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Wie viel Grips in den Genen steckt

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Wie viel Grips in den Genen steckt
Intelligenz ist in hohem Maße erblich – aber welche Rolle spielt die Umwelt? Schottische Forscher weisen einen Ausweg aus dem Dilemma.

Auch das noch: Dumme sterben früher. Das zeichnet sich bei Untersuchungen in den unterschiedlichsten Gesellschaften immer wieder ab. Intelligenz sagt offenbar mehr über die Lebenserwartung eines Menschen aus als das Körpergewicht, der Cholesterinspiegel, der Blutdruck oder der Blutzucker. Dummheit ist so tödlich wie Rauchen. Aber: Niemand behauptet, dass Rauchen erblich ist.

Über die Erblichkeit der Intelligenz wird dagegen viel diskutiert. In regelmäßigen Abständen flammt die Kontroverse von Neuem auf: Bestimmen die Gene den geistigen Horizont? Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt haben Forscher diese Frage längst beantwortet: Ja, genetische Faktoren erklären einen großen Teil der Intelligenzunterschiede zwischen Menschen. Gestritten wird nur noch um Zahlen: Zwischen 60 und 80 Prozent beträgt der genetische Einfluss auf unseren Verstand, den Rest bestreiten Umweltfaktoren. „Wissenschaftlich ist der Sachverhalt so gesichert, wie etwas nur gesichert sein kann”, schreibt der namhafte Wissenschaftsjournalist und ehemalige „Zeit”-Redakteur Dieter Zimmer in seinem neuen Buch „Ist Intelligenz erblich? – Eine Klarstellung”.

In der Unterschicht nutzen „GUTE GENE” WENIG

Trotzdem kommt die Debatte nicht zur Ruhe. Warum? Natürlich berührt das Thema empfindliche Bereiche unseres Menschenbildes. „ Die Aussage, dass Intelligenz erblich ist, wird mit sozialer Kälte bis hin zu Sozialdarwinismus verbunden. Schließlich werden auf der Grundlage der Intelligenz Lebenschancen vergeben”, urteilt der Psychologe Rüdiger Hossiep, der den Bochumer Wissenstests für Berufsbewerber entwickelt hat (siehe bild der wissenschaft 5/2007, „Mit 50 weiß man einfach mehr”).

In der ideologieträchtigen Diskussion lässt schon der kleinste wissenschaftliche Zweifel die Fronten verhärten. Und Zweifel gibt es immer. Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem sozialen Status: Beschränkt sich eine Studie auf Menschen aus der „Unterschicht”, dann spiegeln die Gene nur noch zehn Prozent der Unterschiede in der Intelligenz wider. Das heißt: Wer begabt ist, aber am unteren Rand der Gesellschaft aufwächst, dem nützen „gute Gene” wenig. Denn das biologische Erbe legt nur ein Potenzial fest. Die Umwelt entscheidet darüber, ob und wie es genutzt wird. Schlechte Ernährung etwa und sozialer Stress können der Intelligenz eines Kindes gehörig die Flügel stutzen – und geistige Höhenflüge von vornherein unterbinden.

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Genauso skeptisch stimmt die Suche nach den verantwortlichen Genen. Bis vor Kurzem war nur ein Gen bekannt, das mit der kognitiven Leistung zusammenhängen könnte: Menschen mit der Variante „Epsilon 4″ des ApoE-Gens sind im Durchschnitt weniger intelligent. Im April dieses Jahres veröffentlichte nun eine Gruppe von 240 Forschern um Paul Thompson von der University of California in Los Angeles im Fachblatt „Nature Genetics” eine Arbeit, die nachwies, dass eine Variante des Gens HMGA2 immerhin ein Mehr von neun Kubikzentimetern – das entspricht zwei Teelöffeln – Hirnvolumen und zugleich 1,3 IQ-Punkten verursachen kann. Das lange gesuchte „Intelligenz-Gen” ist das aber nicht, dazu ist der Effekt zu schwach. Die mühsame Suche nach Kandidaten-Genen wird unter Psychologen als das „Problem der fehlenden Erblichkeit” bezeichnet. Intelligenz – ein erbliches Merkmal ohne Erbfaktoren?

EIN PUZZLE MIT VIELEN TAUSEND TEILEN

Die wissenschaftliche Erklärung lautet anders: Vermutlich ist die Intelligenz an so vielen Stellen in unsere DNA eingeschrieben, dass wir die einzelnen Elemente kaum bemerken. Es ist, als wollte man in einem Puzzle mit vielen Tausend Teilen das eine Stück finden, auf dem das Gesamtbild zu erkennen ist. „ Hunderte von Gen-Varianten mit kleiner Effektstärke könnten an der Denkfähigkeit beteiligt sein”, erklärt der Molekularbiologe Tony Payton von der University of Manchester. Zusammen mit Psychologen der University of Edinburgh arbeitet er derzeit daran, die wichtigsten genetischen Puzzleteile aufzuspüren. Geplant ist, die DNA von etwa 10 000 Hochbegabten zu untersuchen. Durch die große Zahl der Teilnehmer werden womöglich weitere bedeutsame Gen-Varianten entdeckt, auch wenn sie jeweils nur einen sehr kleinen Beitrag zur Intelligenz leisten.

Allerdings: Angesichts der Vielzahl der beteiligten Gene wird die DNA zunächst nur ein diffuses Bild von der Intelligenz eines Menschen liefern können. Die Erblichkeit der geistigen Leistung wird so in absehbarer Zeit nicht zu erfassen sein.

Kann es also keinen Frieden geben in der Frage „Erbe oder Umwelt”? Tatsächlich arbeitet die Zeit gegen die Wissenschaft. Die bisherigen Erkenntnisse zur Erblichkeit der Intelligenz stammen zum überwiegenden Teil aus Studien an eineiigen Zwillingen, die in getrennten Familien aufgewachsen sind. Eineiige Zwillinge sind genetisch zu 100 Prozent identisch. Wenn sie sich in ihrer Intelligenz unterscheiden, kann der Unterschied nur auf Umwelteinflüssen beruhen. Deshalb sind Zwillinge, die möglichst früh nach der Geburt voneinander getrennt wurden, für Verhaltensforscher von unschätzbarem Wert. Die Zwillingsforschung scheint jedoch ihrem Ende zuzugehen – aus dem einfachen Grund, dass neugeborene Zwillinge heute nur noch in Ausnahmefällen voneinander getrennt werden. Bei der Klärung der Erblichkeit des IQ zeichnet sich hier also eine Sackgasse ab.

DAS ENDE DER KONTROVERSE?

Frischer Wind für die Verhaltensforschung weht nun aus Schottland – und der dortige Ansatz „könnte der Anfang vom Ende der Kontroverse sein”, wie der berühmte Zwillingsforscher Robert Plomin im Fachblatt „Nature” kommentiert. Ein Team von Hirnforschern, Genetikern und Molekularbiologen um den Psychologen Ian Deary von der Universität Edinburgh hat sich dem Problem von einer neuen Seite genähert. Es geht dabei um die Alterung der kognitiven Fähigkeiten. Erste Erfolge wurden vor Kurzem präsentiert.

Dass sich die Intelligenz im Laufe des Lebens verändert, ist kein Geheimnis. Die hartnäckig aufrechterhaltene Behauptung, ab Mitte 20 setze unweigerlich der geistige Verfall ein, ist aber längst überholt. Vielmehr verläuft der geistige Alterungsprozess auf individuelle Weise – manche Menschen verbessern sich, andere verschlechtern sich über die Zeit beim IQ-Vergleich mit Altersgenossen. Deary und seine Kollegen wollten wissen, woran das liegt und ob auch hier genetische Faktoren im Spiel sind. Das Ergebnis: 24 Prozent der kognitiven Alterung sind erblich bedingt. Die Gene bilden also nicht nur das Grundgerüst, sie bauen auch stetig daran weiter. Das wirklich Besondere an der Studie ist die Präzision der Zahl: 24 Prozent. Das Resultat reiner Statistik auf der Grundlage eines nüchternen Datensatzes, der nicht die Angriffsfläche zweifelhafter Zwillingsanekdoten oder effektloser Erbfaktoren bietet.

Zu verdanken ist die Zahl einem historischen Glücksfall: In Schottland wollte ein Komitee Anfang der 1930er-Jahre die Intelligenzleistung der Schüler testen, konnte sich aber nicht auf eine für die Bevölkerung repräsentative Stichprobe einigen. Also ließ der Ausschuss gleich die ganze Schülergeneration testen, insgesamt etwa 80 000 Kinder im Alter von durchschnittlich elf Jahren. Die IQ-Tests wurden zweimal, 1932 und 1947, durchgeführt und archiviert.

Gut 60 Jahre später spürten Ian Deary und seine Kollegen fast 2000 Teilnehmer der Studie wieder auf. Viele von ihnen konnten sich an den Intelligenztest in ihrer Kindheit nicht mehr erinnern. Um die Jahrtausendwende ließ das Forscherteam die inzwischen 65- bis 79-Jährigen den gleichen IQ-Test noch einmal machen und sammelte außerdem die DNA-Proben aller Teilnehmer. Zum ersten Mal standen umfangreiche IQ-Daten zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb eines Menschenlebens zusammen mit der Erbinformation zur Verfügung. Es folgten jahrelange Auswertungen.

LANDMARKEN IM GENOM

Hatten alterungsbedingte Veränderungen der Intelligenz etwas mit der DNA der Probanden zu tun? Die Suche nach bestimmten Genen hatte jahrelang kein Glück gebracht. In der schottischen Studie wurde deshalb ganz darauf verzichtet. Stattdessen legten die Molekularbiologen eine Karte von jedem Erbsatz an – vom „Genom”, wie die Fachleute sagen. Als „Landmarken” jeder Karte dienten mehr als eine halbe Million einzelne DNA-Bausteine, die zufällig über das Genom verstreut liegen und a priori nichts mit der Intelligenz zu tun haben.

Obwohl die Studienteilnehmer nicht im herkömmlichen Sinne miteinander verwandt waren, zeigten sich auf den Genomkarten entfernte Verwandtschaftsverhältnisse – erklärbar dadurch, dass die Probanden zum größten Teil derselben Nation angehörten. So konnte mathematisch überprüft werden, ob es einen Zusammenhang gab zwischen dem Verwandtschaftsgrad und der Veränderung des IQ von der Kindheit bis ins Alter. Und tatsächlich: 24 Prozent der altersbedingten kognitiven Veränderungen konnten die Wissenschaftler durch Gene erklären – ohne zu wissen, durch welche Gene.

Die Studie ist nicht perfekt. Die Teilnehmerzahl war mit 1940 Individuen recht gering. Und der Bochumer Psychologe Rüdiger Hossiep gibt zu bedenken: „Der IQ der Schüler wurde zu Beginn der Pubertät gemessen – also mitten in der stärksten Entwicklungsphase. Der Messfehler ist zu dieser Zeit sehr hoch”. Dennoch könnte die Methode der schottischen Forscher den unideologischen Schlüssel liefern, um die Frage nach der Erblichkeit der Intelligenz bald ein für alle Mal zu den Akten zu legen.

KOMPLEXE WECHSELWIRKUNGEN

Ein biologisch vorgegebenes Merkmal, typisierbar wie die Blutgruppe, wird Intelligenz aber wohl nie werden. „Gene sind keine unabhängigen Einheiten. Sie arbeiten eng zusammen und werden von der Umwelt beeinflusst”, betont Tony Payton, der auf der Jagd ist nach den genetischen Ursachen von Alzheimer und Demenz. Erst die Entschlüsselung dieser komplexen Wechselwirkungen wird die Intelligenzforscher schlauer machen. ■

MARIA BONGARTZ, ehemalige bdw-Praktikantin, will zum besseren Erhalt ihrer geistigen Fitness ihrem Taschenrechner mehr Arbeit abnehmen.

von Maria Bongartz

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Lesen

Detlef H. Rost Intelligenz: Fakten und Mythen Beltz, Weinheim 2009, € 34,95

Dieter E. Zimmer IST Intelligenz erblich? Eine Klarstellung Rowohlt, Hamburg 2012, € 19,95

Ian Deary Intelligence: A very short introduction Oxford University Press, Oxford 2001, rund € 10,–

Kompakt

· Neuerdings können Wissenschaftler die Erblichkeit der Intelligenz berechnen, ohne die Gene zu identifizieren, die intelligent machen.

· Ein historischer Glücksfall trug dazu bei: Schottische Schüler, die Anfang der 1930er-Jahre auf Intelligenz getestet worden waren, ließen rund 60 Jahre später noch einmal ihren Grips und zugleich ihre Gene testen.

Im Alter läuft die Maschine langsamer

Der IQ des Menschen ist bis ins hohe Alter erstaunlich stabil – im Durchschnitt treten erst jenseits der 70 deutliche Veränderungen auf. Mit der Zeit beeinträchtigen jedoch angesammelte Zellschäden im Gehirn die kognitive Leistungsfähigkeit. „Manche Experten vermuten, dass Alzheimer das Ende des normalen Alterungsprozesses darstellt – und dass wir ihn alle kriegen, wenn wir nur lang genug leben”, erklärt Tony Payton, Demenzforscher an der Manchester University.

Die Intelligenz setzt sich nach heutigem Verständnis aus vier Hauptdomänen zusammen: Wortschatz und Wissen, Denkgeschwindigkeit, Problemlösung und Gedächtnis. Als Erstes und am schnellsten lässt das Gedächtnis nach, der Wortschatz kann sich bis ins hohe Alter verbessern. In IQ-Tests macht es sich besonders bemerkbar, dass die Arbeitsgeschwindigkeit des Gehirns sinkt, weil diese die Denkleistung auf vielen Gebieten beeinflusst.

Veränderungen der Intelligenzleistung im Alter sind von Mensch zu Mensch verschieden. Neben den Genen spielt die Umwelt eine große Rolle. Rauchen, Alkohol und Krankheiten wie Diabetes beschleunigen den Alterungsprozess.

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