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Der Lärm wird bunt

Technik|Digitales

Der Lärm wird bunt
Um Anwohner vor Krach zu schützen, müssen die Ingenieure wissen, wie sich mögliche Maßnahmen zum Schallschutz auswirken. Mathematische Kniffe helfen ihnen dabei.

Erwin Hartog van Banda baut eine Fabrik – ganz auf die Schnelle, in nur drei Minuten. Der Experte vom niederländischen Ingenieurbüro DGMR in Den Haag tippt ein paar Befehle in seinen Laptop, und auf dem Bildschirm erscheint ein digitaler Stadtplan: „Ein Hafengebiet“, erklärt van Banda. „Wir wollen simulieren, wie sich der Lärm, den eine geplante Fabrik machen wird, auf die Umgebung auswirkt.“ Per Mausklick legt der Ingenieur die Größe des Gebäudes fest. Dann gibt er ein, welche Geräusche von der Fabrik ausgehen werden: Auf dem Dach brummt eine Kühlanlage, jede Viertelstunde kommen Lastwagen angefahren. Am Schluss startet van Banda die Simulation. Sekunden später zeigt der Rechner das Ergebnis: den Stadtplan in bunter Falschfarben-Darstellung. „Hier vorn, im roten Bereich, wird der Lärmpegel deutlich steigen“, analysiert der Lärm-Experte. „Doch hinter der Fabrik ist es grün, da dürfte es sogar leiser werden als vorher.“ Der Grund: Das Gebäude schirmt den Verkehrslärm einer mehrspurigen Straße ab.

Van Bandas Firma entwickelt Computerprogramme, mit denen sich Lärmkarten erstellen lassen – virtuelle Stadtpläne, die per Farbcodierung zeigen, wie laut es in jeder Straße und auf jedem Platz ist. Für Behörden, Lärmschützer und Stadtplaner sind die Karten ein nützliches Werkzeug: Sie können detailliert analysieren, wo es zu laut ist und ob womöglich Grenzwerte überschritten werden. Außerdem kann die Software simulieren, wie sich zusätzliche Lärmquellen – zum Beispiel die neue Fabrik im Hafen – auswirken oder ob sich der Bau einer Lärmschutzwand an einer Hauptstraße lohnt.

mathe gibt Schützenhilfe

Um Lärmkarten von Städten, Regionen oder ganzen Ländern zu erstellen, wären eigentlich Abermillionen von Messungen nötig: An jeder Straßenecke müssten Mikrofone stehen und monatelang den Schallpegel erfassen – viel zu aufwendig und zu teuer für die Praxis. Doch die Fachleute bekommen Unterstützung von der Mathematik. Mit ihrer Hilfe lassen sich detaillierte Lärmkarten zeichnen, ohne mit Mikrofonen und Rekordern ausrücken zu müssen.

Dazu müssen die Experten zunächst wissen, wie laut eine bestimmte Schallquelle grundsätzlich ist, etwa ein Auto auf einer Bundesstraße. Dafür greifen sie auf riesige Datenbanken zurück, bestückt mit unzähligen Messwerten. Systematisch ist darin festgehalten, wie viel Schall unterschiedliche Lärmquellen in verschiedensten Situationen erzeugen – etwa ein Auto auf einer Asphaltfahrbahn bei Tempo 80. „Sobald ich weiß, wie laut ein einzelner Pkw auf einem bestimmten Straßenbelag ist, kann ich problemlos ausrechnen, welchen Lärm zwei, vier oder Hunderte von Autos machen“, sagt Christian Popp, Geschäftsführer des Hamburger Beratungsbüros Lärmkontor. Als nächstes müssen die Fachleute herausfinden, wie viel Verkehr im Schnitt über eine bestimmte Straße rollt, wie hoch der Lkw-Anteil ist und wie schnell die Fahrzeuge im Mittel unterwegs sind. Auch dafür liegen Zahlen vor: In schöner Regelmäßigkeit erfassen Verkehrsplaner, auf welchen Straßen was los ist und wer wann wie schnell fährt. Mathematisch gesehen liefert die Datenbank eine riesige Punktewolke aus einzelnen Schallpegeln. Für nahezu jede Situation – etwa für einen Bundesstraßen-Abschnitt mit Asphaltbelag, Tempo-80-Limit und mit einem täglichen Verkehrsaufkommen von 20 000 Fahrzeugen – lässt sich eine passende Kurve finden. Sie beschreibt hinlänglich genau, welchen Schallpegel die Fahrzeuge auf dieser Bundesstraße generieren. Ganz ähnlich funktioniert das Verfahren auch für andere Arten von Quellen – für Züge, Flugzeuge oder Fabriken.

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Doch damit ist noch nicht gesagt, welchen Lärm die Anwohner tatsächlich erdulden müssen. Das nämlich hängt nicht nur von den Schallquellen ab, also den vorbeibrausenden Autos und Lastern. Ebenso wichtig sind andere Parameter: Wie weit ist ein Haus von der Fahrbahn entfernt? Stehen auf der anderen Straßenseite Gebäude, die den Lärm gleich einer Felswand reflektieren und verstärken? Oder gibt es zwischen Straße und Wohnhaus eine Lärmschutzwand, die einen Großteil des Schalls abschirmt? Um solche Fragen zu beantworten, integrieren die Experten in ihre Software einen digitalen Stadtplan. Dieser Plan ist quasi dreidimensional – er umfasst nicht nur die exakte Lage der Gebäude, sondern auch ihre Höhe. Dann kann die Simulation beginnen: Mit den Methoden der Geometrie errechnet die Software, wie sich der Schall von der Straße in alle Richtungen ausbreitet, mit zunehmender Entfernung abnimmt und an Fassaden und Häuserschluchten reflektiert wird. „Ray Tracing“ nennen Fachleute das Verfahren. Angewandt wird es nicht nur in der Akustik, sondern auch beim Berechnen fotorealistischer 3D-Computergrafiken.

Die Programme berücksichtigen, dass ein gewisser Teil des Schalls von den Wänden absorbiert, also verschluckt wird. Die Experten können auch eingeben, ob es sich bei der Gebäudefront um einen stark reflektierenden Glaspalast handelt oder um eine kurvenreich-verspielte und damit schallschluckende Jugendstil-Fassade. In der Regel behandelt die Software den Schall als simple Strahlen, die sich geradlinig ausbreiten. An Häuserecken und Dachkanten jedoch macht sich der Wellencharakter des Schalls bemerkbar. Dort wird das Signal gebeugt und kann um die Ecke laufen. Auch das vermag die Lärmkarten-Software ansatzweise zu simulieren.

Schlafen bei gekippten Fenstern

Die Wetterverhältnisse spielen ebenfalls eine Rolle. „In unseren Simulationen gehen wir davon aus, dass der Wind ungünstig steht und den Schall von der Quelle zu dem Ort trägt, an dem wir die Lärmbelästigung ermitteln wollen“, sagt Christian Popp. Auch die Schichtung der Atmosphäre findet in den Modellen Eingang: So kann sich im Sommer der Lärm einer Autobahn in den frühen Morgenstunden kilometerweit ausbreiten, wenn ihn die Luftschichten bei einer Inversions-Wetterlage reflektieren. Die Software errechnet die jeweiligen Schallpegel für ein Raster von typischerweise zehn Metern. Anschließend übersetzt sie die Pegel in Farben und färbt die digitale Landkarte entsprechend ein. Grün bedeutet, dass das Schlafen bei gekippten Fenstern möglich ist. Rot dagegen signalisiert, dass der Lärm die Gesundheit gefährden könnte und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt.

Im Oktober 2009 veröffentlichte die Europäische Umweltagentur eine erste umfassende Lärmkarte des ganzen Kontinents. Damit kam sie einer Forderung der EU nach, die in ihrer 2002 verabschiedeten Umgebungslärm-Richtlinie eine allgemeine Bestandsaufnahme vorgeschrieben hatte. Eine detaillierte Europakarte des Lärms sollte verraten, wo es zu laut ist und an welchen Stellen Handlungsbedarf besteht.

Datenwirrwarr in Europa

Das Problem: Die Karte der Umweltagentur ist alles andere als perfekt. „Zum Teil nutzen die EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Verfahren, um Lärmpegel zu berechnen“, sagt Popp. „Offenbar haben sie abweichende Auffassungen darüber, wie laut ein Pkw ist und welchen Einfluss Straßenbeläge haben.“ Daher sind Lärmkarten aus den verschiedenen Ländern nicht direkt vergleichbar. Und bis eine einheitliche Lärmkarte vorliegt, werden noch Jahre vergehen. Immerhin gibt es verlässliche Simulationen für einzelne Regionen und Städte. Mit ihnen lässt sich prognostizieren, welchen Einfluss es hat, wenn eine Straße für Lkw gesperrt oder ein Tempolimit eingeführt wird.

Christian Popp deutet auf den Bildschirm seines PC: Er zeigt den Stadtplan-Ausschnitt eines Hamburger Vorortes, durch den eine vierspurige Autobahn verläuft. Die Straße ist laut, der Rechner hat sie puterrot eingefärbt. Popp greift zur Maus: „Nun wollen wir mal die Verkehrsmenge halbieren“, sagt er. Sofort ändert sich das Bild, einige Areale springen von rot auf gelb. „Jetzt vermindern wir die zulässige Geschwindigkeit von 70 auf 50.“ Noch mehr Areale werden gelb, manche sogar grün. „Und zum Schluss statten wir die Straße mit einem offenporigen Flüster-Asphalt aus“ , verkündet Popp. „Das bringt acht Dezibel Lärmreduktion!“ Immer mehr Flächen färben sich grün – angenehm für die Anwohner und die Besucher eines naheliegenden Parks.

Solche Simulationen sind aufwendig, denn manchmal müssen Hunderte Prozessoren gleichzeitig wochenlang rechnen. Um in Echtzeit die Wirkung von Lärmschutzmaßnahmen vorführen zu können, arbeiten die Lärmkontor-Experten deshalb mit vorberechneten Bausteinen. Und sie verknüpfen ihre Lärmkarten mit Informationen zum Beispiel über Bevölkerungsdichte und Immobilienpreisen. Damit lässt sich abschätzen, wie viele Anwohner unter einer lauten Kreuzung leiden oder wie sich die Mietkosten entwickeln könnten, sollte ein Straßenzug verkehrsberuhigt werden.

Allerdings bemängeln Kritiker, dass es mit bunten Karten allein nicht getan sei. „Die Lärmkarten der Zukunft müssen hörbar sein“, sagt Michael Vorländer, Leiter des Instituts für Technische Akustik der RWTH Aachen. „Ein Stadtplaner kann die Wirkung einer Schallschutzwand viel besser nachvollziehen, wenn er sie hört, statt nur auf eine farbcodierte Karte zu schauen.“ Vorländer arbeitet an einer Software, die Lärm akustisch nachahmt. „Auralisation“ heißt das Verfahren. „Es ist vergleichbar mit der Visualisierung“, sagt der Experte. „Nur dass wir die Computerdaten nicht per Bildschirm sichtbar machen, sondern mit Kopfhörern oder Lautsprechern hörbar.“

Das Ohr lässt sich nicht täuschen

Ausgangspunkt für die Simulation der Schallausbreitung sind per Mikrofon aufgenommene Lärmsignale wie das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Dieses Signal muss in die virtuelle Umgebung eingepasst werden – zum Beispiel ein Gewerbegebiet mit diversen Hallen und Büroklötzen, die den Zuglärm mannigfach reflektieren. Mathematisch geschieht die Überlagerung von direktem Signal und indirekten Reflexionen per Fourieranalyse: Der Rechner zerlegt die Schallsignale in Sinuswellen, um diese dann miteinander zu verknüpfen – Fachleute sprechen von einer Faltung. „Die Mathematik dahinter ist zwar einfach“, sagt Vorländer. „Aber da das menschliche Ohr extrem empfindlich ist und selbst kleinste Fehler als Verfälschung empfindet, müssen wir sehr präzise arbeiten.“ Das Problem: Wie stark ein Material den Schall schluckt oder zurückwirft, lässt sich meist nur abschätzen. So werden Lärmschutzwände mit der Zeit immer schmutziger, was ihrem Absorptionsvermögen schadet. Macken und Risse in Fassaden führen dazu, dass der Schall gestreut und gebeugt wird. Das aber lässt sich bisher nur ansatzweise simulieren. Denn die Näherungsverfahren gelten nur für bestimmte Frequenzen und decken nicht das ganze Frequenzband des menschlichen Ohrs ab – den Bereich zwischen 20 und 20 000 Hertz.

Dennoch: Für viele Anwendungen funktioniert die Auralisation schon recht passabel. Doch bislang sind die Verfahren für die meisten Stadtplaner, Architekten und Ingenieurbüros noch zu aufwendig. „Das wird sich ändern“, ist Michael Vorländer überzeugt. „In einigen Jahren werden die Verfahren so günstig sein, dass man sie häufiger einsetzen kann.“ ■

Frank Grotelüschen wohnt an einer befahrenen Straße (rot), hat aber gute Fenster eingebaut (gelb). Der Balkon geht zum ruhigen Hinterhof (grün).

von Frank Grotelüschen

Kompakt

· Per Computer erstellte Lärmkarten zeigen auf einen Blick, wo es wie laut ist.

· Der Einfluss von Schutzwänden oder einer Geschwindigkeitsbegrenzung lässt sich per Mausklick sichtbar machen.

· Künftig sollen Lärmkarten hörbar sein.

Mehr zum Thema

Internet:

Homepage des Ingenieurbüros Lärmkontor mit Beispielen zur Lärmkartierung: www.laermkontor.de

Institut für Technische Akustik der RWTH Aachen: www.akustik.rwth-aachen.de

Bohren steht für Schmerz

Ist ein hoher Schallpegel gleichbedeutend mit Lärm, Herr Professor Fastl?

Beim gleichen Schallpegel kann die Lautstärke, die ein Mensch empfindet, sehr unterschiedlich sein. Das zeigt der Vergleich des Tons einer Flöte mit dem einer Orgel bei gleichem Schallpegel: Das Signal der Flöte ist schmalbandig, es umfasst also nur einen kleinen Frequenzbereich, während der Orgelton viele Frequenzen enthält. Daher halten wir die Orgel für dreimal so laut wie die Flöte.

Und was empfindet man als Lärm?

Dabei spielt eine Rolle, dass das Gehör für verschiedene Frequenzen unterschiedlich sensibel ist. Die meisten Menschen empfinden Signale mit vielen hohen Frequenzen als belästigend – etwa den Bohrer beim Zahnarzt oder eine Kreissäge.

Woran liegt das?

An der Physiologie des Hörens. Das Gehör ist bei Frequenzen um vier Kilohertz besonders sensibel. Unser Außenohr arbeitet wie ein Verstärker. Die Distanz vom Ohr bis zum Trommelfell beträgt rund 2,5 Zentimeter, sodass dieses Stück für Töne mit Frequenzen um vier Kilohertz wie ein Resonator wirkt. Psychologen bevorzugen eine andere Interpretation: Sie glauben, dass man bestimmte Signale als störend empfindet, weil man unangenehme Erfahrungen damit verbindet. So assoziieren viele Menschen das Geräusch des Bohrers beim Zahnarzt mit Schmerz.

Ist Lärmempfinden demnach vor allem eine psychologische Angelegenheit?

Das ist nicht zu unterschätzen. Ist das Verhältnis zweier Nachbarn gestört, reicht manchmal ein leises Geräusch von nebenan, um den anderen auf die Palme zu bringen. Dagegen findet jemand, der eine laute Maschine bedient und dafür eine Zulage erhält, das Gedröhn vielleicht gar nicht störend.

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