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weg mit den WEISEN!

Gesellschaft|Psychologie

weg mit den WEISEN!
In der Finanz- und Wirtschaftskrise hat der „Rat der Wirtschaftsweisen“ erneut bewiesen, dass ihn keiner braucht. Das meint jedenfalls der Berliner Zukunftsforscher Rolf Kreibich. Ein Essay.

ALS „RAT DER WEISEN“ oder als „Rat der Wirtschaftsweisen“ wird gemeinhin der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ bezeichnet. Diese Autorität und Kompetenz suggerierenden Bezeichnungen werden noch übertroffen durch Attribute wie „Olymp der Ökonomen“, „ Hohepriester der Ökonomie“ oder „Kaderschmiede für die Wirtschaftselite“. So und ähnlich wird der Rat in zahlreichen Medien tituliert. Doch wie steht es wirklich um die Weisheit der Olympier, des wichtigsten Rat erteilenden Gremiums der Bundesregierung in Sachen Wirtschaftspolitik, und um dessen jährlich erscheinende Gutachten?

Es fällt auf, dass die Übergaben der Jahresgutachten auf Pressekonferenzen an die Kanzlerin, den Wirtschafts- oder den Finanzminister – in der Regel im November – in den Medien zwar einen hohen Aufmerksamkeitspegel erreichen. Aber außer den Wirtschaftsprognosen für das kommende Jahr sowie einigen guten oder schlechten Noten für die Arbeit der Regierung und des Parlaments ist wenig bis gar nichts Zukunftsträchtiges zu erfahren. Stattdessen wiederkäuen die Weisen die längst öffentlich diskutierten Ansichten zur Konjunkturbelebung, zur Arbeitsmarktentwicklung, zur Sozialpolitik und gegebenenfalls zur Finanzkrise. Es sind die üblichen kurzfristig ausgerichteten Vorschläge, wie sie allenthalben in Politik, Wirtschaft, Mainstream-Wirtschaftswissenschaft und Medien en vogue sind. So verwundert es nicht, dass in den darauffolgenden zwölf Monaten bis zum nächsten Jahresgutachten kaum jemals eine Debatte über das voluminöse Werk folgt. Die Jahresgutachten spielen schlichtweg keine Rolle im Hinblick auf eine Neuorientierung der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik.

Schon äußerlich fällt ins Auge: Die Jahresgutachten umfassen in der Regel über 600 Seiten mit vielen Tabellen und Schaubildern, übrigens fast alles Bekannte aus den allgemein zugänglichen Datenbanken. Aber weder für Politiker, Wirtschaftsmanager oder Gewerkschaftsfunktionäre noch für Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen oder gar für Journalisten ist ein solcher Wälzer lesbar. Zwar muss Quantität nicht gegen Qualität sprechen. Aber die genauere Analyse der Gutachten erbringt in weiten Teilen nur triviale Beschreibungen von ohnehin bekannten Abläufen des wirtschaftlichen und finanzpolitischen Geschehens der vergangenen Monate. Wer halbwegs regelmäßig kompetente Wirtschafts- und Wochenzeitschriften liest, braucht die Gutachten nicht.

Werfen wir einen Blick auf die Aufgaben des „Rates der Weisen“ . Hierzu heißt es auf dessen Homepage: „Der Sachverständigenrat wurde durch Gesetz im Jahre 1963 eingerichtet zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit. … Der Rat hat die gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung zu analysieren, er hat zu untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können.“

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Wirklich weiser Rat sollte also von dieser Institution kommen, nicht nur für heute und morgen, sondern auch für die mittel- und langfristigen Perspektiven der Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Doch weder die Analysen noch die strategischen Ansätze in den Gutachten leisten dies. Besonders aus zukunftswissenschaftlicher und methodologischer Sicht greifen sie viel zu kurz. Es liegt in der Natur der neoliberalen Denkweise der meisten Ratsmitglieder, dass grundlegende ökologische, psychologische und sozial-kulturelle Indikatoren weitgehend ausgeblendet werden. Außerdem fehlen langfristige Analysen, Strategien und Handlungskonzepte.

Dass genau hieraus die meisten kurzatmigen und sogar katastrophischen Fehlentscheidungen resultieren, führen uns Politik und Wirtschaftsunternehmen nahezu täglich vor. Solange aber in der heutigen komplexen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung kurzfristiges Durchwursteln (im Fachslang: „muddling through“) dominiert, wird es keine zukunftsfähigen Perspektiven und Lösungen geben. Und gerade die Wirtschaftsprognosen der „Weisen“ gehören zu den eklatantesten Beispielen für Aussagen mit einer Verfallszeit von nur wenigen Tagen. Wenigstens von der neuesten Ausgabe, veröffentlicht am 12. November 2008, mit dem Bedeutung heischenden Titel „Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“ hätte man angesichts der gigantischen Finanz- und Wirtschaftskrise Erhellendes erwarten können. Aber auch diesmal Fehlanzeige: längst Bekanntes und Banalitäten. Eine Kostprobe gefällig? Im dritten Kapitel, unter der aufregenden Überschrift „Finanzsystem auf der Intensivstation“, liest man:

„Die internationale Finanzkrise hat sich in diesem Jahr weiter verschärft. So haben erstens die Immobilienmärkte in den Vereinigten Staaten und in einer Reihe europäischer Länder nach wie vor keinen Halt gefunden. Zudem sahen sich viele Finanzinstitutionen aufgrund eines rückläufigen Eigenkapitals zu einer Reduktion ihrer Aktiva gezwungen, was die Vermögenspreise zusätzlich belastete. Drittens wirkte sich eine inverse Zinsstruktur nachteilig auf die Ertragssituation der Banken aus. Eine neue Dimension stellte sich mit der Insolvenz von Lehman Brothers am 15. September 2008 ein, die einen völligen Vertrauensverlust auslöste und zum vollständigen Austrocknen des Interbankenmarkts führte“ … und so geht es weiter. Hier zeigt sich ein typischer gravierender Mangel der Gutachten: Anstatt Ursachenanalysen vorzulegen, werden fast durchgängig nur Phänomene an der Oberfläche beschrieben. Das lässt sich über den gesamten Text nachweisen. Es werden eben nicht die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise an den Wurzeln herausgearbeitet, etwa die gigantischen globalen Spekulationen, der im Kern völlig ungeregelte und intransparente Finanzmarkt, das Versagen der nationalen und internationalen Kontrollen oder das vollständige Scheitern der politischen Steuerungs- und Aufsichtsinstitutionen. Stattdessen heißt es im Gutachten: Die Ursachen für den wirtschaftlichen Abschwung seien die abnehmende Industrieproduktion und der Rückgang der Auftragseingänge. Der Erkenntniswert einer solchen Aussage tendiert gegen Null.

Für die Weisheit des Rates spricht sicher auch nicht, dass so wichtige Zielperspektiven wie die Wissenschafts- oder Wissensgesellschaft und die nachhaltige Entwicklung unter den Tisch fallen. Wer heute Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Bürgerschaft beraten will, kann doch nicht mehr an der wahrscheinlich größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts vorbei operieren: Wie wir durch den Einsatz unserer wichtigsten Produktivkraft und Ressource „Bildung, Wissenschaft und Technologie“ erreichen, dass sowohl die ökologischen Krisen und sozialen Disparitäten als auch die Finanz- und Wirtschaftskrisen gelöst werden. Es ist nicht zu verstehen, dass im gesamten Jahresgutachten 2008 die Grundfragen unserer Zeit im Hinblick auf Nachhaltige Entwicklung, Ressourcenprobleme, Umweltbelastungen sowie Chancen von Effizienz- und Umwelttechnologien keine Rolle spielen.

Ein Gutachten zur deutschen beziehungsweise europäischen Wirtschaftsentwicklung müsste wenigstens auf einige dieser zentralen Themen Bezug nehmen, wenn es der Politik, der Wirtschaft sowie der Bürger- und Arbeitnehmerschaft zukunftsfähige Handlungsperspektiven vermitteln will:

· Die Welt braucht dringend sauberes Trinkwasser. Deutschland/Europa hat die besten Wassergewinnungs-, Wasserreinigungs- und Wiederverwendungstechnologien und -systeme.

· Die Welt braucht dringend saubere Energie. Deutschland/ Europa hat gute Energieeffizienztechniken und Regenerative Energiesysteme in allen Sektoren: lndustrie, Haushalte, Infrastrukturen, Dienstleistungen.

· Die Welt braucht dringend materialsparende Produkte und Produktionsverfahren. Deutschland/Europa hat große Erfahrungen in der Wieder- und Weiterverwendung von Produkten und Teilprodukten, in der Wieder- und Weiterverwertung von Wertstoffen, in der ökologischen Produkt- und Verfahrensentwicklung, Kreislaufwirtschaft, Entmaterialisierung von Produkten und Prozessen.

Das sind nur drei Beispiele aus einer langen Liste. Doch das Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2008 sagt zu all diesen zukunftsträchtigen Innovations-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktfeldern nichts. Es widmet sich vorrangig der Finanzentwicklung unter dem Thema „Die Finanzkrise meistern“ – in der oben zitierten oberflächlichen Weise. Dabei ist seit Jahren bekannt, dass ständig zunehmend – im Sommer 2007 mit etwa 4300 Milliarden Dollar täglich – virtuell global spekuliert wurde, und dass hierbei die zentralen Zocker Milliarden und Abermilliarden reale Gewinne gemacht haben, ohne selbst für einen einzigen Dollar Wert zu schaffen. Dieses System musste irgendwann wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Für den Rat der Weisen kam das gleichwohl höchst überraschend. Denn auf Seite 118 des Gutachtens lautet die Überschrift zum Finanzkapitel: „Die unerwartete Ausbreitung der Krise“. So viel zu den prognostischen Fähigkeiten der Weisen.

In der Financial Times Deutschland vom 17.11.2008 finden sich die folgenden Zitate des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck anlässlich des Jahresgutachtens 2008: „Ich glaube denen kein Wort. Wenn man frühere Prognosen mit der eingetretenen Realität vergleicht, merkt man recht schnell, dass diese sogenannten Weisen vor allem viel heiße Luft produzieren. Ich habe Finanzminister Peer Steinbrück deshalb vorgeschlagen, den Sachverständigenrat abzuschaffen.“ Dem hat der Autor dieser Zeilen nichts hinzuzufügen. ■

Rolf Kreibich

ist seit 1981 Direktor und Geschäftsführer des IZT-Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin, einer führenden Einrichtung für Zukunftsforschung in Europa. Der gebürtige Dresdner (Jahrgang 1938) ist auch der Gründer des IZT. Nach dem Studium von Physik, Mathematik, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften leitete Kreibich 1968 das Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. 1969 wurde er zum FU-Präsidenten berufen, ein Amt, das er bis 1976 innehatte. Wichtig ist ihm: Es gibt nie nur eine einzige, unabwendbare Zukunft – es gibt stets mehrere mögliche Zukünfte, die man mitgestalten kann.

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