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DER HoHE PREIS DER HILFE

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

DER HoHE PREIS DER HILFE
Patienten bewerten Krebsmittel völlig anders als Ärzte. Ihre Sicht muss angemessen berücksichtigt werden, fordert der klinische Ökonom Franz Porzsolt. Franz Porzsolt Jahrgang 1946, hat 20 Jahre Erfahrung als Krebsmediziner, zuletzt als Geschäftsführender Oberarzt an der Medizinischen Klinik der Universität Ulm. Sein Interesse an wirtschaftlichen Fragen der Gesundheitsversorgung führte 1995 zur Gründung der Klinischen Ökonomik, die er seitdem leitet. Er lehrt als Professor an der Universität Ulm und ist überdies Gutachter für Sicherheitsfragen. Unter anderem beriet er die Internationale Atomenergiebehörde in Wien.

bild der wissenschaft: Herr Professor Porzsolt, im vergangenen Jahr erschien im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein Artikel mit dem Titel „Schlicht obszön“. Es ging um die Preise moderner Krebsmedikamente. Finden Sie, dass diese Medikamente obszön teuer sind?

Franz Porzsolt: Die Preise sind zweifellos hoch, daran gibt es nichts zu deuteln. Die Frage ist, ob man sie als obszön bewertet. Ein Arzneimittel für einen Menschen, der sich in einer extremen Notlage befindet, wird leicht als überteuert empfunden, weil die Notlage des Betreffenden ausgenutzt werden könnte, um einen höheren Preis zu erzielen. Auf der anderen Seite muss man sich vergegenwärtigen, dass pharmazeutische Unternehmen keine Wohltätigkeitsorganisationen sind. Es sind gewinnorientierte Unternehmen, die versuchen, den maximal auf dem Markt erreichbaren Preis zu erzielen. Und ich glaube, das kann man keinem Unternehmen vorwerfen.

Den hohen Kosten muss ein hoher Nutzen gegenüberstehen. Wie kann man denn den Nutzen eines Krebsmedikaments bemessen?

Ich bin der Überzeugung, dass ein Arzneimittel, das Krebspatienten angeboten wird, zwei Ziele verfolgt: Zum einen, ihr Gesundheitsproblem zu lindern oder zu beseitigen, zum anderen die Vermittlung von Hoffnung. Wir sind in unseren wissenschaftlichen Überlegungen noch nicht so weit, dass wir diese beiden Effekte voneinander trennen können. Bei schwerwiegenden Erkrankungen halte ich die Vermittlung einer positiven Perspektive übrigens für unabdingbar: Ich würde es als Kunstfehler bezeichnen, wenn ein Arzt sich weigerte, einem Patienten Hoffnung zu geben. Allerdings gerät man leicht in einen ethischen Konflikt, wenn ein Ungleichgewicht besteht zwischen der vermittelten Hoffnung und der Fähigkeit, ein Gesundheitsproblem auch tatsächlich zu lösen. In den nächsten zehn Jahren müssen wir eine vernünftige Balance finden.

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Wenn es um die Kosten geht, wird vor allem diskutiert, wie viel Zeit ein Patient gewinnt: Tage, Wochen, Monate oder Jahre. Aber wie will man als Arzt beurteilen, was dem Patienten diese Zeit wert ist?

Aus 20 Jahren klinischer Erfahrung als Onkologe kann ich Ihnen sagen, dass Patienten, die lebensbedrohlich erkrankt sind, den Wert einer Gesundheitsleistung ganz anders einschätzen als viele Ärzte.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Eine niederländische Psychologin hat Brustkrebspatientinnen untersucht, die eine Chemotherapie bekamen. Mit dieser Therapie waren sechs Monate Übelkeit, Erbrechen und Haarausfall verbunden, also definitiv eine verminderte Lebensqualität. Die Frage, die in diesem Projekt gestellt wurde, lautete: Welche Lebensverlängerung sollte erreicht werden, damit die Patientinnen diese sechsmonatige Belastung tolerieren? Ein Teil der Patientinnen hat darauf eine überraschende Antwort gegeben: Ihr Leben müsse sich gar nicht verlängern, sie seien schon zufrieden, wenn es sich nicht verkürze. Ich meine, man könnte diese Antwort so interpretieren: Es kommt den Patienten ganz wesentlich darauf an, Hilfe zu erhalten. Ihnen ist es wichtig, nicht allein gelassen zu werden. Wer will sich denn von uns Experten anmaßen zu sagen, dass zwei Monate Lebensverlängerung zu wenig und vier Monate ausreichend sind?

Haben andere Länder für die Bewertung des Nutzens von Krebsmedikamenten bessere Kriterien als Deutschland?

Die Bewertung des Nutzens von Gesundheitsleistungen steckt überall in den Kinderschuhen. In Großbritannien beispielsweise wird der QALY (quality-adjusted life years, übersetzt etwa: „nach der Lebensqualität bewertete Lebensjahre“) als Nutzen-Maß im Gesundheitswesen angewandt, und ich bin glücklich darüber, dass wir in Deutschland dieses Maß nicht akzeptieren. Allerdings bin ich nicht sehr glücklich über die Lösungen in Deutschland. Denn auch hier wird – etwa durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, der den Gesetzlichen Krankenkassen Richtlinien vorgibt – eine Fremdbewertung des Nutzens vorgenommen, und die Selbstbewertung durch den Patienten hat zu wenig Raum. Selbstverständlich kann die Bewertung nicht allein dem Patienten überlassen werden, wenn es um die solidarische Finanzierung von Gesundheitsleistungen geht. Aber seine Sicht sollte angemessen berücksichtigt werden.

Wie sollte denn der Preis eines Arzneimittels festgelegt werden?

Mich hat ein Vorschlag unseres Wirtschaftsministers Brüderle begeistert, den er kürzlich in Zusammenhang mit dem Benzinpreis gemacht hat: Er schlug vor, dass Aldi und Lidl Tankstellen eröffnen sollten. Ich bin ein absoluter Verfechter des Marktes und möchte keine Preisbindung verordnen. Ich bin für einen fairen Wettbewerb.

Und bisher ist er nicht fair?

Meiner Meinung nach hat es keine ernsthaften Bemühungen der Politik gegeben, den Wettbewerb zu stärken und mehr Konkurrenz zuzulassen. Deutschland gehört zu den wenigen Ländern auf der Welt, in denen der Hersteller eines Arzneimittels den Preis für sein Produkt selbst festlegen kann. Ich denke nicht, dass das eine glückliche Lösung ist. Auf der anderen Seite plädiere ich dafür: Wer ein gutes Produkt auf den Markt bringt, soll auch einen guten Preis dafür bekommen.

Können denn solche teuren Medikamente auf Dauer von den Krankenversicherungen finanziert werden?

Ich glaube, unser Gesundheitssystem macht einen erheblichen Fehler: Wir haben bisher kein Verfahren, um eine Innovation einerseits fair zu entlohnen, auf der anderen Seite aber mit hinreichend stringenten Maßnahmen den Nachweis der versprochenen Wirksamkeit einzufordern.

Wie könnte das gehen?

Ich plädiere dafür, dass ein neues Arzneimittel Vorschusslorbeeren bekommt, damit es eingeführt werden kann. Dass aber mit der Einführung eine Phase des Nachweises beginnt, in der gezeigt werden muss, dass die vorhergesagten Erfolge tatsächlich eintreten. Das geschieht bisher nur unzureichend.

Also nicht nur vor der Zulassung testen, sondern auch danach?

Genau. Wir brauchen künftig zwei verschiedene Arten von Studien: sogenannte explanatorische Studien, in denen untersucht wird, ob ein neues Arzneimittel besser ist als ein vergleichbares Mittel. Wenn das unter idealen Studienbedingungen gezeigt wurde, muss in pragmatischen Studien nachgewiesen werden, dass der vorhergesagte Effekt unter Alltagsbedingungen tatsächlich auftritt.

Würde eine zusätzliche zweite Testphase die Medikamente nicht noch teurer machen?

Nein. Ich glaube, dass ein Großteil der Arzneimittel, die in den explanatorischen Studien erfolgversprechende Ergebnisse liefern, sich im Alltag nicht bewähren werden. Ich kann mir aber genauso gut den umgekehrten Effekt vorstellen: bessere Effekte unter Alltagsbedingungen als im Test.

Das wahre Potenzial soll sich also in der Praxis zeigen. Eine andere Frage: Sind es denn wirklich die Kosten, die den Fortschritt in der Krebsmedizin aufhalten?

Ich glaube, dass es eindeutig nicht die Kosten sind, sondern die unzureichende Auswahl der wirksamen Prinzipien. Das Mitschleppen von Ballast ist das größte Hindernis für den Fortschritt im Gesundheitswesen. Wenn es gelänge, die 80 oder 90 Prozent der Produkte, die sich mittelfristig nicht als nützlich erweisen, frühzeitig zu eliminieren, aber gleichzeitig die Firmen zu unterstützen, Innovationen zu entwickeln, dann wäre das für die Firmen ein Nullsummenspiel, aber für die Gesellschaft ein deutlicher Fortschritt. ■

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