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DER KLEINE WAL UND SEIN TURBO-HIRN

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

DER KLEINE WAL UND SEIN TURBO-HIRN
Die letzten Schweinswale in der Ostsee sind durch Fischfangnetze bedroht. Forscher wollen die Tiere gezielt vor der Gefahr warnen. Bei ihren Experimenten kam Erstaunliches heraus.

Wal-Trainerin Sabina Hansen hockt sich an den Rand des Hafenbeckens von Kerteminde und schaut auffordernd ihre Kollegin Meike Linnenschmidt an, die drei Meter neben ihr steht. Hansen greift in ihren Eimer und zückt einen weißen Halbmond. Sie klemmt das Symbol an die Hafenmauer. Sofort taucht ein kleiner meergrauer Wal aus dem Wasser auf und schwimmt auf den Halbmond zu – sein persönliches Logo. Hansen begrüßt den Wal mit einem Fisch und setzt ihm Kappen auf die Augen. Der Wal lässt alles ruhig geschehen und wartet. Dann streichelt Hansen seinen Kopf mit einer kreisförmigen Bewegung. Das ist das Zeichen: Es geht los. Linnenschmidt hält zwei Bälle ins Wasser: einen aus Aluminium und einen aus Plastik. Sie sind mit Schnüren an einem Brett befestigt. Der Wal schwimmt los und steuert zielsicher „ seinen“ Ball an – den aus Aluminium. Ein kurzer Pfiff von Hansen bedeutet für den Wal: Alles richtig gemacht. Zur Belohnung gibt es Fisch.

Der kleine Wal, der blind seine Umwelt so genau erkennt, ist ein Schweinswal namens Sif. Schweinswale sind ungewöhnliche Wale. Sie leben in einer Umwelt, die lauter und abwechslungsreicher ist als die vieler anderer Wal-Arten. Trotzdem sind sie bei der Orientierung auf ihr Gehör angewiesen, denn sie leben in trüben Gewässern. Sie haben deshalb Tricks entwickelt, die wahrscheinlich kein anderer Wal beherrscht – und die so komplex sind, dass Forscher sich fragen, wie das Wal-Gehirn sie verarbeiten kann. Trotzdem sind die kleinen Meeressäuger bedroht, denn auf den Menschen hat sie die Evolution nicht vorbereitet.

Sif ist sechs Jahre alt und lebt mit drei Artgenossen im dänischen Informationszentrum Fjord og Bælt (Fjord und Belt) in Kerteminde, das zur Universität von Süddänemark (SDU) in Odense gehört. Schweinswale sind die typischen Wale der deutschen und dänischen Gewässer, und doch sieht sie außer Biologen, Fischern und Seglern selten jemand. Selbst viele Küstenbewohner kennen die Tiere nicht. „Es ist ganz erstaunlich“, sagt Magnus Wahlberg, Projektleiter der Kerteminder Wal-Forscher und Associate Professor an der SDU. „Der Schweinswal ist eines unserer größten Säugetiere, und doch wissen selbst wir Forscher nur sehr wenig über ihn.“ Zusammen mit deutschen Kollegen ist er dabei, das zu ändern. Was die Forscher treibt, ist nicht nur wissenschaftliche Neugier. Denn für einen Teil der Ostsee-Bestände des Gewöhnlichen Schweinswals (Phocoena phocoena) – auch Kleiner Tümmler genannt – geht es um die nackte Existenz. Sie sind so stark zurückgegangen, dass den Tieren ohne wissenschaftlichen Beistand das Aussterben droht.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts lebten die Meeressäuger bis hinauf vor den Küsten Finnlands. Heute gibt es östlich von Rügen nur noch ein paar Hundert Tiere. Ein Grund für diesen Rückgang war zunächst die extreme Verschmutzung der Ostsee. Bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Regime wurden fast alle Abwässer der UdSSR und Polens ungeklärt in die Ostsee geleitet. Heute bedroht vor allem die Fischerei die Schweinswale. Sie sind Küstenbewohner, die im flachen Wasser jagen. Genau hier aber positionieren Fischer ihre Stellnetze aus feinem Nylon. Weil die Wale diese Netze nicht erkennen können, verheddern sie sich darin – und ertrinken. Denn wie alle Säugetiere müssen Schweinswale atmen – und dazu regelmäßig auftauchen.

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7000 WALE VERENDEN iN NETZEN

Wie bedrohlich die Netze sind, zeigen Hochrechnungen des Dänischen Umweltministeriums: Danach kommen jedes Jahr allein in dänischen Gewässern etwa 7000 Wale in Netzen um. Eine erschreckend hohe Zahl, denn in der Ostsee gibt es nach den letzten Zählungen nur noch etwa 13 600 Schweinswale. Besser ist es in der Nordsee: Dort leben noch 230 000 Tiere. Doch wie deren Zukunft aussieht, kann kein Forscher sagen. Dazu weiß man zu wenig über das, was im trüben Wasser geschieht. Ähnlich steht es um viele der insgesamt über 70 Wal-Arten. Man kennt die Biologie und die Bestandszahlen kaum. 1997 wurden Schweinswale zum ersten Mal in einer gemeinsamen Aktion in mehreren europäischen Ländern gezählt, 2007 zum zweiten Mal. Tendenz: insgesamt abnehmend. Und: In der Nordsee haben sich die Bestände nach Süden verlagert.

Um zu verstehen, ob es sich um natürliche Schwankungen oder um eine existenzielle Gefährdung handelt, und um etwas für den Schutz der Tiere zu tun, haben die Wal-Projekte zwei Schwerpunkte: Zum einen wollen die Forscher mehr über das Leben der Tiere in freier Natur, ihr Vorkommen und ihre Wanderungen erfahren. Zum anderen wollen sie herausfinden, wie die kleinen Wale die Welt wahrnehmen. Denn: Nur wenn sie eine Chance haben, die bedrohlichen Netze zu orten, können sie ihnen ausweichen und überleben. Ihr wichtigstes Sinnesorgan ist das Gehör. Schweinswale leben in den nährstoffreichen Küstenmeeren der nördlichen Halbkugel. Sehen können sie in diesen trüben Gewässern nicht viel. Sie verlassen sich deshalb auf ihr Echo-Ortungssystem. „Es ist ähnlich wie das der Fledermäuse – nur dass Akustik unter Wasser viel besser funktioniert als an der Luft“, sagt die Meeresbiologin Ursula Verfuß vom Naturkundemuseum Ozeaneum in Stralsund. Sie untersucht seit über zehn Jahren das Akustiksystem der Wale.

Alle Zahnwale senden regelmäßig Töne im Ultraschallbereich aus. Aus dem zurückkehrenden Echo können sie nicht nur die Struktur, sondern – wie die Kerteminder Versuche zeigen – auch die Beschaffenheit ihrer Umwelt erkennen. Beim Schweinswal haben diese „Pings“ eine Frequenz von 140 000 Hertz. Zum Vergleich: Ein Mensch kann in jungen Jahren maximal 20 000 Hertz hören. Die Pings dauern nur etwa 0,2 Millisekunden. Auf ihren Wanderungen geben die Wale ihre Signale etwa alle 0,4 Sekunden ab. Schweinswale können auf diese Weise etwa 300 Meter weit „sehen“. Eine höhere Auflösung brauchen sie anscheinend nicht, um einen Überblick zu bekommen – und sie sparen mit der geringen Ton-rate Kraft. Denn die Analyse eines hochaufgelösten Echosignals benötigt viel Gehirnkapazität.

„Wenn die Tiere etwas Interessantes entdecken, nimmt die Zahl der Laute pro Sekunde zu“, sagt Verfuß. „Wir hören das deutlich an unseren Schweinswal-Detektoren, den PODs, die wir in der Ostsee installiert haben, um einen Überblick über die Wal-Bestände und die Wanderungen der Tiere zu bekommen.“ Diese PODs (Porpoise-Detektoren, von englisch „harbour porpoise“, „ Schweinswal“) können Wal-Laute erkennen und analysieren. Wenn die Meeressäuger einen POD entdecken, scheinen sie ihn mit schnelleren Pings genau „abzuklopfen“. Noch schneller wird ihre Tonfolge, wenn sie Fische angreifen. Denn sie brauchen ein hochaufgelöstes Bild, um ein kleines Tier wie eine Sprotte zu erkennen. „Buzz“ (Summen) nennen die Forscher das Geräusch, das man mit Spezialgeräten für menschliche Ohren hörbar machen kann (siehe Podcast-Hinweis am Schluss).

PRÄZISIONSGEHÖR TROTZ STÖRUNGEN

Um die Signale zu analysieren, muss das Schweinswal-Gehirn Höchstleistungen vollbringen. Andere Wale wie der Pottwal jagen in „reizarmen“ Gewässern. In den Tiefen der Hochsee gibt es kaum etwas, was bei der Jagd ablenkt. Ganz anders in den Flachwasserzonen der Ostsee: Überall ist der Meeresgrund im Echosignal zu hören, da liegen Steine herum und verlorene Anker, schwimmen Baumstämme und Boote. Außerdem prasselt Regen auf die Meeresoberfläche, Schiffsmotoren röhren und Wellen brechen. Trotz aller Störsignale errechnet das Wal-Gehirn aus den Echos ein klares Bild. Gelingen dürfte ihm das nach den bisherigen Erkenntnissen der Neurobiologie eigentlich nicht. Denn Schweinswal-Signale haben beim Angriff auf Fische eine Klickrate, die größer ist als die Verarbeitungsgeschwindigkeit ihres Gehirns. Während des Buzz‘ ist die Datendichte so groß, dass das Gehirn eigentlich einen Informationskollaps erleiden müsste. Warum das nicht passiert, wissen die Forscher bislang nicht.

Das Ortungssystem der kleinen Wale ist zwar ausgezeichnet, trotzdem musste es sich in der Entwicklungsgeschichte selbst übertrumpfen. „Denn in der Evolution gibt es einen ständigen Wettbewerb: Wo immer jemand eine geniale Jagdmethode verwendet, gibt es Beutetiere, die eine Gegenstrategie entwickeln“, sagt der Bioakustiker Lee Miller, Professor an der SDU. Ein Beispiel: Fledermäuse jagen Motten mit Ultraschall-Ortung. Einige Motten können inzwischen diese hohen Frequenzen erkennen und lassen sich sofort fallen, wenn sie das gefährliche Summen hören. Andere Motten können sogar selbst Ultraschall-Laute produzieren und ihren nächtlichen Verfolgern Trugbilder vorgaukeln. „Zahnwale gibt es seit mindestens 30 Millionen Jahren. Damit hatten ihre Beutefische genug Zeit, um sich auf die Jäger einzustellen“, sagt Miller. Und tatsächlich: Dorsche und einige Arten aus der Heringsfamilie können Ultraschall erkennen. Den Delfinen scheint dies aber nicht viel auszumachen, denn sie sind extrem schnelle Jäger. Schweinswale sind dagegen eher ruhige Zeitgenossen. Verfuß‘ Untersuchungen zeigen, dass sie mit gemütlichen 5 Stundenkilometern durch die Ostsee ziehen. Nur im Sprint erreichen sie kurzfristig 22 Stundenkilometer.

ÜBERRASCHENDE ATTACKE

Trotzdem sind auch sie erfolgreiche Jäger. Denn sie verfügen über einen genialen Ton-Täuschungs-Trick. Ursula Verfuß hat ihn bei ihren Wal-Studien in Kerteminde entdeckt. Den physikalischen Hintergrund erklärt sie mit einem Vergleich: Wenn ein Auto auf einen Zuhörer zukommt, wird das Signal für diesen immer lauter, sodass er Richtung und Geschwindigkeit des Fahrzeugs erkennen kann. Dasselbe könnten die Opfer eines angreifenden Schweinswals tun. Der Wal versucht es deshalb mit einem Überraschungsangriff: Wenn er einen Fischschwarm entdeckt hat, schwimmt er auf ihn zu. Aber anstatt die Klickrate zu erhöhen, hält er sie gleich. Außerdem mindert er die Lautstärke seiner Pings. Beides geschieht so geschickt, dass es für die Fische klingt, als ob der Wal irgendwo in größerer Entfernung verharren würde. Sie können ihn nicht orten – bis es zu spät ist. Erst unmittelbar vor der Beute schaltet der Wal seinen Buzz ein, um genau zu erkennen, wo sein Fressen schwimmt.

Erst das ungewöhnliche Konzept von Fjord og Bælt hat diese überraschenden Erkenntnisse möglich gemacht. „Es ist ein guter Ort für Verhaltensforschung, weil die Tiere sich hier ziemlich normal verhalten, obwohl sie in Gefangenschaft leben“, urteilt der Bioakustiker Peter Madsen, Professor an der Universität von Aarhus. In „normalen“ Delfinarien leben die Wale im gechlortem Wasser von Betonbecken, sind sehr auf Menschen geprägt und haben viele wichtige Verhaltensweisen nicht gelernt. „Wenn Sie denen lebende Fische zuwerfen, wissen die nicht, was sie damit anfangen sollen“, berichtet Madsen. „Sie spielen mit ihnen, aber sie fressen sie nicht.“ In Kerteminde leben die Wale dagegen in einem Teil des Hafens. Ein Holzgitter verhindert, dass sie davonschwimmen, aber es lässt Fische und andere Meereslebewesen in die Becken.

Auch das jüngste Mitglied der Gruppe, die kleine Frigg Amanda, hat von ihren älteren Artgenossen gelernt, wie man Fische fängt. Ihre Geburt im August 2007 war eine Sensation. Nur eine Handvoll Schweinswale sind überhaupt jemals in Gefangenschaft geboren worden, kein einziges Tier überlebte. Auch Frigg Amandas Mutter Freija hatte bereits eine Fehlgeburt hinter sich. „Wir waren damals sehr besorgt, weil viele gefangene Tiere nicht wissen, was sie mit ihrem Nachwuchs anfangen sollen. Aber die Sorge war überflüssig. Freija hat ihre Tochter sofort angenommen“, sagt Projektleiter Magnus Wahlberg.

fast ein Pfund Schwere Hoden

In freier Wildbahn sind weibliche Schweinswale fast jedes Jahr trächtig, nachdem sie im Alter von etwa vier Jahren ihr erstes Junges bekommen haben. Die Babys werden im Sommer nach 11 Monaten Schwangerschaft geboren. Unmittelbar danach ist Paarungszeit. Weder Paarung noch Geburt wurden je in freier Wildbahn beobachtet. Erst in Kerteminde erkannten die Forscher, dass der Nachwuchs nicht wegen mangelnder „Lust“ ausblieb. „Die paaren sich häufig. Das geht unglaublich schnell. So wusch!“, sagt Wahlberg, holt mit seinen Armen weit aus und klatscht die Hände zusammen.

Wie die Wale so schnell zueinander finden, gehört zu den vielen offenen Fragen der Schweinswal-Forschung. Das im Schnitt etwa 1,50 große Männchen hat einen im erregten Zustand etwa 50 Zentimeter langen Penis. Zur Paarungszeit wird sein Körper für die alljährliche Fortpflanzungsaufgabe umgebaut. Während seine Hoden im Winter nur ein paar Gramm schwer sind, wiegen sie im Sommer etwa 400 Gramm. „Man merkt Eigil das schon deutlich an. Normalerweise rutscht er ohne Probleme während des Trainings auf ein Brett außerhalb des Wassers, um sich dem Publikum zu zeigen. Aber während des Sommers mag er das überhaupt nicht“, berichtet Verfuß.

Bei Schweinswalen gibt es, so glauben die Forscher, keine dauerhaften Paare. Die großen Hoden der Männchen deuten auf ständig wechselnde Geschlechtspartner hin: Da die Männchen nicht wissen, wie viele Partner ihr Weibchen sonst noch hatte, versuchen sie, bei einer Paarung so viel Sperma wie möglich zu übertragen – und sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren. In freier Natur leben Schweinswale meist in Kleingruppen. Dominiert werden sie von den deutlich größeren Weibchen, die bis zu 1,80 Meter groß und 75 Kilogramm schwer werden, während die Männchen maximal knapp 1,60 Meter Länge und 60 Kilo Gewicht erreichen. „Mutter-Kind-Beziehungen sind wahrscheinlich die einzig stabilen Beziehungen“, sagt Wahlberg. „Manchmal sind auch andere Erwachsene dabei, vielleicht die Schwester der Mutter oder ein Männchen, das dem Weibchen folgt.“ Größere Gruppen treffen nur zusammen, wenn es an einem Ort besonders viel zu fressen gibt.

Fjord og Bælt ist der einzige Ort in Europa, an dem ständig eine Gruppe von Schweinswalen in einem Delphinarium lebt. Im „ Dolfinarium“ im niederländischen Harderwijk werden verletzte Schweinswale nur gesund gepflegt und dann wieder freigelassen. Normalerweise ist das Halten dieser Tiere in der EU verboten. Die dänische Regierung erteilte Fjord og Bælt 1997 eine Ausnahmegenehmigung, damit die Tiere besser erforscht werden können.

NETZE MIT LUFTLOCH

In der Ostsee gibt es neben der Wal gefährdenden Stellnetzfischerei auch einen walschonenden Fischfang: die Bundgarnfischerei. Bei diesem Fischerei-Prinzip wird mit einem auffälligen Leitnetz gearbeitet. Es versperrt den Fischen den Weg und leitet sie in einen Netzkäfig, aus dem sie nicht wieder hinausfinden. Manchmal folgen Schweinswale den Fischen und finden ebenfalls den Ausweg nicht. Das ist für sie aber völlig ungefährlich. Da die Bundgarnnetze oben offen sind, können die Säuger jederzeit Luft holen – und zum Fressen finden sie in den vor Fischen wimmelnden Käfigen auch genug. Durch die Vermittlung von Bundnetzfischern kamen die ersten Schweinswale nach Fjord og Bælt: 1997 das Weibchen Freija und das Männchen Eigil, 2004 folgte die damals etwa einjährige Sif.

Die Forscher wollen nun auch die Stellnetzfischerei walsicher machen. Dazu arbeiten sie an akustischen „Wal-Scheuchen“. Manche Geräte klingen ähnlich wie ein Orca, andere senden ein Geräusch im Frequenzbereich der Schweinswale bei etwa 140 000 Hertz aus. „ Wahrscheinlich erschreckt sie das, weil es in ihrer Umgebung kein solches Geräusch gibt“, sagt Lee Miller. „Schweinswale leben zwar in einer lauten Umwelt, aber dieser Krach hat meist tiefe Frequenzen: das Brechen von Wellen, Regen, Schiffe oder Baulärm.“ Die Abschreckgeräte werden seit einigen Jahren in Dänemark eingesetzt – mit gutem Erfolg. Lee Miller ist trotzdem skeptisch, weil die Geräte ständig Geräusche produzieren: „Die Tiere könnten sich daran gewöhnen oder sogar angezogen werden, weil sie gelernt haben, dass in der Nähe dieser Geräusche Fische zu finden sind.“ Die Kerteminder haben deshalb einen „interaktiven Pinger“ entwickelt. Dieses Gerät erkennt das Echolot der Schweinswale und sendet nur dann Abschreckgeräusche aus, wenn sich ein Wal dem Netz nähert. Die Tests laufen noch.

Schweinswale in der Disco

Auch im Hafenbecken von Kerteminde gehen die Experimente weiter. Meike Linnenschmidt hat den Schweinswalen beim täglichen Training vor Kurzem gezeigt, wie sich die Saugelektroden eines EEGs auf der Haut anfühlen. Stück für Stück bereitet sie die Tiere auf neue Experimente vor. Schweinswale sind skeptische Tiere. Sie brauchen lange, bis sie sich an Neues gewöhnen. Im Spätsommer hofft Linnenschmidt, mit den Versuchen beginnen zu können. Sie will die Hirnströme aufnehmen, während die Tiere etwas betrachten, um zu verstehen, was im Gehirn der Wale passiert, wenn sie ihre eigenen Echosignale hören und verarbeiten. Solche EEG-Untersuchungen sind neu in der Wal-Forschung.

Fragen hat Linnenschmidt genug: Wie analysiert das Gehirn Signale, die schneller daherkommen, als sie das Gehirn bearbeiten kann? Oder: Wie umgeht das Gehirn den „Disco-Effekt“? Die eigenen Echolot-Signale der Schweinswale sind nämlich derart laut, dass der Wal nach seinem ersten Ruf eigentlich taub wie nach einem Rockkonzert sein müsste. Ist er aber nicht. Warum? ■

bdw-Korrespondent THOMAS WILLKE beobachtet auf seinen Segeltouren immer wieder Schweinswale. Fotograf Solvin Zankl hat Meeresbiologie studiert. Er erhielt 2008 den Deutschen Preis für Wissenschaftsfotografie in der Kategorie „Reportage“.

von Thomas Willke(Text) und Solvin Zankl (Fotos)

SCHWEINSWALE RUND UM DIE WELT

Sie sind die kleinsten Wale der Welt. Im Gegensatz zu Delfinen haben sie keinen ausgeprägten Schnabel. Sechs Schweinswal-Arten gibt es auf der Welt. Die meisten wiegen zwischen 45 und 115 Kilogramm. Der Weißflankenschweinswal des Nordpazifiks wird allerdings bis zu 200 Kilogramm schwer. Er ist der einzige Hochseebewohner dieser Tiergruppe, alle anderen Schweinswale kommen vor allem in Küstenregionen vor und wandern sogar Flüsse hinauf. Da sich ihre Lebensräume mit denen des Menschen überschneiden, sind sie durch Netze und Umweltverschmutzung stark bedroht.

Fast ausgestorben ist der kleinste aller Schweinswale, der Kalifornische Schweinswal oder „Vaquita“ aus dem nördlichen Golf von Kalifornien. 1958 wurde diese Art erstmals von Forschern entdeckt. 1997 zählte man noch 567 Tiere, 2007 nur noch 150. Jährlich sterben 20 bis 40 Vaquitas in Fischfangnetzen.

Die natürlichen Feinde der kleinen Wale sind große Haie, aber auch ihre Verwandten aus der Großfamilie der Wale: Orcas (Schwertwale) fressen selbst erwachsene Schweinswale. Aber auch Große Tümmler – zu denen der Fernsehdelfin Flipper gehört – töten Schweinswale. Warum, weiß man nicht, denn die Großen Tümmler fressen ihre Opfer nicht. Manche Forscher vermuten, dass es darum gehen könnte, einen Nahrungskonkurrenten zu beseitigen – ähnlich wie bei Löwen, die Leoparden töten. Möglicherweise handelt es sich bei den „Tätern“ auch um „Jugendbanden“ von Tümmlern, die „ zum Spaß töten“, vermuten manche Forscher.

WO SIE SCHWEINSWALE BEOBACHTEN KÖNNEN

In der Natur: Schweinswale sind meerfarben, ihre Rückenflosse hat die Höhe einer durchschnittlichen Ostseewelle. Daher kann man sie fast nur bei ruhiger See beobachten. Am besten geht das von Bord eines Segelboots aus, da die Wale Motorenlärm nicht mögen und vor lauten Booten fliehen. Man findet sie in Deutschland vor allem in der westlichen Ostsee und vor den Nordfriesischen Inseln, in Dänemark an der gesamten Küste. Die größten Vorkommen sind rund um die Insel Fünen. An drei Orten kommen Schweinswale regelmäßig so dicht ans Land, dass man sie von dort aus gut beobachten kann:

• auf der Insel Sylt, zum Beispiel vor Westerland,

• im Naturschutzgebiet Fyns Hoved im Nordosten Fünens,

• am Leuchtturm nahe Strip im Kleinen Belt bei Middelfart.

Fjord og Bælt: Das Informationszentrum auf der dänischen Insel Fünen ist die einzige Einrichtung in Europa, in der man immer Schweinswale unter naturnahen Bedingungen sehen kann. Sie bietet Aquarien und eine sehr informative und gut präsentierte Ausstellung über das Meer, mit vielen Möglichkeiten zum Mitmachen und Ausprobieren für alle Altersgruppen. Die Erklärungen sind auch auf Deutsch verfasst. Im Außenbereich wurde ein Teil des Hafenbeckens abgetrennt, hier leben Seehunde und vier Schweinswale. Die täglich fünf Trainings- und Fütterungseinheiten sind teilweise öffentlich. Mit etwas Glück kann man die Forscher bei ihren Experimenten beobachten. Mehr Informationen unter unter www.fjord-baelt.dk

Beobachtungen melden: Wenn Sie auf See Schweinswale gesichtet haben, geben Sie die Daten bitte weiter zur wissenschaftlichen Auswertung. Bei der Gesellschaft zum Schutz der Meeressäugetiere e.V. gibt es Online-Meldebögen: www.gsm-ev.de

KOMPAKT

· Schweinswale erkunden ihre Umwelt mit einem raffinierten Echoortungssystem.

· Es ist so ausgefeilt, dass Forscher rätseln, wie das Wal-Hirn Fülle und Geschwindigkeit der aufgenommenen Informationen verarbeitet.

· Die Tiere verstehen sich ausgezeichnet darauf, Beutefische akustisch zu täuschen.

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Meereskunde- und Forschungsmuseum Ozeaneum in Stralsund: www.ozeaneum.de

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