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Wackelsteine

Allgemein

Wackelsteine
Warum dreht sich mancher Stein immer nur in einer Richtung? Ursache des eigenwilligen Verhaltens ist eine leichte Unsymetrie. Doch nicht nur die Natur läßt „wackeln“ – das verblüffende Spielzeug kann man ohne großen Aufwand auch selbst bauen.

Wackelstein bringt Gemeinde zum Grübeln“ war die Überschrift einer Meldung im Lokalteil einer deutschen Tageszeitung. Ein großes Dentallabor verhandelte mit der Gemeinde, um sich just in der Straße anzusiedeln, die seit alters her „Am Wakkelstein“ hieß. Die um das Image des High-Tech-Betriebs besorgte Firmenleitung drängte die Gemeindeverwaltung, die Straße umzubenennen, weil Auftraggeber negativ auf die Adresse reagieren könnten. Das Gemeindeparlament war geteilter Meinung. Einige Gemeinderäte hatten die Assoziation „Wackelzahn“ und daher Verständnis für das Anliegen, andere meinten, gewiefte Werbefachleute könnten den wackelnden Stein sogar positiv vermarkten. Ein Physiker schaltete sich ein und machte den Vorschlag, den einprägsamen Namen beizubehalten und am Eingang in die Straße einen großen „Keltischen Wackelstein“ als spektakuläres Kunstwerk aufzustellen. Zur lllustration sandte er dem Bürgermeister ein im Maßstab 1 zu 10 verkleinertes Modell des Objektes aus rotem Kunststoff als Schreibtischspielzeug. Der neue Gedanke – oder war es die Magie des fesselnden Spielzeugs – trug tatsächlich zur Beruhigung der erhitzten Gemüter bei. Ob die friedenstiftende Anregung in die Tat umgesetzt worden ist, weiß ich allerdings nicht.

Was ist das, ein „Wackelstein“? Natürliche Wackelsteine findet man an Flußufern. Es sind längliche, von jahrhundertelanger Wanderung im Geschiebe des Flußbetts rundgeschliffene Steine, die mit einer ihrer gewölbten Flächen auf harter, glatter Unterlage kreiseln können. Dafür eignen sich besonders gut Tische mit Platten aus Glas oder Resopal.

Natürliche Wackelsteine haben viele Formen, und entsprechend vielgestaltig sind auch ihre Eigenschaften. Es ist deshalb geboten, sich auf typische Vertreter der Gattung zu beschränken, und zwar auf linksdrehende Wackelsteine, deren natürlicher Drehsinn entgegen dem Uhrzeiger ist, und auf die entsprechenden rechtsdrehenden Wackelsteine, die sich spiegelbildlich dazu bewegen. Solche Wackelsteine gibt es auch im Handel als Spielzeug aus Kunststoffguß.

Versetzt man einen linksdrehenden Wackelstein nach rechts in Drehung, geschieht das, was Wackelsteinen ihren Namen gab: Die Rechtsdrehung geht nach kurzer Zeit in eine Wackelschwingung über, der Stein schwingt vorübergehend in Längsrichtung als Rollpendel wie ein Schaukelpferd, um sich bald in seine bevorzugte Linksdrehung zu begeben. Bei rechtsdrehenden Wackelsteinen läuft der spiegelbildliche Vorgang ab.

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Warum geht die Rechtsdrehung nicht unmittelbar in die Linksdrehung über – oder anders ausgedrückt: Wozu dient die Wackelschwingung? In ihr speichert dieser merkwürdige Kreisel die mechanische Energie, die er zum Umkehren braucht, denn käme er einmal in einer Gleichgewichtslage zur Ruhe, könnte er sich aus eigener Kraft nicht wieder in Bewegung setzen.

Der Energievorrat in der Wackelschwingung ist sehr begrenzt und die Winkelgeschwindigkeit der endgültigen Drehung daher gering. Auf sehr rauhem Untergrund kann die Bewegung durch Reibungskräfte früher zur Ruhe kommen, als ein Wackelstein wenden kann. Gute Wackelsteine sollten also möglichst viel Energie in der Wackelschwingung speichern können.

Durch Tippen auf einen seiner langen Flügel kann man einen Wackelstein sofort zum Wackeln um die Querachse bringen – und damit in die bevorzugte Drehung. Wackelsteine lassen sich auch zu schwachen Querschwingungen um die Längsachse anregen, die unmittelbar in die stabile Drehung übergehen. Die Bewegung muß man vorsichtig starten, um nicht gleichzeitig die Drehung im falschen Drehsinn in Gang zu setzen. Rein theoretisch könnte ein linksdrehender Wackelstein auch auf Dauer rechts herum kreiseln oder ein rechtsdrehender links herum. Die Drehung im „falschen“ Drehsinn ist aber, in der Sprechweise der Physiker und Ingenieure, instabil oder „labil“, das bedeutet: anfällig gegen die unvermeidlichen Abweichungen von der reinen Drehung. Solche Störungen wachsen an und leiten über die Wackelphase das Wendemanöver in die stabile Drehung ein.

Warum der Wackelstein „keltisch“ heißt: In der ältesten wissenschaftlichen Arbeit über die Dynamik des Wackelsteins von 1896 (von dem Australier G.T. Walker: „On a Dynamic Top“) heißt er einfach „Celt“. Das Wort beschreibt – wie in der Encyclopedia Britannica von 1910 zu lesen – Beile, Äxte und Meißel aus behauenem Stein. Nach einem Mythos sollen die keltischen Priester, die Druiden, natürliche Wackelsteine als Orakel benutzt haben. Die Kriminaltechnik war seinerzeit noch wenig entwickelt. Wie sollte ein Priester in einer Gerichtsverhandlung einen unklaren Fall entscheiden? Er inszenierte ein „Gottesurteil“: „Der Angeklagte ist unschuldig, wenn der heilige Stein sich nach rechts dreht.“ Der linksdrehende Wackelstein des Priesters wendete sich aber unter heftigem Wackeln, das allen sichtbar das Wirken der Gottheit zeigte, in die Linksdrehung.

Die Ursache der Kehrtwendung des Wackelsteins ist seine Unsymmetrie. Wären Wackelsteine symmetrisch, gäbe es nach der klassischen Physik keinen Grund, einen Drehsinn zu bevorzugen. Worin besteht die Unsymmetrie, die zum Beispiel die Linksdrehung auszeichnet?

Bei einem aus Kunststoff spritzgegossenen Wackelstein erkennt man sie an der äußeren Gestalt, die im Höhenlinienbild (Zeichnung auf der Seite links) dargestellt ist. Mit der gewölbten Seite nach unten bildet der Wackelstein in der Ruhelage einen auf dem Kopf stehenden langgestreckten, am Gipfel etwas schiefen Berg von elliptischem Grundriß.

Bei Wackelsteinen aus einheitlichem Material legt die äußere Form die Massenverteilung fest. Für den gezeichneten Wackelstein hat sie im wesentlichen die ins Auge fallende Symmetrie eines ungefähr halbierten Ellipsoids. Die geringe Verdrehung der Schichten am Gipfel trägt zur Massengeometrie so gut wie nichts bei. Sie hat aber entscheidende Bedeutung dort, wo die Oberfläche Kontakt mit der Unterlage hat und Kräfte übertragen werden, die im Zusammenwirken mit der Schwerkraft die Bewegung des Wackelsteins antreiben.

Sofern die Wackelbewegung nicht zu heftig wird, bleibt das Kontaktgebiet klein, und dort läßt sich die Körperoberfläche näherungsweise durch ein Stück einer Ellipsoidfläche beschreiben mit den Richtungen (1′) der größten und (2′) der kleinsten Krümmung – den „Hauptkrümmungen“ der Fläche.

Da sich Wackelsteine bei der Bewegung nicht nennenswert deformieren (also „starr“ bleiben), sind für ihre Dynamik nur wenige Parameter der Massenverteilung von Belang: für die Bahnbewegung die Lage des Schwerpunkts und für Drehungen um den Schwerpunkt die drei aufeinander senkrecht stehenden Hauptträgheitsachsen sowie die zugehörigen Hauptträgheitsmomente, die die Massenverteilung mit dem Quadrat des Abstandes von der Drehachse wichten. Nach dem Grundriß gehören die Achsen (1) zum größeren und (2) zum kleineren Trägheitsmoment.

Autofahrer kennen die Begriffe der Massengeometrie vom Auswuchten der Räder. Um die Anregung von Fahrzeugschwingungen durch umlaufende Unwuchten zu unterdrücken, werden die Schwerpunkte der Räder auf die Achsen gebracht (statisches Auswuchten). Um nicht bei schneller Fahrt lästige oder sogar gefährliche Fahrzeugschwingungen durch Schleudermomente anzuregen, macht man die Radachsen durch kleine Gewichte zu Hauptträgheitsachsen (dynamisches Auswuchten).

Nach dieser langen Vorbereitung läßt sich die Ursache der Kehrtwendung des Wackelsteins rasch benennen, wenn auch nicht ihr Mechanismus erklären: Die Symmetrieachsen der Massenverteilung (Achsen 1 und 2) sind von den Symmetrieachsen der Oberflächengestalt im Kontaktgebiet (Achsen 1′ und 2′) verschieden. Man findet experimentell – und unter geeigneten Annahmen über die Reibung zwischen Wackelstein und Untergrund auch theoretisch -, daß die Drehung bei großen Winkelgeschwindigkeiten in dem Drehsinn stabil ist, in dem die Hauptträgheitsachsen den entsprechenden Hauptkrümmungsrichtungen vorauslaufen (1 vor 1′, 2 vor 2′). Der gezeichnete Wackelstein ist also ein linksdrehender. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß sich unter den glattgeschliffenen Steinen an Flußufern häufig natürliche Wackelsteine finden, denn Unsymmetrie ist hier die Regel und Symmetrie die Ausnahme.

Lauter Wackelsteine: Wenn man weiß, worauf es ankommt, kann man auf einfache Weise Wackelsteine selber machen, zum Beispiel aus einem halben Pingpongball, den man mit einem Streichholz elliptisch verformt und in den man schräg dazu zwei Muttern klebt. Oder man befestigt eine halbierte ovale Gardinenkugel schräg auf einem länglichen Brett. Sehr einfach ist es auch, auf ein langgestrecktes Halbellipsoid eine massive Stange schräg aufzuschrauben. In Sekundenschnelle läßt sich dieser Wackelstein vom rechtsdrehenden zum linksdrehenden machen. Man kann die Stange auch im Innern eines Halbellipsoids verstekken oder – noch einfacher – nur ein schräges Loch bohren.

Solche Wackelsteine, die von außen unverdächtig symmetrisch erscheinen, werden sowohl links- als auch rechtsdrehend von einem Versandgeschäft für physikalisches Spielzeug angeboten. Und nun viel Spaß beim Spielen!

Wolfgang Bürger

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