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Kernfusion – Ungeliebt, weil unverstanden

Allgemein

Kernfusion – Ungeliebt, weil unverstanden
Kernfusion könnte ein wichtiger Energielieferant werden – so sie denn vorangetrieben wird. Über den Stand gibt Prof. Alexander M. Bradshaw Auskunft, der Chef des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik.

Prof. Alexander Marian Bradshaw ist seit vier Jahren Wissenschaftlicher Direktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching und Greifswald (2002: 1100 wissenschaftliche Mitarbeiter und ein Budget von 138 Millionen Euro). Der gebürtige Brite (Jahrgang 1944) war von 1980 bis 1999 Direktor am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin.

bild der wissenschaft: Vor vier Jahren sagten Sie gegenüber bdw: Die endgültige Entscheidung über die Fusionsenergie treffen unsere Kinder und Enkel. Stehen Sie noch dazu, Herr Prof. Bradshaw – oder modifizieren Sie Ihre Aussage lieber in Richtung Enkel und Urenkel?

Bradshaw: Meine damalige Vorhersage, dass die ersten kommerziellen Fusionskraftwerke um das Jahr 2050 in Betrieb gehen, setzte voraus, dass 2020/2025 über ein Demonstrationskraftwerk entschieden wird. Das ist ja durchaus eine Entscheidung, die unsere Kinder treffen werden.

bdw: Der Zeithorizont hat sich nicht weiter in die Ferne verschoben?

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Bradshaw: Nein.

bdw: Dennoch ist der Weg reichlich lang. Wenn das erste Fusionskraftwerk 2050 in Betrieb ginge, wären seit den ersten Überlegungen 100 Jahre vergangen. Bei der Kernspaltung lief alles schneller. Sie wurde 1938 entdeckt, und 1956 lieferte der erste kommerzielle Reaktor in Großbritannien Strom.

Bradshaw: Überall, wo ich hingehe, werde ich gefragt, warum es denn seit vielen Jahren stets hieße: In gut 40 Jahren ist die Fusion kommerziell nutzbar. Als man vor knapp fünf Jahrzehnten mit der Fusionsforschung anfing, wusste keiner, wie ein Fusionskraftwerk aussehen könnte. Erst durch den Beschluss, sich auf das Tokamak-Prinzip zu konzentrieren, hat man einen konkreten Weg eingeschlagen. Das war Anfang der siebziger Jahre. Seitdem ist man dem Ziel stetig näher gekommen, wie das so genannte Fusions-Triple-Produkt von Dichte, Temperatur und Energieeinschlusszeit beweist. Das Produkt fällt heute um fünf Zehnerpotenzen besser aus als 1970. Durch die Experimente bei JET im englischen Culham, in Naka/Japan und im amerikanischen Princeton sind wir nicht mehr weit von einem Energie liefernden Plasma entfernt. Die „40 Jahre“ gehen im Übrigen auf die Rede Edward Tellers 1958 in Genf zurück. Er sprach aber nicht von einem Fusionskraftwerk vor dem Ende des 20. Jahrhunderts, sondern von der Realisierung der Fusion. Das haben wir im Grunde genommen bereits geschafft.

bdw: Dennoch gibt es weit und breit kein Experiment, bei dem Plasma lange genug brennt, um damit wirklich Energie zu erzeugen.

Bradshaw: Richtig, dies wird erst ITER leisten. Ein nicht zu vernachlässigender Grund sind die zögerlichen Genehmigungsverfahren. So wie wir einige Jahre auf die Entscheidung für JET gewartet haben, warten wir jetzt seit einem Dutzend Jahren auf die Entscheidung für ITER.

bdw: Werden wir konkret. Welche Meilensteine hat die Fusionsforschung in den vergangenen zehn Jahren erreicht?

Bradshaw: 1997 erreichte JET 16 Megawatt Fusionsleistung. Dieses bedeutete einen Leistungsverstärkungsfaktor Q von 0,63. Damit ist man nicht mehr weit vom ausgeglichenen Verhältnis von erzeugter zu eingesetzter Leistung entfernt („break even“ oder Q=1). Das war das herausragendste Ergebnis der letzten Jahre. Aber es gibt noch etwas ganz Neues. Bei den Tokamaks, die Energie vom Prinzip her nur in Pulsen abgeben können, hat man Möglichkeiten entdeckt, um die Pulslänge von Sekunden auf Minuten oder gar Stunden auszudehnen, vielleicht sogar Dauerbetrieb zu erreichen. Dritter Meilenstein ist für mich der große Fortschritt beim Stellarator und die Entscheidung, WENDELSTEIN 7-X in Greifswald zu bauen. Dieses nach dem Stellarator-Prinzip arbeitende Experiment hat eine sehr komplizierte Magnetfeldkonfiguration. Vorteil dieser Entwicklungslinie ist jedoch, dass Energie nicht in Pulsen, sondern von vorneherein im Dauerbetrieb abgegeben wird.

bdw: WENDELSTEIN 7-X ergeht es inzwischen so wie vielen anderen Fusionsexperimenten: Es zieht sich.

Bradshaw: Es ist leider so, dass wir eine Verzögerung von vier Jahren gegenüber der früheren Planung haben. Fast drei Jahre gehen auf Lieferverzug bei den supraleitenden Spulen zurück. Und das, obwohl die beauftragte Firma die Testspule ordnungsgemäß abgeliefert hatte. Ein weiteres Jahr müssen wir uns selbst anrechnen: Wir haben die Komplexität der Montage unterschätzt. Nach der aktuellen Planung wird das Experiment im Frühjahr 2010 starten.

bdw: 1999 gaben Sie dem Stellarator-Prinzip Chancen, im ersten Fusionskraftwerk statt der Tokamak-Technologie vertreten zu sein. So wie es jetzt um das Greifswalder Experiment steht, wird daraus wohl nichts.

Bradshaw: Ich halte es noch immer für möglich, dass der erste Demonstrationsreaktor, der unter dem Kürzel DEMO firmiert, nach dem Stellarator-Prinzip arbeitet. Zudem ist nicht gesagt, dass alle Fusionskraftwerke in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts auf einem einzigen Prinzip fußen müssen. Schließlich haben wir ja auch verschiedene Typen von Kernkraftwerken oder Automotoren. Der Stellarator hat eine ganze Reihe von Eigenschaften, die für ein Kraftwerk interessant sind.

bdw: 1998 sind die USA aus ITER, dem nächsten großen Tokamak-Projekt, ausgestiegen. Jetzt wollen sie wieder an Bord.

Bradshaw: Die USA haben sich nie von der Fusion verabschiedet, sondern sind in den letzten Jahren eigene Wege gegangen. So geben sie pro Jahr etwa 250 Millionen Dollar für die magnetische Fusion aus. Und die National Ignition Facility – ein Projekt der Inertialfusion, das über sehr starke Laser Fusionsenergie erzeugen soll – ist ihnen insgesamt an die vier Milliarden wert, also ungefähr so viel wie ITER kosten wird. Vor fünf Jahren glaubten die Amerikaner, dass es weder ein Energie- noch ein Klimaproblem geben wird und die Fusionsforschung allenfalls als Grundlagenwissenschaft einzustufen sei. Deshalb stoppte der Kongress die Mittel für ITER. Wir wissen nicht genau, welche Gründe für die Rückkehr der Amerikaner ausschlaggebend waren. Fest steht: Sie sind sehr beeindruckt, dass ITER auch ohne ihr Mitwirken weitergeht und dass Japaner, Russen, Kanadier und Europäer nicht locker lassen. Allerdings ist bis jetzt nur von zehn Prozent der Kosten die Rede. Das enttäuscht uns in Europa.

bdw: Warum?

Bradshaw: Wenn sich die USA engagieren, erwartet man, dass sie ein Hauptpartner sein wollen und mehr Geld bereit stellen als die finanzschwächeren Länder China und Russland. Wir in Europa geben derzeit 450 Millionen Euro pro Jahr für die Fusionsforschung aus und werden an ITER, wenn er in Frankreich oder Spanien gebaut werden sollte, 40 bis 50 Prozent zahlen. Es wäre gerechtfertigt, wenn sich die USA – ähnlich wie die Japaner – mit 20 Prozent beteiligten.

bdw: 2001, so meinten Sie bei unserem letzten Gespräch vor vier Jahren, wird die endgültige Entscheidung für ITER fallen. Schon wieder ist sie da, die zeitliche Verzögerung.

Bradshaw: Die Entscheidung muss auf höchster politischer Ebene erfolgen. Ich bin der Meinung, dass sie in den nächsten zwei Jahren am Rande eines G8-Treffens auch wirklich getroffen wird. Die Bauzeit beträgt acht bis zehn Jahre.

bdw: Warum kommen für Sie als Standorte Frankreich oder Spanien in Frage und Großbritannien oder Deutschland nicht?

Bradshaw: Das Land des künftigen Standorts muss hinter der Fusionsforschung stehen. Das Land muss bereit sein, einen höheren Gastgeberanteil bei den Finanzen zu übernehmen. Und in dem Land muss es eine Fusions-Community geben, die die Sache vorantreibt. Das alles ist in Frankreich und Spanien der Fall – in den anderen europäischen Ländern nicht. Großbritannien ist zwar auch fusionsfreundlich, will aber nach dem JET-Experiment nicht nochmals einen hohen Gastgeberanteil übernehmen. Die rot-grüne Koalition in Berlin wird sich kaum um ITER bewerben, obwohl ein Vorschlag aus Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern vorliegt. Es gibt noch einen Grund, der gegen Deutschland spricht: Hier leiden solche Projekte unter sehr langwierigen Genehmigungsverfahren, was unsere Partnerländer irritiert.

bdw: Soeben haben die Chinesen das alte deutsche Fusionsexperiment ASDEX in der Provinz Sichuan (Setschuan) wieder in Betrieb genommen. Wird die Volksrepublik China bald ein Global Player bei der Kernfusion?

Bradshaw: Ich halte es für gut möglich, dass DEMO in China gebaut wird. Schließlich ist China bereits ein ITER-Partner. Es kann gut sein, dass es so läuft wie beim Transrapid: Wir hier diskutieren über Jahrzehnte und dort wird etwas binnen weniger Jahre umgesetzt.

bdw: Sind die Forscher dort gut genug?

Bradshaw: DEMO wird möglicherweise nicht mehr von der Art von Forschern gebaut, die wir zum Beispiel hier im Max-Planck-Institut in Garching oder im französischen Cadarache haben. Wir alle beschäftigen uns mit den Grundlagen. In 20 oder 30 Jahren werden für DEMO andere Qualitäten als heute aussschlaggebend sein, über die die Chinesen dann auch sicher verfügen werden.

bdw: Welche Kapazität sollen die ersten kommerziellen Fusionskraftwerke haben?

Bradshaw: Mit 1000 Megawatt elektrischer Leistung wird ein Fusionskraftwerk eine ähnliche Kapazität besitzen wie heutige große Kohleanlagen oder Kernspaltreaktoren. Bei den ersten Fusionskraftwerken geht man von einer Verfügbarkeit von 75 Prozent aus. Pro Tag wird ein Kraftwerk 500 Gramm Tritium und 300 Gramm Deuterium verbrauchen – im Vergleich zu 7000 Tonnen Kohle oder 0,2 Tonnen Uran.

bdw: Wie bewerten sie die radioaktive Belastung?

Bradshaw: Ein Unfall mit katastrophalen Folgen ist aus prinzipiellen physikalischen Gründen unmöglich. Die hauptsächlich in den Wänden des Plasmagefäßes entstehende Radioaktivität klingt innerhalb weniger Jahrzehnte um viele Größenordnungen ab. Nach 50 bis 100 Jahren könnte nahezu das gesamte Material fernbedient rezykliert und in neuen Kraftwerken wieder verwendet werden. Längerfristig gelagert werden müssen nach heutigem Wissen lediglich wenige Prozent. Nach einigen hundert Jahren ist die gesamte Radiotoxizität des Fusionsabfalls vergleichbar mit dem Gefährdungspotenzial der Asche, die ein gleich großes Kohlekraftwerk während seiner Lebenszeit erzeugt hat. Das für den Betrieb nötige radioaktive Tritium wird man direkt im Reaktor aus nichtradioaktivem Lithium ereugen. Fusionskraftwerke belasten also weder ihre Umwelt noch nachfolgende Generationen wesentlich.

Wolfgang Hess

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