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Auf der Suche nach der Spiegelwelt

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Auf der Suche nach der Spiegelwelt
Gibt es Sterne und Galaxien aus Antimatrie? Die Frage, ob die Welt im Urknall symmetrisch entstand, soll ein Experiment beantworten, das im Mai ins All gebracht wird.

Befragt, was für ihn die überraschendste Entdeckung des 20. Jahrhunderts sei, antwortete der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg: „…die Voraussage und der Nachweis, daß Antimaterie existiert“.

Antimaterie ist nicht etwa ein völlig anderer Stoff als Materie. Beide sind sich sogar zum Verwechseln ähnlich, doch manche Eigenschaften sind gerade entgegengesetzt, etwa die elektrische Ladung. Antielektronen, auch Positronen genannt, haben zum Beispiel die gleiche Masse wie Elektronen, aber eine positive Ladung. Wenn solch ein ungleiches Paar aufeinandertrifft, zerstrahlen beide Teilchen zu Energie. Dieser Prozeß wird Annihilation genannt.

Zum ersten Mal beobachtet hat ihn 1932 der amerikanische Physiker Carl Anderson. Damit öffnete sich der Physik das Tor zu einer neuen, völlig anderen Welt. Diese Spiegelwelt gleicht der unserigen, kann aber nie mit ihr in Kontakt kommen, ohne daß beide Teile vernichtet würden. Der Astronom Rudolf Kippenhahn, ehemals Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München, hat es einmal so formuliert: Die Liebe zwischen einem Wesen aus Materie und einem aus Antimaterie müßte rein platonisch bleiben, wollten sich die beiden nicht in einem Feuerwerk aus Strahlung auflösen (bild der wissenschaft 1/1994, „Platonische Liebe“).

Doch gibt es überhaupt Antigalaxien, deren Antisterne in ihrem Inneren Antiteilchen verbrennen und schließlich in einer Antisupernova explodieren? Schon die Entdeckung eines einzelnen schweren Antiatoms im Weltall wäre ein definitiver Beweis für die Existenz von Antisternen. Denn nur die leichten Elemente, insbesondere Wasserstoff und Helium, sind in den ersten Minuten nach dem Urknall entstanden. Alle anderen wurden durch die Kernverschmelzung im Inneren von Sternen erbrütet – und vielleicht eben in Antisternen, falls man auch nur ein Atom davon finden sollte.

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Bisher wissen wir nur, daß der lokale Galaxien-Superhaufen, zu dem auch unsere Milchstraße gehört, keine größeren Mengen an Antimaterie enthält – sonst wären wir von einem regelrechten Gammastrahlengewitter umgeben. Im beobachtbaren Universum existieren jedoch rund zwei Millionen Superhaufen, von denen jeder einige hundert Millionen Lichtjahre groß ist.

Um nach Antiteilchen aus weit entfernten Regionen zu fahnden, hat ein internationales Physikerteam unter der Leitung von Samuel C. C. Ting vom Europäischen Forschungszentrum CERN einen Detektor gebaut, der im Mai seinen ersten Testflug an Bord eines Space Shuttle absolvieren soll.

Es ist nicht das erste Projekt dieser Art. Der spätere Physiknobelpreisträger Luis Alvarez hatte mit supraleitenden Magneten auf Ballonen in 4000 Meter Höhe schon in den sechziger und siebziger Jahren nach Antimaterie aus dem All gesucht – aber nur Positronen und ein paar Antiprotonen entdeckt. Mit 40000 aufgefangenen Partikeln aus der kosmischen Strahlung war die Datenbasis aber viel zu schmal.

Man schätzt nämlich, daß nur ein Teilchen von 100000 oder einer Million aus Regionen jenseits unserer Milchstraße stammt. „Um wirklich eine Chance zu haben, Antimaterie von Antisternen zu finden, müssen wir Milliarden Partikel aus der kosmischen Strahlung analysieren“, erklärt Steve Ahlen von der Boston University, ein Mitarbeiter des neuen Suchprojekts.

Das empfindlichste Nachweisgerät für Antimaterie und andere geladene Teilchen, das jemals gebaut wurde, wird das Alpha-Magnetspektrometer (AMS) sein – 10000mal effizienter als die früheren Ballonexperimente. Wenn alles nach Plan läuft, soll es ab 2001 für drei Jahre auf der Internationalen Raumstation fliegen (die ehemals unter dem Namen „Alpha“ firmierte, daher der Name des Spektrometers). Die NASA hat diesen Beitrag zur Grundlagenforschung begeistert aufgenommen und wird den 13 Millionen Dollar teuren Transport in den Weltraum bezahlen. Die Kosten des Geräts betragen etwa 20 Millionen Dollar.

Der Hauptbestandteil des AMS-Detektors ist ein 2000 Kilogramm schwerer zylindrischer Permanentmagnet aus einer Eisen-Neodym-Bor-Legierung. Er hat einen Durchmesser von einem Meter und ist genauso lang. Ting schaffte es, den Magneten für 600000 Dollar von China bauen zu lassen, wo 90 Prozent des weltweiten Neodym-Bedarfs gefördert werden.

In der Magnetspule befinden sich sechs Schichten nebeneinanderliegender Silizium-Sensoren, die am CERN gebaut wurden. Sie können den Pfad kosmischer Strahlen auf ein Hundertstel Millimeter genau messen und die Zerfallsprodukte registrieren. Dies reicht aus, um Materie von Antimaterie aufgrund der entgegengesetzten Ladung zu unterscheiden und die Masse der Partikel zu bestimmen. Allerdings ist umstritten, ob es heute überhaupt noch irgendwo im Universum Antimaterie geben kann. Ein winziger Sekundenbruchteil nach dem Urknall kondensierten Materie und Antimaterie aus Energie und dem Zerfall der ursprünglich vorhandenen X-Teilchen aus und vernichteten sich wieder – allerdings nicht vollständig, sonst gäbe es uns heute nicht.

Wenn sich Antimaterie und Materie exakt symmetrisch zueinander verhielten, wäre unsere von Materie dominierte Region des Alls ein Überbleibsel eines zufälligen Materieüberschusses an dieser Stelle. Dann müßte es anderswo im All Regionen aus Antimaterie geben. Gegen eine perfekte Materie-Antimaterie-Symmetrie spricht allerdings der Zerfall eines seltenen, kurzlebigen Teilchens: des neutralen Kaons.

Vielleicht gab es die Asymmetrie schon in der Zerfallsrate der X-Teilchen – eine Idee, die der spätere Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow im Jahr 1967 hatte: Waren die Gesetze der Physik zu Beginn nicht völlig ausbalanciert, so daß die X-Teilchen zum Beispiel pro 10 Milliarden Materie- und Antimaterie-Teilchenpaaren zusätzlich ein Materieteilchen erzeugten? Dann wäre der heutige Materieüberschuß überall im All gleich – die Annahme einer Spiegelwelt wäre damit unnötig.

Neue Argumente dafür haben vor kurzem Andrew G. Cohen von der Boston University, Alvaro de R£jula vom Europäischen Kernforschungszentrum CERN und der Physiknobelpreisträger Sheldon L. Glashow von der Harvard University gefunden. Sie fragten sich, wie uns von der Erde aus ein Universum erschiene, das aus einem Gemisch von Materie und Antimaterie besteht.

Ihre Studie ergab, daß durch die Annihilationsvorgänge an den Grenzzonen zwischen den Galaxienhaufen aus Materie und Antimaterie sehr viele hochenergetische Photonen erzeugt würden. Sie müßten einen deutlichen Abdruck im Spektrum des diffusen Gammastrahlenhintergrunds zeigen, der aus den weit entfernten Regionen des Weltalls überall um uns herum stammt. Hier würde sich die Spiegelwelt verraten.

Doch in den Gammastrahlenspektren, wie sie etwa das Compton-Observatorium der NASA gewonnen hat, ist davon nichts zu sehen. Selbst vorsichtigste Schätzungen sagen ein fünfmal stärkeres Signal vorher, als die Astronomen mit den bisherigen Meßgeräten beobachten. Die Schlußfolgerung der Wissenschaftler: „Ein symmetrisches Materie-Antimaterie-Universum ist empirisch widerlegt.“

Allerdings räumen die Forscher ein, daß dieser Schluß nicht zwingend ist. Zwei Alternativen bleiben nämlich noch offen: Zum einen könnten die Materie-Regionen von jenen der Antimaterie durch nahezu leere Räume getrennt sein, so daß es bisher gar nicht zu einer signifikanten Annihilation gekommen wäre. Ein Universum der heutigen Größe hätte für solche neutralen Zonen durchaus Platz genug. Doch in seiner Frühzeit war der Kosmos wesentlich kleiner. Kurz nach dem Urknall haben sich praktisch alle Materie- und Antimaterie-Teilchen gegenseitig vernichtet, wie die kosmische Hintergrundstrahlung bezeugt.

Hätte es damals schon irgendwo ein leeres Niemandsland gegeben, müßte es seine Spur in der kosmischen Hintergrundstrahlung hinterlassen haben: in Form von strahlungsarmen Regionen. Doch die Karten, die der amerikanische Satellit COBE gewonnen hat, zeigen eine extreme Gleichförmigkeit der Temperaturverteilung.

Die andere Möglichkeit: Unsere lokale Materie-Blase könnte besonders groß sein. Die Antimaterie-Regionen in der Nachbarschaft wären dann so weit weg, daß die Annihilationszonen im Gammastrahlen-Hintergrund für uns nicht nachweisbar sind. Die Dominanz der Materie wäre nur eine Folge unserer eingeschränkten Perspektive. Doch dann bliebe immer noch rätselhaft, warum unser von Materie dominierter Ausschnitt des Universums so groß ist, wie er nach dieser Hypothese sein müßte.

Das Problem des Materie-Überschusses bleibt somit vorläufig ungelöst. „Wir behaupten nicht, daß es unmöglich ist, Antimaterie von anderen Sternen nachzuweisen“, betont Glashow, „wir sagen nur, daß eine solche Entdeckung nicht mit dem Kenntnisstand der gegenwärtigen Kosmologie vereinbar ist. Wenn Ting Erfolg hätte, würde das alles durcheinanderbringen.“

Doch der läßt sich von dieser Skepsis nicht beirren. Schließlich soll der AMS-Detektor auch anderweitig von Nutzen sein, nämlich bei der Suche nach der ominösen Dunklen Materie, die wohl über 90 Prozent der Masse des Universums ausmacht. Zu ihren Zerfallsprodukten könnten Antiprotonen zählen. Ein Nachweis vieler Antiprotonen mit derselben Energie ließe Rückschlüsse auf die physikalische Natur der Dunklen Materie zu. Vielleicht gibt es sogar Dunkle Antimaterie.

„Wir müssen einfach abwarten, was wir finden“, gibt sich Ting gelassen und optimistisch. Schon einmal hatte er nach einem hypothetischen Elementarteilchen gesucht, von dem die Theoretiker damals behaupteten, es würde nicht existieren. Ting blieb jedoch hartnäckig und konnte das heute als J/Psi-Partikel bekannte Teilchen schließlich nachweisen – wofür er 1976 mit dem Physik-Nobelpreis belohnt wurde.

Rüdiger Vaas

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