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Auf Knochen gebaut

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Auf Knochen gebaut
Stumme Skelette, beredte Forscher: Menschliche Fossilfunde sind erstrangige Medienereignisse. Wer sich gar durch Benennung einer neuen „Homo“-Spezies im Stammbaum verewigt, kann mit einem Karrieresprung rechnen. Das reizt.

Die Halbwertszeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Paläoanthropologie ist kurz. Manchmal werden im Abstand von wenigen Monaten neue, sogleich als „spektakulär“ oder gar „sensationell“ etikettierte Funde menschlicher Fossilien bekannt. Kaum ist das Medienecho verhallt, wendet sich das von den Augenblicksjägern der Nachrichtenagenturen geschürte öffentliche Interesse neuen Sensationen und Sensatiönchen zu. Wie sich die neuen Mosaiksteine in das Gesamtbild der menschlichen Evolution einfügen, überläßt man schnell wieder den Experten.

Mit den um Anerkennung und finanzielle Förderung konkurrierenden Forschern treten auch unvereinbare Thesen, Ideen, Modelle und Spekulationen gegeneinander an. Sie betreffen neben der zeitlichen Einordnung der Fossilfunde vor allem die Interpretation der verwandtschaftlichen Beziehungen unter Frühmenschen – den Platz einer Art oder Unterart im Stammbaum.

Hypothesen sind das Salz in der Suppe der Wissenschaft. Die Paläoanthropologie, die Wissenschaft von der Menschwerdung, macht da keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil: Nicht selten ist die Hypothesen-Suppe dieser Disziplin gehörig versalzen. In keiner anderen Wissenschaft sorgt beinahe jeder Fund aufs neue für derart heftige Kontroversen unter Kollegen wie bei den Fossiljägern – auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Hominiden-Evolution.

Überzeugungen und Emotionen stützen sich gerade in diesem zoologischen Zweig auf ein äußerst wackeliges Fundament aus Fakten.

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Leidenschaft lenkt die beteiligten Forscher oft mehr, als ihrer Wissenschaft guttut. Der amerikanische Paläoanthropologe Ian Tattersall vom American Museum of Natural History in New York hat jüngst in seinem Buch „Puzzle Menschwerdung“ dezidiert die menschlichen Beweggründe aufgeschlüsselt. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Klappern gehört zum Handwerk – auch bei Hominiden-Forschern.

Wer mit dem Fund einer neuen Ahnenart aufwarten kann, hat im Konkurrenzkampf um chronisch knappe Forschungsmittel bessere Chancen. Emotionsloses Abwägen und zurückhaltende Interpretation sind da eher hinderlich. Böse Zungen meinen, es gäbe viel weniger aussagekräftige Fossilfunde als eloquente Fossilforscher.

An diesem durchwachsenen Ruf haben die Akteure selbst mitgezimmert. Rivalisierende Anthropologen sorgten seit den siebziger Jahren auf der Bühne der Frühmenschenforschung für hitzige Debatten. Da stritten beispielsweise Donald Johanson, durch den Fund des Australopithecus afarensis („Lucy“) weltberühmt geworden, und Richard Leakey öffentlich miteinander. Oder: Milford Wolpoff und Christopher Stringer standen sich als Verfechter der „multiregionalen“ beziehungsweise der „Out-of- Africa“-Hypothese gegenüber. Sie alle wirkten mitunter wie um die Gunst des Publikums buhlende Primadonnen der Wissenschaft.

Zugegeben: Das Geschäft der Paläoanthropologie ist schwer. Während Fossilien auch bei anderen Tiergruppen chronisch rar sind, haben selbst die kleinsten Überbleibsel ausgestorbener Hominiden Seltenheitswert. Die Statistik weist nicht mehr als ein Zahn- oder Knochenfragment auf 100 Hominiden-Generationen aus.

Wer durch so wenige Fixpunkte verbindende Stammbaumlinien zieht, muß sich den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen. Tatsächlich hat es lange gedauert, bis die Paläoanthropologie erwachsen geworden ist. Donald Johanson kommentierte die frühere Arbeitsmethode der Urmenschen-Forscher so: „Man brach zu einer Expedition auf, hatte viel Spaß, und wenn man etwas fand, berief man eine Pressekonferenz ein und öffnete die Champagnerflaschen.“

Die Suche nach frühmenschlichen Versteinerungen ist sozusagen die Jagd nach der Hominiden-Stecknadel im geologischen Heuhaufen. Haben sie wirklich einmal einen Knochensplitter dem Staub der Jahrmillionen entrissen – vielen bleibt das lebenslang versagt -, dann neigen Paläoanthropologen dazu, ihren Fund mit einem neuen Namen zu belegen. Allzu gerne definieren sie den einstigen Träger als eigenständige Vor- oder Frühmenschenart, wie zuletzt im Fall des Homo antecessor (siehe „Der spanische Ahne“, Seite 56). Kein Wunder, daß nach fast jedem Neufund der Stammbaum der Menschheitsentwicklung angeblich erneut umgezeichnet werden muß.

Die Frühmenschenforschung mutet wie ein „Stammbaumspiel“ an. Sämtliche Hominiden-Spezialisten auf der Welt nehmen daran teil. Das Spiel besteht darin, die vorhandenen Bruchstücke menschlicher Fossilien den verschiedenen Arten und Gattungen von Frühmenschen zuzuordnen. Dabei gilt es vielfach als verpönt, neue Arten zu „erfinden“, auch wenn es erlaubt ist – wie jetzt bei den Funden in der Höhle von Gran Dolina.

Vorausgesetzt wird beim Stammbaumspiel die perfekte Kenntnis der eigenen Funde, eine gute Kenntnis anderer Vorschläge und schöpferische Phantasie. Eine Prise Zufall, etwas Intuition oder gar Genialität besonders ausgebuffter Spieler sind weitere Zutaten, um am Ende Stammbäume zu zimmern, die den Verlauf der Evolution des Menschen widerspiegeln – könnten.

Die mutmaßlichen Lösungen werden veröffentlicht, damit die anderen Mitspieler jederzeit wissen, wie das Spiel gerade steht. Kritik und neue Modelle werden dann in der nächsten Runde publiziert. So gibt es stets nur vorübergehende Gewinner, da jeder neue Stammbaum unablässig wieder in Frage gestellt wird – und das Spiel weitergeht.

Einige Forscher ziehen es vor, die vorhandenen Fossilien möglichst wenigen Arten (Spezies) zuzuordnen, um daraus eine mehr oder weniger lineare Abfolge von Frühmenschen zu skizzieren. Andere hingegen benennen neue wie alte Fossilfunde als Überreste getrennter Arten, sobald sich ihrer Meinung nach gravierende Differenzen im Körperbau erkennen lassen. So tummelt sich mittlerweile ein immer bunterer Hominiden-Zirkus in unserer Evolutionsgeschichte – mit häufig wechselnden Artnamen und Artzugehörigkeiten.

Entscheidend ist die Frage nach der Abgrenzung zwischen den einzelnen Frühmenschenformen – nach der Art-Identität. Doch oft genug sind die fossilen Arten nur Glaubensbekenntnisse jener Forscher, denen ein bestimmter Fund gelang oder die ein Fossil eingehend untersucht haben. Denn die Gretchenfrage, welches Fundstück tatsächlich eine neue Art repräsentiert, wie Arten voneinander abstammen und wie sie sich auseinanderentwickelt haben, wird sich kaum je verläßlich beantworten lassen.

Wie andere Fossilforscher auch, die sich mit der Stammesgeschichte ausgestorbener Organismen beschäftigen, haben Anthropologen ein prinzipielles Problem: Der biologische Artbegriff (Biospezies) ist als „in sich geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaft“ definiert. Dadurch grenzt sich eine Art gegenüber anderen Reproduktionsgemeinschaften ab. Wie aber sollen Paläontologen des Jahres 1998 anhand spärlicher, oft nur grob nach Jahrhunderttausenden datierter Knochensplitter verläßlich klären, ob zwei längst vergangene HominidenFormen sich einst fruchtbar miteinander paaren konnten?

Selbst deutliche Unterschiede im Bau von Zähnen, Kiefer- oder Schädelknochen sagen nichts darüber aus, ob deren Träger zwei getrennten Biospezies angehörten oder ob sie sich einst miteinander fortpflanzten.

Denkt man an die Unterschiede zwischen den afrikanischen Pygmäen und hochgewachsenen Massai, wird der gestalterische Spielraum der Natur beim modernen Homo sapiens deutlich. Nicht weniger gravierend könnten die Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild bei frühen Hominiden gewesen sein.

So bleiben wirklich gesicherte Erkenntnisse zur Evolution des Menschen die Ausnahme. Daher sind viele Forscher dazu übergegangen, Frühmenschen eines bestimmten Zeitabschnitts lediglich als „Chronospezies“ aufzufassen: Die Namensvielfalt spiegelt dann nicht zwangsläufig die Vielfalt der Frühmenschen-Arten wider, sondern dient schlicht der Benennung bestimmter zeitlicher und regionaler Stadien, gleichsam Sprossen auf der evolutiven Zeitleiter im menschlichen Werdegang.

Noch wird mit jedem neuen Puzzlestein – ob Fossil oder neue Datierung – das Bild der Entwicklung zum heutigen Menschen immer komplexer. Mehr noch als mit den Funden selbst werden Paläoanthropologen daher künftig mit den wechselnden Deutungen der Funde beschäftigt sein. Nicht jedes neue Knochenfragment rechtfertigt einen veränderten Erklärungsansatz zur Evolution des Menschen – geschweige denn das Medienspektakel, das ebenso schnell einsetzt wie es abflaut.

Dadurch wird lediglich die Halbwertszeit der Wissenschafts-News immer kürzer – doch das Puzzle Menschwerdung nicht vollständiger.

Matthias Glaubrecht

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