Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Das Riesen-Renten-

Gesellschaft|Psychologie

Das Riesen-Renten-
Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Doch länger leben heißt länger arbeiten, klagen viele. Woran sie nicht denken: Auch die Dauer der Rente steigt.

Mittlerweile ist es eine Binsenweisheit: Deutschland altert. Auf einen Bürger im Alter von 20 Jahren kommt derzeit rechnerisch einer, der 65 Jahre oder älter ist. 2050 werden einem jungen Menschen zwei Senioren gegenüberstehen. Absehbar war diese Entwicklung schon lange. Seit fast 40 Jahren hat Deutschland eine Gesellschaft mit „Netto-Sterblichkeit“: Es sterben mehr Menschen als geboren werden. Damit verkleinert sich der Anteil der arbeitenden Bevölkerung, die alles am Laufen hält und nicht zuletzt für den Lebensunterhalt der Älteren aufkommt. Die öffentliche Debatte ist von Sorgen bestimmt: Wird die Zahl der Gebrechlichen zunehmen? Ist der gut ausgebaute Sozialstaat noch zu finanzieren? Und wer soll die Renten erarbeiten, wenn es immer weniger Junge gibt?

Die führenden Alternsforscher sehen die Situation nicht so pessimistisch. „Die gute Nachricht ist, dass wir beim Altern die meiste Zeit gesund sind“, sagt James Vaupel, Direktor des Rostocker Max-Planck-Instituts (MPI) für demografische Forschung. Das gelte für die 70-Jährigen und sogar noch für viele 80-Jährige. Der gebürtige New Yorker ist selbst 66 Jahre alt und hofft, noch weitere zwei Jahrzehnte arbeiten zu können. Axel Börsch-Supan, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, wird in zwei Jahren sein siebtes Lebensjahrzehnt beginnen. Als alt sieht er sich nicht. „Wir müssen unsere Definition des Alters dynamisieren“, meint der Wirtschaftsexperte, der am MPI das „Münchener Zentrum für Ökonomie und Demographischen Wandel“ (MEA) leitet. Ließe man das Alter zum Beispiel mit 70 Jahren beginnen, würde sich die Zahl der älteren Menschen im Vergleich zu früher nicht erhöhen.

EiN FAULER REChentrick?

Dies ist nur ein Trick, um das demografische Problem verschwinden zu lassen, könnte man sich echauffieren. Doch der Hintergrund ist real: In den Industrienationen steigt die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahrzehnten. Die Definition von Alter hat sich dem kaum angepasst, wie eine Studie des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien zeigt. Der Ökonom Warren Sanderson und der Systemtheoretiker Sergei Scherbov haben diese Erkenntnis bereits 2005 im Fachmagazin Nature veröffentlicht. Beide Autoren haben wichtige Beiträge dazu geliefert, wie man die Dynamik des Alterns messen kann. Das ist keine akademische Frage, denn es geht um viel Geld: um die Kosten einer alternden Bevölkerung und um das Rentensystem. Und damit geht es zwangsläufig auch ums Renteneintrittsalter.

Bislang beruhen Schätzungen für diese Größen auf dem sogenannten Altersquotienten (kurz: OADR, Old Age Dependency Ratio), der aus verschiedenen Statistiken gebildet wird. Der Quotient gibt an, wie sich die Zahl der Rentner (65 plus) zu der Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) verhält. Für Deutschland liegt dieser Wert bei 0,33. Auf 100 Personen im arbeitsfähigen Alter kommen also 33 im Rentenalter. Bis 2050, so die derzeitige Schätzung, werde sich dieser Quotient fast verdoppeln. Dann stünden 100 Personen im arbeitsfähigen Alter über 60 Rentner gegenüber. Diese Zahl lässt jeden vorausdenkenden Sozialpolitiker schaudern. Wer soll für die künftige Kostenlawine aufkommen?

Anzeige

Doch diese Zahlen seien irreführend, heißt es in der IIASA-Studie. Man gehe dabei stets von einer festen Altersgrenze aus, ab der ein Mensch wirtschaftlich gesehen nur noch Geld kostet. „Faktoren wie die verbleibende Lebenserwartung und der Anteil der nicht Arbeitsfähigen sind jedoch nicht statisch. Sie verändern sich, auch in Zukunft“, sagt Warren Sanderson.

40 sind die neuen 30

Vor 200 Jahren erreichten in Westeuropa knapp 25 Prozent der Männer das 60. Lebensjahr. Heute sind es über 90 Prozent. Und die heutigen 60-Jährigen haben im Schnitt noch etwa so viele Lebensjahre vor sich wie ein 43-jähriger Mann im Jahr 1800. Diese Entwicklung wird oft mit dem Schlagwort „40 sind die neuen 30″ beschrieben. Mit einer neuen Maßzahl tragen Sanderson und Scherbov dieser Entwicklung Rechnung: Sie definieren ein prospektives Alter, das die steigende Lebenserwartung berücksichtigt (siehe Kasten „Das Alter neu berechnet“, S. 69). Daraus ermitteln sie den prospektiven Altersquotienten (kurz POADR, Prospective Old Age Dependency Ratio).

Damit ändert sich das Bild: Im Jahr 2048 liegt der prospektive Altersquotient in Deutschland bei 0,34. Dieser Wert entspricht annähernd dem heutigen Altersquotienten: Während zurzeit 100 Personen im Alter zwischen 15 und 64 für 33 Personen im Rentenalter aufkommen müssen, wäre es laut POADR 2050 nur ein Rentner mehr. Umsonst gibt es das freilich nicht: Es funktioniert nur, wenn die Menschen künftig später in Rente gehen.

Für die Zukunft des Alters ist neben der Lebenserwartung auch der Gesundheitszustand wichtig. Das Schreckensbild, das viele mit der Überalterung verbinden, ist eine Gesellschaft von dahinsiechenden, pflegebedürftigen Senioren. Ein derartiges Szenario scheint aber überzogen zu sein, wie Sanderson und Scherbov mit ihrer jüngsten Untersuchung zeigen. Dafür entwickelten sie eine weitere Maßzahl, den Pflegequotienten ADDR (Adult Disability Dependency Ratio). Der misst den Pflege- oder Betreuungsbedarf einer Gesellschaft.

Diese Berechnung setzt die Zahl aller mindestens 20-jährigen Erwachsenen, die gesundheitlich beeinträchtigt sind, ins Verhältnis zur Zahl der Gesunden. Anders gesagt: Dieser Quotient zeigt, wie viele Pflegebedürftige denen gegenüberstehen, die Pflege leisten können. Für Deutschland zur Jahrhundertmitte lautet die ADDR-Prognose, dass von 100 Erwachsenen 15 gesundheitlich beeinträchtigt sein werden. Solche Vorhersagen beruhen vor allem auf der Fortschreibung aktueller Trends und können über einen längeren Zeitraum durchaus von der Realität abweichen. Als Richtschnur sind sie grob, aber brauchbar.

älter, aber auch gesünder

Bis zur Jahrhundertmitte verdoppelt sich demnach der übliche Altersquotient nahezu, während der prospektive von heute 0,21 auf 0,34 steigt, also nur etwa um ein Drittel. Und der Pflegequotient bleibt annähernd gleich. Dieser Trend gilt für alle zehn untersuchten europäischen Länder sowie die USA und Japan. „Die Bevölkerung wird zwar älter, aber sie wird gleichzeitig auch gesünder“, folgert der Systemtheoretiker Sergei Scherbov. „Beide Effekte heben sich gegenseitig auf.“

Heutige und künftige Ruheständler sind längst nicht mehr so gebrechlich wie frühere. Viele Menschen jenseits der 65 benötigen zunächst keine Pflege durch andere. Die zusätzliche Lebenserwartung schafft also nicht mehr Siechtum – im Gegenteil: „ Das Siechtum schrumpft überproportional, sodass die sogenannte gesunde Lebenserwartung noch schneller ansteigt als die eigentliche Lebenserwartung“, sagt der Münchener MPI-Direktor Axel Börsch-Supan. Zwar seien ökonomische Fragestellungen wichtig, so der Alternsforscher. Aber statt nur auf die Kosten zu schauen, sollte man erst einmal genießen: „Alt werden ist eine riesige Chance. Über mehr Lebenszeit zu verfügen, kann doch nur etwas Tolles sein.“ Daran gemessen sei die Kostendiskussion fehlgerichtet.

LÄnger LEben – Der Staat zahlt

Freilich hat ein längeres Leben auch seinen Preis: „Arbeit ist unsere Lebensgrundlage. Verlängert sich unser Leben, müssen wir auch mehr arbeiten“, meint der Max-Planck-Forscher. Noch gibt es in den entwickelten Ländern die zusätzlichen Lebensjahre für die Ruheständler umsonst. Doch sie leben zum Teil auf Kosten künftiger Generationen. Das meinen auch die Ökonomen Hans Groth aus der Schweiz und Nicholas Eberstadt aus den USA. Sie sehen in den 34 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einen Zusammenhang zwischen der Staatsverschuldung und der Zahl der Menschen über 65 Jahre.

Vor zwei Jahrzehnten gab es diese klare Korrelation noch nicht. Doch inzwischen sei die parallele Entwicklung vom „Grad des Vergrauens“ eines Staates und seiner Verschuldung kaum mehr zu leugnen, so die Ökonomen. Natürlich verleitet nicht allein die Alterung der Gesellschaft zum Schuldenmachen. Doch die altersbedingten Ausgaben wie Renten und Pensionen steigen vor allem, weil die Menschen länger leben. Ein großes Problem sind beispielsweise die Pensionslasten der Bundesländer: Wie eine Arbeitsgruppe um Bernd Raffelhüschen vom Institut für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg 2005 berechnete, werden die Pensionen der westlichen Bundesländer etwa 2020 über 20 Prozent der Steuereinnahmen in Anspruch nehmen. 2001 lag diese sogenannte Versorgungssteuerquote bei rund 10 Prozent. „Nach grober Schätzung ist in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die Alterung als Ursache für etwa die Hälfte des Schuldenzuwachses anzusehen“, meint Hans Groth, der an der Universität Sankt Gallen Demographie lehrt und dem Vorstand des Pharmaunternehmens Pfizer angehört.

Groth hält große Stücke auf die Alters- und Pflegequotienten von Sanderson und Scherbov. „Die entwickelten Länder müssen das im vergangenen Jahrhundert entstandene Sozialstaatsgefüge neu ausbalancieren“, sagt der Schweizer, „und da bieten diese Maßzahlen eine gute Orientierung.“

Die neue Balance ist längst überfällig. Das zeigt auch die OECD-Studie „Renten auf einen Blick 2011″. Als die staatlichen Rentensysteme entstanden, hatten die Menschen nur wenige Jahre Ruhestand vor sich – sofern sie das Rentenalter überhaupt erreichten. Inzwischen können sich in den OECD-Ländern 65-jährige Männer im Schnitt auf weitere 17, Frauen gleichen Alters auf weitere 21 Lebensjahre freuen. Zudem scheiden viele bereits vor ihrem 65. Geburtstag aus dem Arbeitsleben aus. Vor allem in Frankreich sank im Lauf der letzten Jahrzehnte das Renteneintrittsalter immer weiter, während die Bezugsdauer anstieg.

Nicht nur Sozialpolitiker, auch viele Demographen hat diese Entwicklung überrollt: Seit Statistiker Vorhersagen über die künftige Lebenserwartung treffen, lagen diese Schätzungen fast immer zu niedrig, zeigt die Renten-Studie der OECD. Offenbar wurde der medizinische Fortschritt durchgängig unterschätzt. Es ist nicht auszuschließen, dass auch die gegenwärtigen Prognosen zu konservativ sind. So sagt das Statistische Bundesamt voraus, dass sich die Lebenserwartung weiterhin pro Jahrzehnt um etwa anderthalb Jahre erhöhen wird. Der Rostocker MPI-Direktor James Vaupel und andere gehen vom doppelten Wert aus.

aUF DEM NIVeau von 1949

In den 1960er-Jahren begann in den OECD-Ländern das offizielle Renteneintrittsalter im Durchschnitt zu sinken. In einigen Ländern – wie in Deutschland oder den USA – ist es gleich geblieben. Seit Mitte der 1990er-Jahre steigt es im OECD-Durchschnitt langsam wieder an. Für 2050 rechnen die Autoren der OECD-Studie hoch, dass das durchschnittliche Renteneintrittsalter nur wenig über dem Wert von 1949 liegen wird, bei 64,3 Jahren – und das trotz der stark gestiegenen Lebenserwartung.

Wie sieht es in Deutschland aus? Hier wird das offizielle Renteneintrittsalter bis 2030 schrittweise von 65 auf 67 Jahre steigen. Gewerkschaften, etliche Parteien und viele Bürger sind dagegen – „aufgrund eines Riesen-Missverständnisses“, meint Börsch-Supan. Denn man knöpfe den Menschen eben keine zwei Jahre von der Rentenzeit ab. Im Gegenteil: Nach konservativen Schätzungen ist die durchschnittliche Lebensdauer der Deutschen um drei Jahre gestiegen, wenn 2030 das neue Renteneintrittsalter erreicht ist. Davon muss man zwei Jahre arbeiten, und ein Jahr zusätzliche Rente kommt oben drauf. Die Rentenbezugszeit verlängert sich damit durchschnittlich von 17,5 auf 18,5 Jahre.

2050 müssten ohne die Reform 100 arbeitende Bundesbürger 64 Ruheständler unterstützen, mit der Reform sind es nur 56. Aber auch das sind deutlich mehr als die 33 Rentner pro 100 Arbeitende, die bereits heute versorgt sein wollen. Es ist also schon abzusehen, dass man bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht bleiben kann.

Ein fixes Rentenalter trotz einer weiterhin alternden Gesellschaft geht zu Lasten der jüngeren Generationen. Warren Sanderson und Sergei Scherbov schlagen deshalb vor, das Rentenalter unter Einschluss des prospektiven Alters festzulegen. Damit könne man der steigenden Lebenserwartung Rechnung tragen. Bei konstantem prospektivem Alter müssten die Deutschen 2050 bei diesem Ansatz mit 73 Jahren in Rente gehen. Teilt man die zusätzlich gewonnenen Jahre auf die Lebensarbeitszeit und die Rentenzeit auf, könnte der Ruhestand auch früher – etwa im Alter von 70 oder 71 Jahren – beginnen.

Doch vielleicht wird es dann überhaupt kein offizielles Rentenalter mehr geben. James Vaupel plädiert dafür, die verpflichtende Altersgrenze abzuschaffen. Wie viel Rente jemand bekommt, soll schlicht davon abhängen, wie lange er in seinem Leben gearbeitet hat. Auch Axel Börsch-Supan findet diesen Weg vernünftig.

Das müsse allerdings, wie er sagt, „versicherungsmathematisch“ klug geregelt werden. Das jetzige Rentensystem habe Schlagseite: Es sei so ausgelegt, dass sich mehr Arbeit nicht lohne. „Viele über 65-Jährige arbeiten, ohne dass ihre Rente steigt“, erläutert Börsch-Supan das Problem. Frührentner hingegen hätten nur mit geringen Abschlägen zu rechnen. Versicherungsmathematisch ausgewogen wäre der umgekehrte Fall: Wer sehr früh in Rente geht, erhält eine sehr viel niedrigere Rente als heute – wer länger arbeitet, eine deutlich höhere. „Dann könnte man das verbindliche Rentenalter ganz abschaffen und die Entscheidung dem Einzelnen überlassen“, meint der Ökonom. Es ist ein vertracktes und emotionales Thema. In einer Forsa-Umfrage vom Sommer 2010 sprachen sich nur sieben Prozent der Deutschen für die Rente mit 67 aus. Viele wünschten sich sogar ein früheres Renteneintrittsalter als 65 Jahre.

Mit Frührente häufiger DEPRESSIV

Doch ein früher Ruhestand macht nicht alle glücklich. Das haben auch Untersuchungen des MEA seit 2005 gezeigt, betont Axel Börsch-Supan. Ein Drittel der Frührentner, so das Ergebnis, habe den Schritt bereut. „Sie verlieren Sozialkontakte, werden eher einsam, haben häufiger Depressionen und werden schneller krank“, nennt der Forscher die Gründe. Ähnliches förderte eine Studie Schweizer Forscher zutage, die das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit 2010 veröffentlichte. Sie trägt den sinnigen Titel „ Fatal Attraction?“ (zu Deutsch: „Tödlicher Reiz?“): Untersucht wurden österreichische Industriearbeiter, die nicht aus Krankheitsgründen, sondern aufgrund von Betriebsstilllegungen in Frührente gehen mussten. Bei ihnen erhöhte sich signifikant die Wahrscheinlichkeit, vor 67 zu sterben. Der Grund: eine deutliche Verschlechterung ihrer Gesundheit.

Für einen Teil der Beschäftigten scheint ein früher Ruhestand also nicht positiv zu sein. Auch das spricht für ein flexibles Renteneintrittsalter. Doch genau bei dieser Flexibilität hakt es. Das größte Alternsproblem sei unsere Zögerlichkeit, uns an eine veränderte Welt anzupassen, findet Börsch-Supan. „Der Glaube, man könnte noch so leben wie in den 1950er-Jahren, zieht sich durch weite Bereiche unserer Gesellschaft.“ In Bezug auf den demographischen Wandel sei das wirklich fatal. ■

HEINZ HOREIS schrieb in bdw 8/2011 über biologische Unsterblichkeit. Da lag es nahe, Ökonomen zur steigenden Lebenserwartung zu befragen. Ronald Frommann hat fest vor, noch lange mit der Kamera in der Hand die Welt zu entdecken.

von Heinz Horeis (Text) und Ronald Frommann (Fotos)

Das Alter neu berechnet

Der traditionelle Altersquotient (rot) verdoppelt sich fast bis zum Jahr 2048 – von 0,33 auf 0,6. Das heißt: Während heute auf 100 Arbeitsfähige 33 Rentner kommen, wären es dann 60.

Das neue Konzept des „prospektiven Alters“ bezieht die steigende Lebenserwartung mit ein. Warren Sanderson und Sergei Scherbov, die Väter des Begriffs, ordnen dafür den Menschen ein Alter zu, das von der Lebenserwartung ab einem bestimmten Bezugsjahr abhängt – und nicht von den gelebten Jahren. Das Verfahren entspricht einer Inflationsbereinigung von Ökonomen.

Für den „prospektiven Altersquotient“ (blau) legen die Wissenschaftler eine Schwelle fest, ab der Menschen als „alt“ gelten sollen: nämlich dann, wenn ihre Lebenserwartung unter 15 Jahre fällt. Dabei wird die Zahl der Menschen mit einer verbleibenden Lebenserwartung von bis zu 15 Jahren in Relation gesetzt zur Zahl jener, die mindestens 20 Jahre alt sind und eine Lebenserwartung von über 15 Jahren haben. Nach dieser Rechnung steigt der Quotient bis 2048 nur auf 0,34. Es müssten dann also bloß 34 Rentner von Berufstätigen versorgt werden und nicht 60 Rentner, wie nach der veralteten Rechnung.

Der Pflegequotient (grün) zeigt an, wie viele Pflegebedürftige wie vielen gesunden Menschen über 20 gegenüberstehen. Der Anteil steigt in den nächsten Jahrzehnten kaum.

Kompakt

· Altern ist dynamisch: Die heute 40-Jährigen sind die neuen 30-Jährigen.

· Sinnvolle Maßzahlen für die Alterung der Bevölkerung müssen Lebenserwartung und Gesundheitszustand einbeziehen.

· Die sogenannte gesunde Lebenserwartung steigt noch schneller als die eigentliche Lebenserwartung.

Mehr zum Thema

INTERNET

Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock: www.demogr.mpg.de

Munich Center for the Economics of Aging: mea.mpisoc.mpg.de

OECD-Studie „Renten auf einen Blick 2011″: www.oecd.org/document/4/0,3746,de_34968570_34968855_ 38723716_1_1_1_1,00.html

Infos des Ökonomen Hans Groth (auf Englisch): www.demographic-challenge.com

Wie viel Zeit nach dem Berufsleben bleibt

Die Rentendauer hängt von zwei Faktoren ab: der Lebenserwartung und dem offiziellen Renteneintrittsalter. Für Deutschland gilt: Obwohl die Rente künftig später beginnt, werden die Menschen länger im Ruhestand sein. Auch in Italien wird das Rentenalter angehoben – doch hier spüren die Rentner den Zeitverlust. Norweger müssen bereits heute bis 67 arbeiten und haben deshalb weniger Rentenzeit. Polnischen Männern bleiben wegen ihrer relativ geringen Lebenserwartung nur rund 15 Jahre. Türken können in Rente gehen, wenn sie 20 Jahre eingezahlt haben. Dort stehen den Männern heute über 30 Rentenjahre bevor, den Frauen sogar 37.

Ohne Titel

Fleißige Koreaner, bequeme Luxemburger

Das offizielle Rentenalter und der tatsächliche Renteneintritt klaffen in vielen OECD-Ländern deutlich auseinander. Koreaner arbeiten etwa bis sie 70 sind, obwohl sie mit 60 Jahren aufhören können. Luxemburger steigen hingegen rund sieben Jahre vor dem Rentenalter aus. Deutsche und Österreicher machen ebenfalls häufig früher Schluss, während die Schweizer Nachbarn ihr Soll erfüllen. Am längsten arbeiten die Mexikaner – zwar nicht offiziell, aber tatsächlich.

Bernhard Gehring

hat einen einzigartigen Beruf: Er erteilt Schülern der Oberstufe in persönlichen Gesprächen intensive Berufsberatung und steht damit – nach eigenen Angaben – allein im Bundesland Hamburg. Die individuellen Beratungsstunden hat er während seiner aktiven Zeit als Gesamtschullehrer angeregt. Den dringenden Handlungsbedarf konnte er schon in den 1970er-Jahren nicht länger ignorieren. „Ich habe mit dem naiven Glauben angefangen, guter Wille würde schon ausreichen“, erinnert sich der Pragmatiker. Angesichts der neuen Herausforderungen folgten dann eine Fortbildung in Gestaltungspädagogik, eine Ausbildung zum Beratungslehrer und schließlich zum Gestalttherapeuten. Heute arbeitet der 72-jährige Pensionär zwei Tage die Woche als Schülerberater. Er analysiert Talente, vermittelt Adressen, überprüft Bewerbungsunterlagen und wird dabei nicht selten zum Ansprechpartner für die privaten Probleme der jungen Erwachsenen. Wenn die sich dann überschwänglich bedanken, winkt er ab: „Ich tu‘ nur was für mich.“

Eckhard Schache

ist nicht außer Gefecht zu setzen. Nachdem er einen Herzinfarkt erlitten hatte und mit 60 Jahren in Rente gehen musste, nahm er sein Arbeitsleben noch einmal in die Hand. Der studierte Maschinenbauer hatte über 30 Jahre als Konstrukteur und Betriebsleiter in einem kunststoffverarbeitenden Unternehmen in Neumünster gearbeitet. Kaum in Frührente, gründete er die Firma „ Schache Lichtsysteme“, die noch immer erfolgreich ist. Hier konstruierte und verkaufte er Lampen, für die er die Metallteile selbst herstellte. Sein Engagement und seine langjährige Erfahrung sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt: Heute arbeitet er als Techniker bei einem Tochterunternehmen seines ehemaligen Arbeitgebers und bei einer weiteren Firma als technischer Berater. Der 70-jährige Großvater, der zweimal in der Woche sein Enkelkind betreut, resümiert: „Man muss aktiv sein, dann ist das Leben auch interessant.“

Heinrich Wulf

wird in Bäckerkreisen auch „Heinrich III.“ genannt. Nach Großvater Heinrich und dem gleichnamigen Vater ist der heute 73-Jährige der dritte Inhaber der „Bäckerei Heinrich Wulf“ in Hamburg-Eimsbüttel. Aufgewachsen in der elterlichen Backstube ist er seit über 50 Jahren in dem Familienbetrieb tätig. Außerdem gehört der traditionsbewusste Bäcker- und Konditormeister seit Jahrzehnten dem Gesellenprüfungsausschuss an. Als Vorbild für künftige Rentnergenerationen will Heinrich Wulf aber nicht herhalten. Weil er in den Familienbetrieb eingebunden ist, sieht er sich in einer besonderen Situation. Er arbeitet heute zwar noch immer mit Freude, jedoch auch aus Pflichtbewusstsein seinem Nachfolger gegenüber – das Hauptgeschäft hat inzwischen Sohn Heinrich übernommen.

Leni Ramcke

hat das Motto: „Willst du lange leben, musst du dich bewegen!“ Die 73-jährige Pferdezüchterin aus Schleswig-Holstein weiß den Wert lebenslanger Arbeit aus eigener Erfahrung zu schätzen. Über die Zeit nach dem frühen Tod ihres Mannes sagt sie heute: „Arbeit und Pferde haben mir den Schmerz genommen.“ Seit die vollblütige Norddeutsche als Kind die Pferde auf dem elterlichen Bauernhof versorgte, hat sie die landwirtschaftliche Arbeit nie ruhen lassen. Dem Rinderhof ihres Ehemanns machte zunächst die wachsende Konkurrenz durch die intensive Viehwirtschaft zu schaffen. Doch der Familienbetrieb fand seine Nische und stellte sich auf die Haltung und Zucht von Pferden um – eine Aufgabe, die Leni Ramcke mit Begeisterung erfüllt. Heute führt ihr Sohn die Pferdepension und überlässt seiner rüstigen Mutter den Zuchtbetrieb. Die Pferdehaltung bringt tägliche körperliche Arbeit an der frischen Luft und viele persönliche Kontakte mit sich. „Dadurch bin ich fit geblieben“, ist Leni Ramcke überzeugt. „Und dafür verzichte ich auch gerne auf teure Reisen.“

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Po|ly|his|tor  〈m. 23; veraltet〉 jmd., der in vielen Fächern Kenntnisse besitzt, Vielwisser [<grch. polys … mehr

Ab|tei|lung  〈f. 20〉 I 〈unz.〉 das Abteilen, Abtrennung, Loslösung, Zerlegung II 〈[–′––] zählb.; Abk.: Abt.〉 1 Abschnitt, Teil eines gegliederten Ganzen … mehr

MKS–Sys|tem  〈n. 11; unz.〉 1 〈früher〉 auf den Grundeinheiten Meter, Kilogramm u. Sekunde beruhendes physikal. Maßsystem, später zum MKSA–System erweitert 2 〈heute〉 SI–System … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige