probanden der Studie viel Mühe, die Zeilen zu deuten.

Verbrauchernahe Rechtstexte – wie Mietverträge oder Versicherungspolicen – sollen „verständlich und klar” formuliert sein, fordert ein 1993 von der EU erlassenes Transparenzgebot. Und seit 2002 steht das auch so im Bürgerlichen Gesetzbuch. „ Unklar ist nur, nach welchen Kriterien man Verständlichkeit und Klarheit bemisst”, sagt Wolfgang Klein, Sprachwissenschaftler am Max Planck Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen und Leiter der Studie „Sprache des Rechts”. Er und seine Kollegen versuchten, den kognitiven Prozess des Verstehens zu durchschauen, indem sie jeweils zehn Laien, Juristen und Versicherungsagenten die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Riesterrente interpretieren ließen. Wie sich herausstellte, erschwerten Fachbegriffe und eine komplexe Satzstruktur zwar das Verständnis, führten jedoch nicht zu Fehlinterpretationen. Denn nicht nur Laien schnitten mit einer Trefferquote von 20 Prozent schlecht ab – Versicherungsagenten waren mit 39 und 36 Prozent nicht wesentlich besser.

„Die sprachliche Form eines Textes ist nur eine von vielen Größen, die seine Verständlichkeit bestimmen”, sagt Klein. „In der bisherigen Forschung stand sie aber lange Zeit im Mittelpunkt, und sie wird auch heute noch von den meisten als ausschlaggebend angesehen.” Völlig unterschätzt wird laut Klein dagegen die kognitive Komponente, also das, was in unserem Kopf vorgeht, während wir etwas lesen. „Was wir verstehen”, so Klein, „ wird zu einem hohen Maß von dem bestimmt, was wir bereits wissen oder zu wissen glauben – manchmal auch völlig gegen den Wortlaut.” Wenn etwa an einer Tür ein Schild hängt mit der Aufschrift „ Bitte Klingeln”, ist jedem klar, dass das keine allgemeine Aufforderung ist, den Klingelknopf zu betätigen. Man klingelt natürlich nur, wenn man hineingehen will.

DIE BIBEL ALS VORBILD

Dieses Kontextwissen aus Alltag und Beruf hilft dabei, Wörtern eine Bedeutung zu geben und sie richtig einzuordnen. Es basiert auf einem einfachen Prinzip menschlicher Kommunikation. Linguisten nennen es das Herstellen eines „anaphorischen Wissens” : Man bezieht sich auf vorher Gesagtes. Eine Anapher ist das älteste, häufigste und einfachste Stilmittel, etwas sprachlich fassbar zu machen. Schon die Bibel ist so geschrieben. Es heißt etwa im 1. Buch Mose: „Dies ist die Geschichte von Noahs Geschlecht. Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten; er wandelte mit Gott.” Die Anapher schlägt eine Brücke zu dem, was unmittelbar vorher gesagt wurde.

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Gelingt einem komplexen Text das nicht, ist der Leser kaum in der Lage, selbst einfach gebaute Sätze zu verstehen. Etwa in Riester-Paragraf 7,2: „Bei beitragsfreien Versicherungen wird kein Abzug vorgenommen.” Eine Aussage, die zwar harmlos klingt, um die die Probanden der Studie jedoch kühne Interpretationen spannen. Die meisten konnten mit den Begriffen „beitragsfreie Versicherung” und „Abzug” nichts anfangen. Denn aus dem Kontext geht nicht eindeutig hervor, was diese Begriffe bedeuten, wieso sie an dieser Stelle stehen und was sie mit dem vorangehenden Satz über Beitragsrückstände zu tun haben. Ein Jurist bemerkte ratlos: „Es gibt anscheinend auch beitragsfreie Versicherungen…” Niemand kam auf die Idee, eine Beziehung zu der in Paragraf 6 erwähnten „beitragsfreien Zeit” herzustellen – zu einer Zeit also, in der man für die Versicherung keine Beiträge zahlt. Der Paragraf 6 war im anaphorischen Wissen nicht mehr verankert, die Brücke irgendwo zwischen ihm und Paragraf 7 abgebrochen. Ein Laie sagte, er habe seines Erachtens eine Versicherung abgeschlossen, die nicht beitragsfrei sei: „Also ist dieser Satz hier völlig unnütz.” Nur einige Versicherungsagenten wussten, was mit „ beitragsfreier Versicherung” gemeint ist. Aber auch das half ihnen nicht, das alltagssprachliche Wörtchen „Abzug” richtig zu interpretieren. Sie suchten einen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Satz, in dem von „Beitragsrückständen” die Rede war. Doch der hat mit dem Nachfolgesatz nicht direkt etwas zu tun. Einer der Probanden folgerte: „Diese Rückstände kann es bei beitragsfreien Versicherungen nicht geben.” Das hieß für ihn: Man kann nichts abziehen.

Langes Rätseln, kurzer Sinn. Informieren will der Satz eigentlich nur über Folgendes: Für eine Versicherung, die man ruhen gelassen hat – also für die man keinen Beitrag mehr gezahlt hat –, muss man auch bei deren Kündigung nichts mehr zahlen. Denn ein „Abzug”, eine Art Gebühr für den der Versicherung entgangenen Gewinn, war bereits fällig, als man sich dazu entschloss, die Versicherung ruhen zu lassen (laut Paragraf 6).

IN DIE IRRE GELEITET

Da es eine Eigenschaft des menschlichen Gehirns ist, stets einen Sinn zu erzeugen, waren sich die Probanden ihrer Fehlannahmen nicht bewusst, die sie aufgrund mangelnden Hintergrundwissens oder verallgemeinerter Wissensannahmen machten. „Neue Informationen”, erklärt Klein, „werden auf Gedeih und Verderb an bereits entwickelte Annahmen angebunden.” Man kann sich die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Riesterrente wie eine ungenaue Wegbeschreibung vorstellen: Folgt man ihr, so kommt man irgendwann irgendwo an – aber leider nicht dort, wo die Beschreibung einen hinlotsen sollte. Und: Man merkt es nicht.

Den meisten Versicherten ist nicht klar, dass jeder Vertrag vor Gericht angefochten werden kann, wenn er unverständlich formuliert ist. „Wenn ein Abschnitt nicht verständlich ist, gilt immer die Auslegung, die für einen selbst die beste ist”, weiß Wolfgang Klein. Dass der Text der Riesterrente gegen das Transparenzgebot verstößt, hat die Studie klar belegt. Kaum einer der rund elf Millionen Menschen in Deutschland, die eine Riesterrente abgeschlossen haben, dürfte die Versicherungsparagrafen wirklich verstanden haben. Man könnte also theoretisch vor Gericht gehen. Theoretisch. Aber wer liest denn überhaupt Versicherungsparagrafen?

TINA SUCHANEK, freie Journalistin in Leipzig, hat auch nach diesem Artikel die Riesterrente noch nicht ganz verstanden.

von Tina Suchanek

Fakten zur Riesterrente

Die Riesterrente ist eine privat finanzierte Rente, die vom Staat mit Zulagen und Steuerersparnissen gefördert wird. Sie ist eine Ergänzung zur gesetzlichen Altersvorsorge häufig in Form einer fondgebundenen oder klassischen Rentenversicherung. Die Bezeichnung Riester-Rente geht auf den ehemaligen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Walter Riester zurück. Er reagierte mit seinem Vorschlag zur Förderung der freiwilligen Altersvorsorge auf die 2001 beschlossene Senkung der gesetzlichen Rente um drei Prozentpunkte. Über elf Millionen Deutsche hatten bis Ende 2008 eine Riesterrente abgeschlossen.

KOMPAKT

· Verbrauchernahe Rechtstexte müssen verständlich sein, schreibt das Gesetz vor.

· Doch viele können die Paragrafen der Riesterrente nicht richtig deuten, wie eine Studie belegt.

· Nicht Schachtelsätze und Fachbegriffe erschweren das Verständnis, sondern ein undurchschaubarer Satzzusammenhang.

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Angelika Becker, Wolfgang Klein RECHT VERSTEHEN Wie Laien, Juristen und Versicherungs- agenten die „Riester-Rente” interpretieren Akademie Verlag, Berlin 2008, € 49,80

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