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DER DUNKLE FLUSS

Allgemein

DER DUNKLE FLUSS
Myriaden von Galaxien bewegen sich in dieselbe Richtung. Wohin und warum ist ein großes Rätsel.

„Panta rhei“ – alles flieSSt. Vielleicht drücken diese auf Heraklit zurückgeführten Worte eine kosmische Wahrheit aus, die anders und viel umfassender ist, als es selbst die meisten Menschen des 21. Jahrhunderts ahnen. Denn falls einige amerikanische Astronomen mit ihrer wahrhaft mitreißenden Entdeckung Recht haben, fließt alles – zumindest im beobachtbaren Universum – auf ein mysteriöses Schwerkraftzentrum jenseits unseres kosmischen Horizonts zu. Das wäre eine der größten Entdeckungen aller Zeiten.

Millionen bis zu 2,5 Milliarden Lichtjahre ferne Galaxien, verteilt über den ganzen Himmel, streben mit rund 700 bis 1000 Kilometern pro Sekunde in dieselbe Richtung. Das hat Alexander Kashlinsky vom Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt, Maryland, herausgefunden – „zu seiner großen Überraschung“, wie er selbst sagt. Mit seinen Kollegen Dale Kocevski von der University of California in Davis, Harald Ebeling von der University of Hawaii und Fernando Atrio-Barandela von der Universität Salamanca in Spanien hatte er eine neue Methode eingesetzt, um die Geschwindigkeiten Hunderter von Galaxienhaufen zu messen. Die Forscher erwarteten, dass sich weiter entfernte Galaxienhaufen langsamer bewegen – und vor allem uneinheitlich nach dem Zufallsprinzip. Stattdessen mussten sie feststellen: Die Galaxienhaufen rasen wie von Geisterhand geführt in Richtung des Sternbilds Centaurus. Bislang lässt sich die Richtung nur auf eine etwa 20 Grad große Himmelsregion eingrenzen – das entspricht 40 Vollmond-Durchmessern. Kashlinsky hat die kosmische Strömung „ Dark Flow“ genannt. Was den Dunklen Fluss verursacht und wohin er zieht, ist ein großes Rätsel. Die Astronomen tappen hier wahrhaft im Dunkeln.

UNERWARTETE ÜBERRASCHUNG

Die ersten Hinweise hatten Kashlinsky und seine Kollegen im Oktober 2008 im renommierten Astrophysical Journal veröffentlicht. Das Echo war enorm, und die Zeitschrift Astronomy kürte diese Publikation letztes Jahr zu den Top-Ten-Entdeckungen 2008. Die Astronomen hatten die Daten von 700 bis zu 650 Millionen Lichtjahre fernen Röntgen-Galaxienhaufen und die dreijährigen Messungen der Raumsonde WMAP (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe) der Kosmischen Hintergrundstrahlung ausgewertet. Sie konnten ihre Ergebnisse erst selbst nicht glauben. „Wir haben unsere Resultate immer wieder überprüft, mehr als ein Jahr lang“, betont Kashlinsky.

Etliche Kollegen ließen sich allerdings nicht überzeugen. „ Diese Ergebnisse bedürfen einer unabhängigen Bestätigung. Ich habe einige Zweifel daran“, meinte beispielsweise David Spergel von der Princeton University. Und WMAP-Chefwissenschaftler Charles L. Bennett von der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, hält die Daten bis heute nicht für signifikant. Auch Ryan Keisler von der University of Chicago konnte in einer noch unpublizierten Arbeit den Dark Flow nicht verifizieren. Allerdings hatte er weniger Galaxienhaufen analysiert und die Daten ungenauer ausgewertet, kritisieren Kashlinsky und seine Kollegen in einem ebenfalls noch nicht gedruckten Fachartikel. Inzwischen haben sie mögliche systematische Fehler in den Daten genauer abgeschätzt. Die statistische Signifikanz dafür, dass der Dunkle Fluss real ist, beträgt nun über 99,95 Prozent. Auch ist es jetzt möglich, den sogenannten SZ-Effekt in der Kosmischen Hintergrundstrahlung genauer zu charakterisieren, auf dem die Messungen des Dunklen Flusses beruhen (siehe Kasten „Spuren im ersten Licht“). So können die Forscher jetzt den thermischen und den kinetischen SZ-Effekt klar unterscheiden, auch für vier Teilgruppen der Galaxienhaufen bei ähnlicher Distanz, und mit den Röntgenhelligkeiten korrelieren.

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Das spricht gegen die Möglichkeit, dass ein anderer Effekt die Astronomen foppt. Außerdem haben die Forscher nun auch präzisere Daten der Hintergrundstrahlung analysiert – basierend auf den fünfjährigen WMAP-Messungen – und weite- re Galaxienhaufen berücksichtigt: Mittlerweile sind es über 1000, wie Ende März im Astrophysical Journal berichtetet. Der Dunkle Fluss aber verschwand nicht, sondern zeigte sich sogar deutlicher. Freilich ist das letzte Wort dazu noch nicht gesprochen.

Zum einem sind mehr und bessere Röntgen-Daten nötig. „Wir müssen auch genauer wissen, wie das heiße Gas in den Galaxienhaufen verteilt ist“, sagt Atrio-Barandela. Er setzt auf die unermüdlich messen-den Röntgensatelliten Chandra und XMM-Newton. „Wir werden unseren gesamten Katalog genauer analysieren, das dauert noch ein bis zwei Jahre. Und wir brauchen mehr und fernere Cluster-Daten“, ergänzt Kashlinsky. Die bestehenden systematischen Unsicherheiten schätzt er auf 30 Prozent. Außerdem muss der kinematische SZ-Effekt bei unterschiedlichen Frequenzen der Hintergrundstrahlung erfasst werden. Das geschieht bereits: Seit August 2009 kartiert der europäische Planck-Satellit das Restlicht des Urknalls mit höchster Präzision. Vor allem die Messungen bei 217 Gigahertz sollen der geheimnisvollen Strömung im All auf den Grund gehen. Die ersten Daten sind voraussichtlich 2012 ausgewertet.

GEHEIMNIS HINTER DEM HORIZONT

Noch weiß niemand, was den Dunklen Fluss anzieht. Natürlich kann man viel spekulieren – über kosmische Mahlströme, exotische Gravitationsfallen im Raum oder sogar Kollisionsfronten zwischen verschiedenen Universen. Fest steht: Die mysteriöse Schwerkraftquelle muss sich weit jenseits unseres kosmischen Beobachtungshorizonts befinden, der gut 45 Milliarden Lichtjahre entfernt ist – vielleicht 500 Mal so weit, schätzen die Forscher. Im beobachtbaren All gibt es keine solche gigantische Materie-Ansammlung. Und wenn das kosmologische Standardmodell richtig ist, dürfte sie auch gar nicht entstanden sein. „Da wir uns auf Messungen konzentrieren, versuchen wir uns mit Erklärungen zurückzuhalten“, sagt Kashlinsky. „Aber wir sind scharf darauf, die Messungen so präzise wie möglich zu machen, um verschiedene Hypothesen überprüfen zu können.“

Vielleicht war das sehr frühe Universum extrem inhomogen, und etliche Irregularitäten konnten auch nicht von der Kosmischen Inflation ausgebügelt werden. Diese hypothetische quasi-überlichtschnelle Ausdehnung des Weltraums in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall hat das beobachtbare Universum gleichsam geglättet und im geometrischen Sinn „flach“ und groß gemacht – ähnlich wie man ein zusammengeknülltes feuchtes T-Shirt auseinanderzieht, um sich die Prozedur des Bügelns zu sparen. Die Kosmische Inflation sollte eigentlich viel weiter reichen. Doch vielleicht stockte sie, oder es kam an manchen Orten zu Störungen. Michael Turner von der University of Chicago hatte bereits 1991 spekuliert, dass es jenseits unseres kosmischen Horizonts überdichte Masse-Konzentrationen geben könnte. „Dieser Vorschlag wurde damals als sehr exotisch angesehen“, sagt Kashlinsky, sieht darin nun aber einen guten Erklärungsansatz: „Der Dark Flow könnte uns einen Weg eröffnen, den Zustand des Kosmos vor der Inflation zu erkunden. Das hätte weitreichende Folgen für unser Verständnis von der globalen Struktur der Raumzeit und von unserem Platz im All.“

EIN ZERKNITTERTES UNIVERSUM?

Es ist also durchaus denkbar, dass das Universum im großen Maßstab nicht gleichförmig ist. Dann würde das Kosmologische Prinzip nicht gelten, das seit Albert Einsteins Pionierarbeit 1917 von den meisten Kosmologen vorausgesetzt wird. Vielleicht ist der Ort der Milchstraße mitsamt ihrem weiten Umkreis untypisch: eine Region unterdurchschnittlicher Materiedichte (bild der wissenschaft 4/2010, „Dunkle Energie – alles Illusion?“ ). Wir könnten uns in einer großen Höhle des Alls befinden – ähnlich einem Loch, das von (unsichtbarem) Schweizer Käse umschlossen wird. Die Materie-Verteilung könnte aber auch „ fraktal“ sein, wie Luciano Pietronero und Sylos Labini von der La Sapienza Universität in Rom spekuliert haben. Doch ein so irreguläres All wäre nicht mit dem Szenario der Kosmischen Inflation vereinbar. Gegenwärtig suchen Pietronero und Labini nach Indizien für eine fraktale Galaxien-Verteilung im Sloan Digital Sky Survey. Bei dieser Himmelsdurchmusterung wurden die Positionen und Geschwindigkeiten von einer Million Galaxien vermessen.

SPIELT DIE SCHWERKRAFT VERRÜCKT?

Eine andere Möglichkeit ist, dass sich die Schwerkraft über weite Distanzen nicht so verhält, wie es die Allgemeine Relativitätstheorie – und schon Isaac Newtons Gravitationstheorie – beschreibt. Beispielsweise könnte sich die Gravitationskonstante mit der Zeit ändern. Oder die Schwerkraft könnte nicht stets umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands abnehmen, sondern stärker. Solche Modelle werden schon seit einigen Jahren diskutiert, weil dadurch die Annahme einer Dunklen Energie – und vielleicht sogar einer Dunklen Materie – überflüssig werden könnte (siehe Kasten „Drei dunkle Geheimnisse“ ). Wenn es beispielsweise zusätzliche Raum-Dimensionen gibt – wie es die Stringtheorie fordert, der beste Kandidat für eine „ Weltformel“ –, könnte Gravitation in die Extradimension(en) entweichen. Das würde unter Umständen eine stärkere Strukturbildung auf großen Skalen bewirken, spekulierten Justin Khoury und seine Kollegen am Perimeter-Institut für Theoretische Physik in Waterloo, Kanada. Vielleicht könnte eine „Theorie der modifizierten Schwerkraft“ – abweichend von der Allgemeinen Relativitätstheorie – mit einem einzigen Befreiungsschlag alle drei Dunkelheiten im All ausleuchten und vertreiben. Auch eine hypothetische Wechselwirkung zwischen Dunkler Materie und Energie würde das kosmische Strukturwachstum verändern. Modelle einer solchen Extrakraft haben Physiker um Christof Wetterich von der Universität Heidelberg durchgerechnet. Wenn die Gravitationskonstante beispielsweise in einigen Milliarden Lichtjahren Entfernung die doppelte bis vierfache Stärke hätte, käme der Dunkle Fluss in Bewegung. „Das wäre ein starkes Indiz für eine Physik jenseits des herrschenden Modells der Kosmologie“ , schreiben die Forscher.

Noch spektakulärer ist ein anderer Erklärungsversuch: Der Dark Flow könnte auf den Einfluss anderer Universen zurückgehen. Sind sie und unseres aus einem Quantenvakuum hervorgegangen – aus zufälligen Fluktuationen, die jeweils zu einem Urknall mit Inflation geführt haben –, dann wären sie noch immer durch quantenphysikalische Verschränkungen miteinander verbunden. Und das hätte die Bildung und Dynamik der Galaxiensuperhaufen beeinflusst. Das ist eine bizarre Vorstellung: Universen blubbern aus einem unbestimmten Zustand wie Gasblasen im Kochtopf hervor und stehen fortan quasi telekinetisch miteinander in Verbindung, als wären sie gespenstische Wesen, die über Raum und Zeit hinweg kommunizieren können. Und doch: „Als wir abschätzten, wie stark der Effekt auf Galaxienhaufen in unserem Universum sein kann, stellten wir zu unserer großen Überraschung fest, dass der Wert erstaunlich gut zu dem passt, den Kashlinsky fand“, sagt Laura Mersini von der University of North Carolina in Chapel Hill. „Ich bin fest davon überzeugt, dass der Effekt von etwas hervorgerufen wird, das sich außerhalb unseres Universums befindet.“ Zusammen mit Richard Holman von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh hatte sie 2006 den Effekt vorausgesagt und auch andere Auswirkungen wie die Existenz eines riesigen Leerraums. Tatsächlich scheint es WMAP- und Radioastronomie-Messungen zufolge einen solchen Leerraum im Sternbild Eridanus zu geben: rund 900 Millionen Lichtjahre im Durchmesser und acht Milliarden Lichtjahre entfernt (bild der wissenschaft 9/2008, „Das Loch“ ).

BENACHBARTE MOBILMACHUNG

Was auch immer den Dunklen Fluss antreibt – er weist darauf hin, dass unser Universum Teil eines Größeren ist. Auch wenn das All in großem Maßstab homogen erscheint wie ein riesiger Ozean, der von Horizont zu Horizont gleichförmig aussieht – der Dark Flow zeigt, dass dieser Eindruck täuscht. Es ist so, als würde man im Golfstrom schwimmen und irgendwann entdecken, dass man abtreibt. Und vielleicht reicht der Golfstrom des Alls sogar bis in die Milchstraße.

Noch ist zwar unklar, was alles zum Dunklen Fluss gehört und wie weit er sich erstreckt. Aber: Falls das beobachtbare Universum von der düsteren Dynamik beherrscht wird, könnte sie sich auch diesseits der fernen Röntgen-Haufen bemerkbar machen. Tatsächlich gibt es seit den ersten Messungen der amerikanischen Astronomin Vera Rubin 1976 viele Anstrengungen, die Dynamik der Galaxien in der weiteren Nachbarschaft zu erfassen und die regionalen Schwerkraft-Wechselwirkungen herauszurechnen. So bewegt sich die Lokale Gruppe der Galaxien – die Milchstraße, der Andromeda-Nebel und gut drei Dutzend gravitativ gebundene Zwerggalaxien – mit 600 Kilometern pro Sekunde gegenüber der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Außerdem rast sie in Richtung eines knapp 200 Millionen Lichtjahre fernen Galaxien-Superhaufens, der deswegen Großer Attraktor heißt, sowie eines versetzt dahinter liegenden, noch massereicheren Superhaufens, Shapley Supercluster genannt, der eine Distanz von 650 Millionen Lichtjahren hat.

Die Bewegungen reichen noch weiter, wie kürzlich ein Astronomenteam um Hume A. Feldman von der University of Kansas in Lawrence und Richard Watkins von der Willamette University in Salem, Oregon, entdeckte. Alle Galaxien im Umkreis von etwa 500 Millionen Lichtjahren bewegen sich demnach mit 416 plus/minus 78 Kilometern pro Sekunde zum Sternbild Vela neben Centaurus. Sie zielen also alle ungefähr in dieselbe Richtung wie der Dunkle Fluss, wenn auch nur etwa halb so schnell. Ob es einen Zusammenhang beziehungsweise Übergang gibt, ist unklar. Die verschiedenen voneinander unabhängigen Daten widersprechen sich jedenfalls nicht. Und: „Unsere Resultate erfordern zwar keine Verletzung des Kosmologischen Prinzips, aber sie setzen auch nicht seine Gültigkeit voraus“, sagt Feldmann. „Doch es muss stärkere Dichteunterschiede im All geben, als sie das Standardmodell vorsieht.“

Vermutlich erstreckt sich der Effekt über mindestens eine halbe Milliarde Lichtjahre. Was dann kommt, liegt jenseits der gegenwärtigen Reichweite selbst der empfindlichsten Teleskope. „ Dort draußen scheint es mehr Strukturen zu geben, als wir dachten“ , sagt Watkins. „Wenn sich die Gesamtbewegung bestätigt, könnte das auf bislang unbekannte Vorgänge im sehr frühen Universum hinweisen.“ ■

von Rüdiger Vaas

KOMPAKT

· Mit bis zu 1000 Kilometern pro Sekunde rasen ferne Galaxienhaufen auf etwas zu, das jenseits unseres kosmischen Beobachtungshorizonts liegt.

· Auch die Milchstraße und ihre Umgebung scheinen in diese Richtung zu streben.

· Kosmologen spekulieren über Urknall-Relikte und den Einfluss anderer Universen.

Mehr zum Thema

Lesen

Kosmologische Hintergrundinformationen: bild der wissenschaft 12/2001, 5/2002, 2/2009, 11/2009, 4/2010

Internet

Homepage von Alexander Kashlinsky: www.kashlinsky.info

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