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kein notstand im bett

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kein notstand im bett
Immer wieder schlagen Psychologen und Schlafmediziner Alarm: Die Hektik in der modernen Nonstop-Gesellschaft lässt angeblich ein immer größeres Schlafdefizit wachsen. Doch neue Studien widersprechen.

„Keiner weiss mehr, wie es ist, hellwach zu sein.“ Bei dieser Aussage kann sich der Schlafforscher Thomas Wehr vom National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland auf den Rückhalt seiner Zunft verlassen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin warnte vor ein paar Jahren: „ Über 40 Prozent aller Deutschen beklagen mindestens ein Symptom von Schlafstörungen.“ Die Schlaflosigkeit hat sich längst in den Köpfen verfestigt, ist Jim Horne vom Schlafforschungszentrum von der britischen Lough-borough University überzeugt. Angeblich rauben die Lebensumstände in den modernen Industrienationen immer mehr Menschen den Schlaf. Mit der zunehmenden Übermüdung käme es zu mehr Krankheiten, Verkehrsunfällen und Patzern am Arbeitsplatz. Immer wieder beklagt ein Großteil der Bevölkerung bei Umfragen, nicht die gewünschte Menge Schlaf zu bekommen. „ Fast jede zweite Frau hat Schlafprobleme“, ergab 2008 eine Umfrage der Techniker-Krankenkasse. Über die Hälfte der unter 35-Jährigen gestand im selben Jahr dem Forsa-Institut, zu kurz zu schlafen.

Eine genaue Bezifferung des kollektiven Schlafdefizits gab es im Jahr 1996 – und wurde zur „Zeitungsente“. In den letzten 100 Jahren, schrieb damals die US-Zeitschrift Atlantic Monthly, habe sich die durchschnittliche Schlafdauer um 20 Prozent verringert. Während die Amerikaner in den späten Dekaden des 19. Jahrhunderts noch im Schnitt neun Stunden an ihren Matratzen horchten, könnten sie inzwischen bloß noch sieben bis siebeneinhalb Stunden dösen. Die schlechte Nachricht ging wie ein Lauffeuer um die Welt. Nachrichtenmagazine brachten Titelgeschichten wie „Notstand im Bett“ oder „Die schlaflose Gesellschaft“. Und auch der Autor dieser Zeilen kolportierte sie 1997 in seinem Buch „Der kleine Schlaf zwischendurch“. Doch als Horne kürzlich die Originalstudie aus dem 19. Jahrhundert sichtete, stellte er fest, dass sich deren Angaben auf Kinder zwischen 8 und 17 Jahren bezogen. Die verbringen im Schnitt auch heute noch volle neun Stunden in Morpheus‘ Armen. Bei Erwachsenen, so Hornes Resümee aus mehreren großangelegten Erhebungen, beträgt die durchschnittliche Schlafdauer seit über 40 Jahren konstant sieben bis siebeneinhalb Stunden. „Tatsache ist, dass die meisten Erwachsenen genügend Schlaf bekommen und dass sich das kollektive Schlafdefizit, falls es überhaupt existiert, nicht verschlimmert hat.“

Der Mangel wird häufig mit der sogenannten Schlaflatenz belegt – der Frist, die Versuchspersonen bei Tag benötigen, um auf Kommando einzuschlafen. Bei mehreren neuen Studien brauchten über 50 Prozent der Probanden weniger als zehn Minuten, um einzudösen. Zehn Minuten gelten als Grenzwert, jede Minute darunter wird als Zeichen einer Schlafstörung gewertet. Aber die Konditionen sind laut Horne so angelegt, dass sie auch das letzte Quantum an Schläfrigkeit herausholen – ein ruhiger, dunkler Raum, die Aufforderung, sich zu entspannen, die Augen zu schließen und langsam einzunicken. Unter diesen verführerischen Bedingungen rasch einzuschlafen, sei kein Symptom eines Defizits. Auch wer sich am Wochenende eine extra lange Auszeit von neun bis zehn Stunden gönnt, demonstriert damit keinen Nachholbedarf. Schließlich essen und trinken wir auch über unsere biologischen Bedürfnisse hinaus, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

Um diese Interpretation zu testen, fragte Horne 11 000 Personen zwischen 20 und 65 Jahren, wie viel Schlaf sie jede Nacht bekamen, wie viel Schlaf sie als nötig erachteten, und was sie am liebsten anstellen würden, wenn sie eine zusätzliche Stunde Zeit am Tag zur Verfügung hätten. Zwar gab die Hälfte der Befragten an, täglich etwa 25 Minuten zu kurz zu schlafen. Aber diese „Mangelschläfer“ waren tagsüber genauso selten müde und schläfrig wie die ausgeschlafeneren Probanden. Und nur eine Minderheit von etwa zehn Prozent äußerte die Bereitschaft, eine zusätzliche „geschenkte“ Stunde in der Horizontalen zu verbringen. Die meisten optierten für aufregendere Alternativen wie Ausgehen, Sport treiben oder Fernsehen.

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Nach der Wiederholung einer Umfrage, die bereits vor 50 Jahren durchgeführt wurde, stieß das Allensbacher Institut für Demoskopie 2008 ins gleiche Horn: Genauso wie vor einem halben Jahrhundert sagten mehr Menschen, dass sie gut ein- und durchschlafen könnten (55 Prozent). Der ältere Teil der Befragten – besonders die über 59-Jährigen – klagte sogar erheblich seltener über Schlafstörungen als früher. „Dieser kontinuierliche Schlafpegel“, sinnieren die Untersucher aus Allensbach, „wirkt deshalb erstaunlich, weil man vor dem Hintergrund vieler Klagen über eine sich immer schneller verändernde und stressiger werdende Wirklichkeit kaum noch glauben mag, dass etwas so Sensibles wie unser Schlafverhalten von all dem unberührt zu bleiben scheint.“

MEHR SCHLAFEN MACHT NICHT FITTER

Der ultimative Test für die Theorie vom kollektiven Schlafnotstand wäre, einer Gruppe durchschnittlicher Schläfer eine Extraportion Schlummer zu verordnen und zu prüfen, ob sie dadurch fitter, frischer und aufgeweckter werden. Genau dieses Experiment hat Horne mit 20 Versuchspersonen im Alter von etwa 25 Jahren gemacht, deren normales Schlafbudget etwa siebeneinhalb Stunden betrug. Einige Probanden wurden dazu angehalten, ihre Nachtruhe um 90 Minuten auszudehnen. Manche Teilnehmer der Kontrollgruppe legten sich am Nachmittag für ein Nickerchen hin, andere peppten sich mit einem starken Kaffee auf. Am Morgen nach der experimentellen Manipulation bekamen die Teilnehmer eine ganze Testbatterie vorgelegt, um Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit zu prüfen. Eindeutiges Ergebnis: Die Verlängerung des Schlafes brachte nicht einmal die Spur einer Verbesserung. Nur wer sich mit einem Nickerchen oder Kaffee „ gedopt“ hatte, war am Nachmittag weniger schläfrig.

ANGEBLICHE GESUNDHEITSSCHÄDEN

Bei der Panikmache um den Schlafnotstand fällt oft das Argument, er würde Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes fördern. Eine Gewichtszunahme ist aber erst bei einem dauerhaften Schlafpensum von unter fünf Stunden zu verzeichnen, betont Horne. Und das betrifft weniger als fünf Prozent der Bevölkerung. Eine konsequente Verringerung der Nahrungszufuhr um 30 Kilokalorien täglich würde das Problem beheben. Metabolische Veränderungen, die das Diabetesrisiko erhöhen, sind sogar erst bei einer längerfristigen Schlafzeit von nur vier Stunden zu beobachten. Aber: Sie bilden sich schon nach einer einzigen ausgeschlafenen Nacht zurück. Vor 150 Jahren, so Horne, malochten unsere Ahnen noch 14 Stunden am Tag, an 6 Tagen die Woche, und zogen sich am Abend in kalte, feuchte und verlauste Betten zurück. „Die Behauptung, wir hätten es heute schlechter, leistet nur hypochondrischer Selbstbespiegelung und einer wachsenden Nachfrage nach Schlaftabletten Vorschub“, meint Horne und empfiehlt: „Wir sollten uns lieber darüber freuen, dass wir heute viel besser schlafen als je zuvor, und versuchen, etwas Produktives aus der gewonnenen Zeit zu machen.“ ■

ROLF DEGEN, Wissenschaftsjournalist in Bonn, hat keine Lust, lange zu schlafen, denn: „Wer sündigt, schläft nicht, und Sünder leben gesünder.“

von Rolf Degen

TIERISCHE SCHLAFGEWOHNHEITEN

Fast alle Tiere schlafen oder zeigen zumindest ein schlafähnliches Verhalten. Selbst die Taufliege Drosophila melanogaster verfällt von Zeit zu Zeit in eine Ruhestarre, die sich nur mit einem kräftigen Koffeincocktail aufhalten lässt, wie der Neurowissenschaftler Giulio Tononi herausfand.

Ein rekordverdächtiger Langschläfer ist die nachtaktive Braune Fledermaus, die sich bis zu 20 Stunden Schlaf pro Tag gönnt. Dagegen rupft die Giraffe schon nach knapp zwei Stunden Nachtruhe wieder an den Baumkronen der afrikanischen Savanne.

Viele Meeressäuger praktizieren eine besondere Form des Halbschlafs, zum Beispiel Delfine. Sie schicken nur eine Hälfte ihres Gehirns ins Land der Träume, während der andere Teil wach in der realen Welt verbleibt – nach ein bis zwei Stunden wird gewechselt. Da die Atmung bei Flipper und Co bewusst abläuft und nicht wie bei uns durch den Atemreflex gesteuert wird, entgehen die Tiere so dem Ertrinken im Schlaf.

Auch viele Vögel beherrschen die Technik des Halbhirnschlafs und können dadurch wenigstens einen Teil ihrer lebensrettenden Wachsamkeit aufrechterhalten. Bisweilen schützt das nicht nur den einzelnen Schnabelträger, sondern die ganze Sippe. Rutscht eine Stockente an den Rand ihrer schlummernden Gruppe, schaltet sie auf Halbhirnschlaf um und hält nach außen hin buchstäblich immer ein Auge offen. Möglicherweise wird diese Strategie auch von Zugvögeln auf ihren kräftezehrenden Langstreckenflügen eingesetzt, um zugleich ruhen und navigieren zu können. NE

KOMPAKT

· Das vermeintliche Schlafdefizit geht auf eine Fehlinterpretation von Daten aus dem 19. Jahrhundert zurück.

· Die durchschnittliche Schlafdauer von sieben bis siebeneinhalb Stunden reicht völlig aus.

· Die wenigsten Menschen würden mehr schlafen, wenn sie mehr Zeit dafür hätten.

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James Horne Sleepfaring – A journey through the science of sleep Oxford University Press Oxford/New York 2006, € 17,99

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Laich|zeit  〈f. 20; Biol.〉 Periode im Jahr, in der Mollusken, Fische u. Amphibien laichen ● die ~ der Erdkröte ist im Frühjahr

See|krank|heit  〈f. 20; unz.〉 durch Störung des Gleichgewichtsorgans infolge anhaltender schaukelnder Bewegung hervorgerufene Krankheit mit Übelkeit, Erbrechen, Schwindel

Gold|ha|se  〈m. 17; Zool.〉 zu den Agutis gehörendes Nagetier mit zitronengelbem Fell: Dasyprocta aguti

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