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Tropfsteinkreis und Bärenschädel

Allgemein

Tropfsteinkreis und Bärenschädel
Ritus, Tradition, Religion – die Geisteswelt der Neandertaler. Trotz Gen-Analyse, die ihn vom Stammbaum des modernen Menschen entfernt: Es ist schwerer als je zuvor, den urtümlichen Einzeitjäger zum tumben Wilden zu degradieren. Neue Funde lassen an Ahnenverehrung und Bärenkult denken.

Die Forschungsgeschichte des Neandertalers währt nun schon mehr als 140 Jahre. Diese urtümliche Menschenform, die in ihrer “klassischen” Ausprägung vor etwa 120000 bis 30000 Jahren in Europa und im Nahen Osten lebte, gehört zu unseren vertrautesten zeitlichen Vorläufern. Doch wenn wir auch viele Details über Körperbau, Werkzeuggebrauch, Wohnweise und Jagdtechniken kennen, ist uns doch eines so fern wie eh und je: die geistige Welt der Neandertaler.

Daß man diesen robusten Jägern und Sammlern etwas, was diesen Namen verdient, überhaupt zutrauen darf, dafür sprechen harte Indizien – so auch Deutschlands aktuellster Neandertaler-Fund: ein versteinertes Schädeldach, entdeckt im Krater eines längst erloschenen Vulkans bei Ochtendung im Kreis Mayen-Koblenz.

Die Kraterfüllungen der vor 700000 bis 400000 Jahren entstandenen Vulkankegel der Osteifel haben sich schon häufig als archäologische Fundstellen entpuppt. Nachdem die Vulkane erloschen waren, füllten sich die tiefen Kratermulden nach und nach mit fruchtbarem Löß und anderen Sedimenten. Vor allem während der Mittleren Altsteinzeit – vor 300000 bis 35000 Jahren – dienten diese Mulden als Jagd- und Lagerplätze. Durch die heutige industrielle Nutzung alter Vulkane als Steinbrüche sind allerdings etliche potentielle Fundstellen bedroht.

Um möglichst viel davon zu retten, kontrolliert die Archäologische Denkmalpflege Koblenz regelmäßig den Steinbruch-Abtrag. Dabei fand der Konservator Dr. Axel von Berg vor Jahresfrist in einer lößgefüllten Kratermulde des Vulkans “Wannenköpfe” drei zu einem kompletten Schädeldach zusammenfügbare Knochenstücke. Die einzigen Begleitfunde waren drei von Menschenhand bearbeitete Steinwerkzeuge in direkter Nähe des Schädeldachs.

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Aufgrund der Fundlage – aus einer Sedimentschicht unter vulkanischer Asche, die aus der letzten Warmzeit (Eem-Interglazial) stammt – ergibt sich ein Alter zwischen 160000 und 130000 Jahren. Diese geologische Einstufung deckt sich gut mit der zeitlichen Einordnung der Steinwerkzeuge (etwa 300000 bis 35000 Jahre alt) und der Einschätzung der Paläoanthropologie.

Die Neandertaler-Spezialistin Dr. Silvana Condemi vom Institut de Paléontologie Humaine in Paris hat das Fossil untersucht.

Die französische Forscherin hält den Fund für das Relikt eines Prä-Neandertalers aus der letzten Phase der Entwicklung zum klassischen Neandertaler – mindestens 120000 bis 130000 Jahre alt. Beim Prä-Neandertaler sind die typischen Merkmale seines Nachfahren, unter anderem die auffälligen Überaugenwülste, noch nicht so stark ausgeprägt.

Die sehr robust wirkenden Knochen – zusammengesetzt ist das Schädeldach 17,5 Zentimeter lang, 14,5 Zentimeter breit und einen Zentimeter dick – sind gut erhalten. Silvana Condemi ist der Ansicht, daß es sich um die Reste eines etwa 30 bis 45 Jahre alten Mannes handelt. Seinerzeit war das ein Mann stattlichen Alters.

Das Schädelstück trägt verräterische Spuren: Am rechten Scheitelbein befinden sich mehrere Schnitte von wenigen Zentimetern Länge. Sie belegen eindeutig eine Bearbeitung des Schädeldachs durch damalige Zeitgenossen. Alle äußeren Bruchstellen sind abgerundet – gegen natürlichen Abrieb in Gesteinsschutt spricht jedoch nicht nur die Art der Abrundung, sondern auch der Erhaltungszustand der gesamten Fundoberfläche.

Die Artefaktfunde liefern weitere Hinweise. Die Kanten der Stücke – es handelt sich um einen Schaber aus Feuerstein, einen Kernstein aus Quarzit und eine Klinge aus Quarz – sind scharf und ohne Abriebspuren durch Transport im Sediment. Auch das spricht klar dafür, daß sie einst absichtlich hier abgelegt wurden. Außerdem lagen sie nahe beieinander, und in der Umgebung gab es keinerlei weitere Funde.

Dahinter könnte meiner Ansicht nach folgendes Szenario stehen: Als der Mann starb, war er für seine Zeit sehr alt und erfahren – und deshalb hoch geachtet. Nach seinem Ableben wurde ihm die Schädeldecke entnommen – daher die Schnittspuren. Dieses Schädeldach wurde bei traditionellen, vielleicht auch religiösen Handlungen benutzt, beispielsweise bei der kultischen Verehrung dieses geschätzten Ahnen. Das hinterließ Gebrauchsspuren am Knochen: daher die abgerundeten Kanten.

Der letzte Akt war die Niederlegung der Schädeldecke. Zusammen mit den drei Steinwerkzeugen, Dingen des täglichen Gebrauchs, wurde das Relikt am heutigen Fundort deponiert. Solche “Sekundärbestattungen” sind noch heute bei einigen Naturvölkern üblich.

Ob dieses Szenario das Geschehen richtig wiedergibt, ist nicht zweifelsfrei beweisbar. Fest steht, daß der Fund im Eifelvulkan nicht einfach als Teil oder Folge des täglichen Überlebenskampfes zu erklären ist.

Das gleiche gilt für einen ebenso eindrucksvollen wie rätselhaften Fund aus der Grotte de Bruniquel in den französischen Pyrenäen. Nach dreijähriger Arbeit war die Höhle 1990 erstmals zugänglich. Sie wurde von einem Team um Franìois Rouzaud und den Höhlenforscher Michel Soulier auf einer Länge von über 500 Metern erforscht.

Auf den ersten 70 Metern finden sich mehr als 80 Bärenschlafplätze in Form flacher Mulden, jedoch kaum Bärenknochen. Nach etwa 300 Metern öffnet sich ein 30 Meter langer und 25 Meter breiter Saal, der 1993 erforscht wurde. In seiner Mitte stießen die Höhlenforscher auf zwei kniehohe Ringwälle aus abgebrochenen beziehungsweise ausgerissenen Tropfsteinen. Der kleinere Ring hat einen Durchmesser von zirka zwei Metern, der größere von fünf bis sechs Metern. Beide können nur durch Menschenhand entstanden sein.

In der nördlichen Mauer des großen Rings liegt eine Feuerstelle mit angebrannten Bärenknochen – ein Glücksfall, da der organisch gebundene Kohlenstoff eine genaue Datierung erlaubte. Das Ergebnis: 47600 Jahre alt. Hélène Valladas vom Centre des Faibles Radioactivités in Gif-sur-Yvette hält das für den unteren Grenzwert. Die Feuerstelle könne durchaus einige tausend Jahre älter sein.

Doch ob “nur” 48000 Jahre alt oder älter – dieser Fund in den Pyrenäen ist von herausragender Bedeutung. Denn es müssen Neandertaler gewesen sein, die die Tropfsteinkreise errichteten: Im Westeuropa jener Epoche lebten nach allem, was heute bekannt ist, noch keine anatomisch modernen Menschen – die wanderten erst vor frühestens 40000 Jahren aus Afrika und Nahost ein. In Westeuropa sind unsere direkten Vorfahren nicht vor etwa 35000 Jahren greifbar (Jüngere Altsteinzeit, “Cro-Magnon”-Mensch).

Offenbar waren es also Neandertaler, die in das tiefe Innere der Grotte de Bruniquel vordrangen. Zu welchem Zweck sie die Steinwälle schufen und welche Bedeutung dieser außergewöhnliche Ort in ihrer Vorstellung hatte, bleibt im Dunkel. Mit Lebensunterhalt hatte die Anlage nichts zu tun, soviel ist klar.

Vielleicht spielte der Höhlenbär die entscheidende Rolle. Es gibt vielfache Hinweise auf eine besondere Wertschätzung dieses Tiers im steinzeitlichen Europa. Seit Anfang der dreißiger Jahre berichten Forscher immer wieder von Funden auffällig zurechtgelegter Knochen. Vieles davon ist allerdings heute nicht mehr überprüfbar, einiges ist sogar widerlegt.

Anders verhält es sich mit einer 1994 präsentierten Entdeckung im Bihor-Gebirge in Westrumänien. 1987 hatten Wissenschaftler vom Speläologischen Institut in Bukarest in der Pestera Rece (“Kalte Höhle”) einen 90 Meter langen Gang aufgespürt, in dem zahlreiche Höhlenbärenschädel lagen.

Nach der Art, wie einige dieser Schädel angeordnet sind, müssen Menschen ihre Hand im Spiel gehabt haben. So urteilt jedenfalls Cristian Lascu aus der Forschergruppe. Diese Menschen müssen wiederum klassische Neandertaler gewesen sein: Die Datierung an der Universität von Texas ergab ein Alter der Funde von zirka 80000 Jahren.

Bedeutendster Beleg sind vier Schädel im Zentrum des Ganges. Offenbar in die vier Himmelsrichtungen weisend, sind sie – Hinterhaupt an Hinterhaupt – zu einem Kreuz zusammengelegt. Der “Nord-Schädel” liegt als einziger mit der Gaumenseite nach oben.

Lascu interpretiert dies als Beweis für einen “Höhlenbären-Jagdkult”. Ob Jagdkult oder nicht – auch hier liegen die Antworten auf das Warum in der Geisteswelt der Neandertaler verborgen. Ihre Riten, Traditionen und Glaubensvorstellungen waren auf jeden Fall auf einer höheren Stufe, als lange Zeit vermutet wurde.

Wilfried Rosendahl

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