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Das Undenkbare ist geschehen

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Das Undenkbare ist geschehen

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie in Zukunft sehr(!) kritische Artikel über die Kernforschung im Allgemeinen und über die Kernenergie im Besonderen bringen werden. Mein Interesse an Jubelbeiträgen, betreffend CERN, Bosonen, Quarks usw. ist auf dem Nullpunkt angelangt. Ob ich Ihre Zeitschrift weiter abonniere, ist fraglich.“ Die Botschaft eines Lesers aus Österreich erreichte unsere Redaktion am 16. März, also fünf Tage nach der Naturkatastrophe in Japan, die wohl 26 000 Menschen das Leben kostete (Stand 24. März: 9700 Tote, 16 500 Vermisste) und in deren Folge sich eine der größten Technikkatastrophen aller Zeiten entwickelte.

Blicke ich auf die Hauptbeiträge der vergangenen 50 Ausgaben zurück, so zeigt sich, dass bild der wissenschaft darin über die Zukunft der Kernenergie nur selten berichtet hat – und wenn, dann bestimmt nicht jubilierend. Dennoch gebe ich zu: Ich hätte es nie für möglich gehalten, nach Tschernobyl noch einmal eine Atomkatastrophe erleben zu müssen. Ich habe den Aussagen jener geglaubt, die die „friedliche“ Nutzung der Kernenergie als beherrschbar einstuften. Offensichtlich war ich da zu vertrauensselig. Aber ich vertraue auch einem Busfahrer, dass er mich heil heimbringt, einem Piloten, dass er mich sicher in den Urlaub fliegt, einem Chirurgen, dass er mich am kranken Bein operiert und nicht am gesunden.

Nachdem das Ausmaß der Probleme beim japanischen Reaktorkomplex Fukushima in vollem Umfang bekannt geworden war, dauerte es in Deutschland nur wenige Stunden, ehe dieselben Politiker, die die Restlaufzeiten der Reaktorblöcke vor Kurzem noch verlängert hatten, eine Trendumkehr beschlossen. Mit Neckarwestheim 1 wurde der erste Reaktor flugs und endgültig abgeschaltet – nachdem man diesen Schritt zuvor jahrelang ab-gelehnt hatte.

Wie kann und muss sich eine Katastrophe wie die in Japan, wie muss sich eine solche Trendwende in bild der wissenschaft niederschlagen? Auf vielen Sonderseiten? In der abermaligen Betrachtung des Bekannten – nach dem Motto: Es ist vieles gesagt, aber nicht von uns? Es gibt ja praktisch keinen Aspekt, der nicht in diesem oder jenem Medium behandelt worden wäre. Wir haben uns so entschieden: Ab dem 15. März berichtete die Geophysikerin und langjährige bdw-Autorin Ute Kehse in unserem Internetportal wissenschaft.de in einem täglichen Japan-Blog über die Auswirkungen des Erdbebens, des Tsunamis und der Reaktorkatastrophe. Sie korrespondierte dazu mit führenden Wissenschaftlern und fokussierte tagesaktuell brisante Themen wie die tatsächliche Erdbebengefahr deutscher Kernkraftwerke, die Kühlproblematik von havarierten Kernkraftwerken und vieles mehr. Auf diese Weise beleuchteten wir ausgewählte Themen aktuell und oft tiefschürfender als andere Medien.

Doch was ist mit dem bdw-Heft? Wie können wir da reagieren in einer Zeit, in der sich ständig Neues offenbart – und bereits einen Tag später die Nachrichten vom Vortag Makulatur sein können – wohl wissend, dass nach der Imprimatur der Beiträge noch bis zu drei Wochen vergehen, ehe die Hefte beim Leser ausgeliefert sind? Zunächst einmal reagieren wir dadurch, dass das Editorial dieser Ausgabe als markanter Doppelseiter erscheint. Ein doppelseitiges Editorial gab es bei bild der wissenschaft letztmals beim Tod unseres Gründungsherausgebers Prof. Heinz Haber.

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bild der wissenschaft fokussiert sich seit Jahrzehnten erfolgreich auf das, was sich an wissenschaftlichen Entwicklungen abzeichnet und was an technologischen Herausforderungen auf uns zukommt. Leben in Deutschland ohne Strom aus Kernenergie – wie sähe das aus? In welchen Zeiträumen ist ein Umsteuern möglich? Wie packen wir die seit Jahren umgangene Endlagerung radioaktiver Substanzen endgültig an? Wie verändert sich das Leitungsnetz durch regenerative Stromerzeugung? Zu solchen Fragen erhalten Sie in den kommenden Ausgaben gut durchdachte Antworten. Beginnen werden wir mit einem großen Bericht über die atomare Endlagerung. Denn wenn nicht jetzt, wann dann lösen wir dieses Problem?

Insofern hoffen wir den Leser aus Österreich nicht zu enttäuschen. In anderer Hinsicht aber vielleicht doch. Denn die Beiträge etwa zur physikalischen Grundlagenforschung werden wir keinesfalls zurückfahren, wie gerade dieses Heft beweist. Wer sich mitteilen will, muss die Wörter, muss die Grammatik einer Sprache kennen. Wer über die Energieversorgung der Zukunft sprechen will, braucht darüber hinaus physikalisches Grundwissen – wie Nobelpreisträger Theodor W. Hänsch im bdw-Interview erklärt, das wir bereits vor der Japankatastrophe geführt haben (ab Seite 42).

Gut eine Woche nachdem die Katastrophe in Japan begann, sprach ich mit einem mir seit Jahren vertrauten Energiewissenschaftler und befragte ihn nach seinen aktuellen Eindrücken. Der Wissenschaftler erklärte, keiner der ihm bekannten Experten hätte ein solches Unglück je erwartet: die Stärke des Erdbebens nicht, die Höhe des Tsunamis nicht – und auch nicht, dass die Reaktorkühlungen zusammenbrechen. Er berichtete mir von den jungen Wissenschaftlern an seinem Institut, die in den Tagen nach dem Reaktorunglück grau im Gesicht und schrecklich getroffen waren von dem, was in Japan geschah. Auch er selbst sei gerade dabei, seine bisher gute Meinung über die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke zu verändern, „was, wenn die Folgen eines Erdbebens auch bei uns schlimmer wären, als von den Bebenforschern prognostiziert?“

In anderen Ländern wird Fukushima die Einstellung zur Kernenergie wohl ebenfalls verändern. International tätige Banken werden es sich zweimal überlegen, ob sie Kredite vergeben für atemberaubend teure Technik, die von Naturereignissen hinweggerafft werden kann. Aktuell braucht der japanische KW-Betreiber Tepco erst einmal einen Notkredit von gut 17 Milliarden Euro. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa, Japan und sicher auch in den USA werden sich gegen Konzerne zur Wehr setzen, die neue Kernkraftwerke bauen wollen – etwa indem sie zu Unternehmen wechseln, die ihnen grünen Strom anbieten. So verliert die Kernkraft Kunden und die nukleare Stromerzeugung ihre Geschäftsgrundlage.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Ko|lo|bom  〈n. 11; Med.〉 angeborene od. erworbene Spaltbildung, z. B. Lücke der Iris, der Linse od. des Lides [<grch. koloboun … mehr

Zö|les|tin  〈m. 1; Min.〉 farbloses, perlmutterartig glänzendes Mineral [→ zölestisch … mehr

Chal|ze|don  〈[kal–] m. 1; Min.〉 ein Quarzmineral; oV Chalcedon … mehr

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