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Giftmüll im Fegefeuer

Allgemein

Giftmüll im Fegefeuer
Flüssiges Metall kann die umstrittene Sondermüll-Verbrennung ablösen. Giftmüll will jeder loswerden – eine Verbrennungsanlage in der Nachbarschaft will keiner. Doch es gibt eine vielversprechende Alternative. Amerikanische Ingenieure entwickelten den CEP-Reaktor: In weißglühender Schmelze lösen sich Schadstoffe – und Entsorgungsprobleme.

Wo gibt’s denn so was: Eine Organisation für Umweltschutz begrüßt ausdrücklich den Bau einer chemisch-technischen Großanlage. Aber in Texas passieren nun mal die unglaublichsten Dinge.

„Mit Priorität behandeln!“ So lautete das Ergebnis des Gutachtens, das die Texas Natural Resource Conservation Commission gestellt hatte. Es ging um ein Anlagenprojekt auf dem Gelände der Hoechst Celanese Corporation in Bay City. Pam Reed, Sprecherin der staatlichen Kommission für Ressourcenschonung, fand dafür nur Lobesworte: „Wir unterstützen innovative Technologien, mit denen Abfallstoffe recycelt und in die Produktion zurückgeführt werden.“

Im Februar 1997 nimmt die gelobte Anlage den Probebetrieb auf – die weltweit erste großtechnische Installation dieser Art. Bob Pennington, Betriebsleiter des Werks in Bay City, kommentiert: „Wir führen die chemische Industrie in eine neue Ära der Abfallbehandlung.“

Die amerikanische Tochter des Hoechst-Konzerns will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: ihr Abfallproblem lösen und ihre Rohstoffbasis erweitern. Bis zu 24000 Jahrestonnen an Produktionsrückständen – darunter Chlorkohlenwasserstoffe und Klärschlamm – sollen sich künftig in der 37 Millionen Mark teuren „HycoCEP“- Anlage in Synthesegas, Chlorwasserstoffgas und nutzbare Feststoffe verwandeln.

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Das Synthesegas, bestehend aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff, strömt aus der Aufarbeitungsanlage zurück in die chemische Produktion: Es reagiert in Gegenwart eines Katalysators mit ungesättigten Kohlenwasserstoffen zu Alkoholen und Säuren. Das sind Grundstoffe für Waschmittel, Kosmetika und anderes mehr. Auch der Chlorwasserstoff findet, in Wasser gelöst, als Salzsäure seine Abnehmer im Betrieb.

Besonderes Plus: Schädliche Emissionen bleiben aus. Da keine Verbrennung im Spiel ist, bilden sich weder Schwefel- noch Stickoxide. Genausowenig entsteht Dioxin-beladener Ruß. Das US-Umweltbundesamt EPA hat das neue Verfahren mit dem begehrten Prädikat „beste verfügbare Technologie“ ausgezeichnet.

So stolz die Chemiewerker in Bay City auf ihre Errungenschaft auch sind – einen kleinen Makel hat die Sache für jeden echten Texaner: Yankees aus dem Norden haben das Ganze erdacht. In einem Industriegebiet am Stadtrand von Fall River, Massachusetts, wurden die ersten großen Reaktoren dieser Art errichtet: im Forschungs- und Entwicklungszentrum der „Molten Metal Technology“. 1989 durch eine Handvoll Ingenieure von MIT und Harvard University gegründet, ist das in Waltham bei Boston firmierende Unternehmen rasch aus den Kinderschuhen herausgewachsen. 1995 verzeichnete es einen Jahresumsatz von umgerechnet 66 Millionen Mark bei 420 Mitarbeitern.

Einer davon ist Joe Hayden – als „Director of Training and Standards“ für die Ausbildung im Unternehmen zuständig, ebenso wie für den ordnungsgemäßen Umgang mit der komplexen, 25 Millionen Dollar teuren Technik im Fall- River-Entwicklungszentrum. Stolz zeigt er bei einem Rundgang, was das Know-how der jungen Firma ausmacht.

„Das ist unsere größte Pilotanlage“, brüllt Hayden gegen den Kompressorenlärm an und weist nach vorne. Da türmt sich ein Technik-Koloß bis unter die Hallendecke: Gestänge, Rohrbündel, Meßstellen, Zwischenböden – und mittendrin ein metallisch glänzender Reaktor.

„Bis zu zwei Tonnen Abfall stündlich können wir hier verarbeiten“, erklärt der schnauzbärtige Verfahrenstechniker beim Gang um die Anlage. Aus der Nähe erinnert das Reaktorgefäß mit seinen klobigen Verschraubungen an die Druckkapsel eines Tauchbootes. Auf halber Höhe sind zwei Mitarbeiter an einer Klappe in der Wandung am Werk – mit Gesichtsschutz, in silbrig reflektierenden Asbestanzügen. Hier wird mit heißem Stoff hantiert.

Container voller Elektronikschrott und Kunststoffabfällen warten darauf, an den silbrigen Abfallfresser verfüttert zu werden – desgleichen Dutzende von grellfarbig gestrichenen, fest verschlossenen Tonnen: giftiger Sondermüll. Von Dioxin-belasteter Flugasche aus Verbrennungsanlagen bis zu Produktionsrückständen aus der chemischen Industrie: Alles mögliche an üblem Zeug hätten sie schon in Tests durch die Reaktoren gejagt, sagt Hayden gleichmütig.

Im benachbarten Technikumsraum ist ein kleinerer Bruder des Reaktors in Betrieb: ein Testlauf mit verseuchter Erde. Sauerstoff und mehrheitlich aus Methan bestehendes Erdgas sind notwendige Zutaten des gewünschten Abbauprozesses. Auf fast Schallgeschwindigkeit beschleunigen Kompressoren diese gasförmigen Reaktionspartner und blasen sie unter sechsfachem Atmosphärendruck in den stählernen Behälter. 2,5 Pfund der giftigen Krume können so pro Minute entsorgt werden – pro Tag 3,5 Tonnen.

Das Funktionsprinzip ist auch dieser Anlage nicht anzusehen. Einen Hinweis gibt immerhin der Firmenname Molten Metal Technology (MMT) – er ist sozusagen Programm. Denn den müllverdauenden Reaktoren ist ein Merkmal gemeinsam: ein Herz aus weißglühendem, geschmolzenem Metall.

Durch eine Bodendüse werden die Reaktionspartner direkt in das flüssige Metall eingeblasen. 1300 bis 1800 Grad Celsius herrschen in dem Bad aus – meist – Eisen oder Nickel im unteren Drittel des Reaktors. Vier Tonnen Metall faßt der größte Reaktor in Fall River. Darauf schwimmt, weil spezifisch leichter, eine Schicht aus flüssiger Schlacke. Darüber wiederum steht Gas, das aus der Schmelze sprudelt und den Reaktor in einer Rohrleitung verläßt.

Ob fester, flüssiger oder gasförmiger Abfall: Das höllisch heiße Bad zerlegt die zugeführte Materie – egal, ob sie kristallin oder aus organischen Molekülen aufgebaut ist. Nicht nur wegen der hohen Temperatur: Geschmolzenes Eisen verfügt, ebenso wie Nickel und Kupfer, über katalytische Eigenschaften.

Das flüssige Metall ist ein gutes Lösungsmittel für Kohlenstoff. Ob Kunststoffschnitzel oder Pestizide darin gebadet werden: Die Kohlenstoff-Atome im Abfall werden geradezu aus ihrem angestammten Molekülverband herausgesaugt. Daher rührt auch das Kürzel „CEP“: „Catalytic Extraction Processing“. Angesichts des Extraktions- Effekts hat der Entdecker, der Stahlexperte Christopher Nagel, das Verfahren so genannt.

Durch Hitze und Kohlenstoff-Extrak-tion brechen die Abfallmoleküle wie Kartenhäuser in sich zusammen. Zu guter Letzt schwimmen nur noch einzelne Atome in der weißen Glut.

Unter ständiger Zugabe weiteren Abfalls wird nun in dosierter Menge Sauerstoff eingeblasen. Er verbindet sich mit den gelösten Kohlenstoff-Atomen zu Kohlenmonoxid (CO) und gast aus der Schmelze aus. Einige chemische Reaktionen im CEP-Reaktor sind „exotherm“: Es wird Wärme frei, die mit dazu beiträgt, daß das Metallbad flüssig bleibt. Steigt die Temperatur allzu sehr, sorgt das Einblasen von Dampf für Kühlung.

Der Wasserstoff aus dem Abfall löst sich relativ schlecht in der Schmelze und verläßt alsbald gasförmig das heiße Bad. So kommt als Produkt des CEP-Reaktors die CO/H2-Mischung zustande, die bei den Chemikern „Synthesegas“ heißt. Chlorhaltiger Sonderabfall – beispielsweise mit Anteilen an PCB, Chlorbenzol und Pestiziden – wird in einem Nickelbad „verarbeitet“: Das Element Chlor tritt dann als nutzbarer Chlorwasserstoff im Gasstrom zutage.

Weitere Zuschlagstoffe binden andere chemische Elemente aus dem Abfall: Schwefel beispielsweise wird durch Zugabe des Kalkminerals Kalzit als Kalziumsulfid gebunden und wandert in die ebenfalls flüssige Schlackenschicht auf dem Metall. Die Schlacke läßt sich seitlich am CEP-Reaktor abstechen und erstarrt dann zu einer glasartigen Keramik, die beispielsweise als hochwertiger Zuschlagstoff in die Zementproduktion wandert.

Zentrales Ziel der Bedienungsmannschaft ist es, durch richtiges Steuern der Stoffströme einen stationären Zustand zu erzielen: Weder die Zusammensetzung des Metallbades soll sich ändern noch die des Synthesegases, während Abfall und Prozeßgase im Dauerbetrieb, rund um die Uhr, im Reaktor verschwinden.

Reichern sich – je nach Art und Menge des Abfalls – weitere Metalle übermäßig in der Schmelze an, läßt man sie ab und transportiert die Legierung nach dem Erkalten ins nächste Hüttenwerk. Vor allem ein hoher Anteil des Wertstoffs Kupfer sorgt für interessierte Abnehmer.

Rohstoffe aus Sondermüll: Mit CEP ist den bislang gängigen Entsorgungsverfahren – Verbrennung, Vergasung und letztlich Deponierung der Rückstände – ein Konkurrent erwachsen.

Auch in den USA haben Reizthemen wie „Dioxin im Rauchgas“ und „NOx ist Ozon-Vorläufer“ die öffentliche Meinung gegen sämtliche Verbrennungs-Technologien aufgebracht. „Es ist heute hierzulande praktisch unmöglich, eine neue Verbrennungsanlage für Sondermüll zu bauen“, bezeugt Pati Moisé, Anwendungstechnikerin bei Molten Metal Technology. „Neun Verbrennungsanlagen wurden vom Kongreß genehmigt, um chemische Kampfstoffe zu beseitigen. Aber keine einzige ist bislang gebaut worden: Der öffentliche Druck ist zu groß.“

Das erhöht die Chancen der hauseigenen Technologie, ist Pati Moisé überzeugt: „MMT ist eine von drei Firmen, die Washington in der Endauswahl für geeignet hielt, um künftig chemische Waffen zu entsorgen.“

Mit radioaktivem Müll – kaum besser beleumundet als Sarin oder Senfgas – hat das junge Unternehmen bereits Pluspunkte gesammelt. Die Verfahrensvariante „Quantum-CEP“, bei der radioaktives Material in der Metall- und Keramikschicht um mindestens den Faktor 30 aufkonzentriert wird, ist bereits im Praxis-Einsatz:

Zusammen mit der Firma Westinghouse SEG errichtete MMT 1995 in Oak Ridge, Tennessee, eine Robot-Anlage zur Entsorgung von jährlich 3000 Tonnen verbrauchter Ionenaustauscher-Harze aus Kernkraftwerken.

Am gleichen Ort entstand 1995, diesmal in Kooperation mit dem Unternehmen Lockheed Martin, eine Aufarbeitungsanlage für radioaktive und andere gefährliche Abfälle.

Weitere Partnerschaften sind seitdem gefolgt: Mit den japanischen Unternehmen NKK Plant Engineering und Nichimen vereinbarte MMT für die kommenden zehn Jahre den gemeinsamen Bau von 40 CEP-Anlagen in Japan. Der Problemmüll ist in diesem Fall Flugasche aus der Müllverbrennung, für die das Inselreich aus Platzmangel keinen neuen Deponieraum mehr bereitstellt.

Seit 1996 ist auch ein deutsches Unternehmen mit von der Partie. Eine „strategische Allianz“ mit Molten Metal Technology gab die Dortmunder Firma Uhde GmbH bekannt.

Karsten Radtke, Uhde-Repräsentant bei MMT in den USA, unterstreicht den konkreten Charakter der Zusammenarbeit: „Kürzlich haben wir hier in Massachusetts ein fünfzehnköpfiges Ingenieur-Team aus vier Uhde-Standorten in Indien, Südafrika, Mexiko und Deutschland eingerichtet. Unser Unternehmen hat 75 Jahre Erfahrung in weltweitem Chemieanlagenbau – das stellt die Kommerzialisierung des CEP-Verfahrens auf ein solides Fundament.“

Für die nächsten vier Jahre vereinbarten die Partner den Bau von neun CEP-Anlagen außerhalb des MMT-Heimatmarktes USA. Die amerikanische Seite möchte vom Vertriebsnetz des deutschen Anlagenbauers profitieren. Die Motivlage der Dortmunder erläutert der Entwicklungsleiter des Uhde-Bereichs Umwelt- und Energietechnik, Dr. Christoph Lütge:

„Das CEP-Verfahren ist eine hervorragende Ergänzung unserer Verfahrenspalette in der Verbrennungs-, Vergasungs- und Gasreinigungstechnik. Diese Kombination von Entsorgung und stofflicher Wiederverwertung ist integrierte Umwelttechnik, wie sie sein sollte – besonders bei der Behandlung hochgiftiger Sonderabfälle, deren Beseitigung bisher besonders schwierig oder teuer ist.“

Beim Umweltbundesamt in Berlin stimmt man nicht in den Unternehmens-Jubel ein. Die zuständige Mitarbeiterin Gabriele Hoffmann hält CEP für „ein Verfahren unter vielen“, von dem noch nicht klar sei, ob es Vorteile gegenüber den Konkurrenten habe.

„Das Prinzip der Entsorgung in Metallbädern ist schon länger bekannt“, stellt sie fest. „Dieses Verfahren sollte jeweils auf einen bestimmten Abfalltyp zugeschnitten werden.“ Und sie fragt: „Wieviel Standzeit haben die Reaktoren, bevor sie ausgewechselt werden müssen? Solche Schmelzen sind sehr korrosiv und greifen die Wände der Reaktor-Auskleidung an.“ Beim MMT-Allianzpartner Uhde in Dortmund ist man indes optimistisch. „Die Diskussion dieser Fragen“, sagt Verfahrenstechnikerin Anke Schneider, „ist abgeschlossen. Ein Experte von unserer Konzernmutter Krupp-Hoesch hat dazu beigetragen, die Reaktor-Ausmauerung zu optimieren.“

Uhde-Mann Christoph Lütge hat keinen Zweifel daran, daß von den vereinbarten neun CEP-Reaktoren einige in Deutschland stehen werden. Man befinde sich mit mehreren Gesprächspartnern in Verhandlungen und habe gute Argumente: „Vom Umweltnutzen abgesehen – die CEP-Technologie senkt besonders bei Verbundlösungen den Einsatz von Primärrohstoffen und Energie, und damit auch die Kosten.“ Schon beim Bau schneide man günstiger ab. Dies zeige beispielsweise der Vergleich mit einer konventionellen Verbrennungsanlage für Rückstände aus der PVC-Produktion: „Eine gleich leistungsfähige CEP-Anlage“, schätzt Lütge, „wird um 25 bis 30 Prozent billiger.“

Infos im Internet Mehr über Molten Metal Technology: http://www.mmt.com/

Thorwald Ewe

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