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IM IRRGARTEN DER KREBS-GENE

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IM IRRGARTEN DER KREBS-GENE
Wissenschaftler entziffern in einem weltweiten Großprojekt die genetischen Defekte der häufigsten Tumorarten. Lassen sich im Labyrinth der Krebs-Gene tatsächlich Ansätze für neue Therapien finden?

Während der Patient nervös auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nimmt, blättert der Arzt schon im Laborbericht. „ B-RAF-positiver Tumor“, liest er die bis aufs Gen genaue Diagnose vor. „Was kann man tun?“, fragt der Patient. Der Arzt greift zur Liste mit den Medikamentenempfehlungen und rät zu einer Wirkstoffkombination, die sowohl das krebsverursachende Gen als auch dessen Produkt, ein schädliches Protein, ausschaltet und so die wachstumsfördernde zelluläre Signalkette unterbricht. „Damit sind wir auf der sicheren Seite“, sagt der Arzt und verspricht: „ Die Zellteilung wird sich in einigen Tagen normalisieren, und der Tumor wird sich zurückbilden. Mit einem weiteren gen-basierten Medikamentenmix sorgen wir dann dafür, dass er nicht wieder auftritt.“

Diese Szene aus der Arztpraxis der Zukunft ist zu schön, um wahr zu sein: Wer die biologische Komplexität der Zellen – und mit ihr die Komplexität der Tumorzellen – kennt, weiß auch, dass man selbst in ferner Zukunft nicht darauf hoffen kann, Krebserkrankungen derart einfach zu behandeln. Und doch schildert die Szene im Kern, was sich Krebsforscher mit ihrem jüngsten Projekt als Ergebnis wünschen: eine große Anzahl zielgerichteter Medikamente, mit der sich die tödliche Bedrohung Krebs in eine langfristig gut behandelbare, erträgliche Erkrankung verwandeln lässt.

Das neue Projekt heißt „Entschlüsselung des Krebsgenoms“ und ist das größte und teuerste Vorhaben in der Geschichte der Krebsforschung. Es soll endlich den entscheidenden Fortschritt bringen. Denn in der hochmotivierten Welt der Krebsmedizin hat es auch in der Vergangenheit nicht an Konzepten und Projekten gemangelt, wohl aber an Erfolgen: Von den über 400 000 Menschen, die allein in Deutschland alljährlich neu an Krebs erkranken, stirbt jeder Zweite an seiner Tumorkrankheit. Das sagt die Statistik – unverändert seit Jahrzehnten. Trotz therapeutischer Verbesserungen bei einigen wenigen Krebserkrankungen ist der „ Sieg gegen den Krebs“ bislang ausgeblieben.

FELDZUG ohne siegesfeier

Der war in einer ersten Fassung der berühmten Kampfansage „War on Cancer“ des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon bereits für 1976 versprochen worden – rechtzeitig zum 200. Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeit. Nach Einwänden von Forschern, so schnell werde es nicht gehen, wurde der Feldzug 1971 zwar auf 25 Jahre verlängert, doch auch danach blieb die Siegesfeier aus. Im Jahr 2003 schließlich erneuerte der Direktor des Nationalen Krebsinstituts der USA die mehr als drei Jahrzehnte zurückliegende Kriegserklärung und verkündete, er wolle bis zum Jahr 2015 das „Leiden und Sterben an Krebs beenden“. Vorsichtiger, aber nicht weniger positiv formuliert ein kürzlich vom Imperial College of Medicine in London herausgegebener Wissenschaftsreport die Zukunft der Krebsmedizin: Man werde den Krebs im Jahr 2025 als eine chronische Krankheit betrachten, heißt es in dem Bericht „The Future of Cancer Care“, und Tumorerkrankungen in eine Reihe mit Diabetes, Herzkrankheiten oder Asthma stellen, die das Leben der Menschen zwar beeinträchtigen, aber nicht unausweichlich zum Tod führen. Nicht Heilung heißt also inzwischen das Ziel, sondern langfristige Behandelbarkeit.

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Das Vorhaben, alle genetischen Veränderungen (Mutationen) im Erbgut (Genom) der 50 häufigsten Krebsarten zu identifizieren, könnte sich als Meilenstein auf dem Weg zur „Chronifizierung“ des Krebses erweisen. An dem im Jahr 2008 vom „International Cancer Genome Consortium“ (ICGC) initiierten Projekt sind derzeit mehr als 20 Staaten mit ihren besten Wissenschaftlern und seit dem Frühjahr 2010 auch deutsche Forschergruppen beteiligt (siehe Kasten „Weltweite Offensive gegen den Krebs“ auf Seite 27). In den nächsten Jahren werden schätzungsweise 750 Millionen Euro für die genetische Fehlersuche in Tumorzellen eingesetzt. „Es sollte mich doch sehr wundern“, schreibt der britische Krebsforscher Mike Stratton, einer der Leiter des Konsortiums, in der Zeitschrift Nature, „wenn sich die Diagnose und Behandlung von Krebs dadurch in den nächsten 20 Jahren nicht völlig verändern wird.“

WENN FEHLER ÜBERHANDNEHMEN

Ihren Optimismus begründen die Krebsforscher mit den Fortschritten der Molekularbiologie, die in den letzten 40 bis 50 Jahren systematisch Belege dafür gesammelt hat, dass Krebs kein schicksalhaftes Ereignis, sondern das Ergebnis genetischen Versagens ist. Immer, wenn eine Zelle sich teilt, muss sie das Erbmolekül DNA verdoppeln. Das geschieht während eines durchschnittlichen Menschenlebens schätzungsweise 100 Billionen Mal. Bei jeder Zellteilung aber können sich Fehler in den genetischen Code einschleichen. Viele dieser Fehler werden die Funktion des Erbguts niemals beeinträchtigen, zudem unterhält die Zelle Reparaturdienste, die Unregelmäßigkeiten – beispielsweise vertauschte DNA-Buchstaben – rasch wieder beheben. Wenn sich eine Mutation aber an einer für das Zellleben besonders heiklen Stelle ereignet, wenn der Gen-Defekt nicht mehr repariert werden kann oder wenn sich im Laufe der Zeit so viele Fehler ansammeln, dass die Zelle aus ihrem genetisch sensibel ausbalancierten Wachstumsgleichgewicht gerät, kann Krebs entstehen – so weit die Theorie.

Entscheidend bestätigt wurde die molekularbiologische Betrachtungsweise der Krebsentstehung mit der Entdeckung der „ Onkogene“. Dabei handelt es sich um einzelne körpereigene Gene, die zu Krebszellen verändert (mutiert) sind. Seither hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Tumore hauptsächlich von Genen verursacht werden, die zufällig, durch chemische Reaktionen oder Strahleneinwirkung, beschädigt oder modifiziert wurden. Die mutierten Gene verändern auch den Charakter der Zelle und veranlassen sie, sich unkontrolliert auf Kosten gesunder Zellen zu vermehren. Das erste Onkogen beschrieben Forscher 1981. Inzwischen wurden über 300 Gene identifiziert, die für das Entstehen von Krebs verantwortlich sein sollen, darunter B-RAF oder weitere Berühmtheiten wie p53 – ein Gen, das bei rund der Hälfte aller menschlichen Tumorarten verändert ist. Kein Krebsforscher glaubt, dass die Liste der Onkogene schon komplett ist. Um sie zu vervollständigen, fehlten jedoch lange die Werkzeuge und Techniken. Die Methoden sind jetzt verfügbar, und die Wissenschaftler wenden sie derzeit rund um den Globus zur Entschlüsselung des Krebsgenoms an: Sie „sequenzieren“, was das Zeug hält.

VOLLAUTOMATISCHES LESEN

Sequenzieren bedeutet: Die Reihenfolge der Buchstaben (die Sequenz) des aus Tumorzellen gewonnenen Erbguttextes wird Buchstabe für Buchstabe ermittelt. Anschließend wird das Erbgut der Tumorzellen Buchstabe für Buchstabe mit dem Erbgut gesunder Zellen desselben Patienten verglichen, wobei man nach charakteristischen Unterschieden sucht. Das Lesen von Erbguttexten war früher mühselig und zeitaufwendig. Heute erfolgt es vollautomatisch mit Lesemaschinen („Sequenzern“), die sehr rasch sehr große Mengen an Buchstabendaten erzeugen. Mit welchen Datenmengen es die Forscher zu tun haben und wie groß die Herausforderung ist, die Sequenzinformationen zu speichern und einer Auswertung zugänglich zu machen, erklärt Roland Eils vom Bioquant-Zentrum der Universität Heidelberg. Bei Eils laufen alle Daten der deutschen Krebsgenom-Projekte zusammen (siehe Beitrag „ Der Blick aufs Ganze“ im bdw-plus „Lebenswert“ 1/2011). „Unser Erbgut besteht aus drei Milliarden Buchstaben“, erklärt der Bioinformatiker. „Jeder Buchstabe wird mit heutiger Technik im Mittel 30-fach sequenziert. Daraus ergibt sich ein Speicherplatz von etwa drei Terabyte pro Erbgut.“ Allein im deutschen Hirntumor-Teilprojekt „PedBrain“ sollen 1200 Erbgutsätze durchbuchstabiert werden, das entspricht rund 3,5 Petabyte an Daten. Diese an sich schon stattliche Zahl, betont Eils, müsse man noch einmal mindestens verdoppeln, weil nicht nur die DNA, sondern auch die Ribonukleinsäuren (die Schwestermoleküle der DNA) und das Methylom (die epigenetische „Verpackung“ des Erbmoleküls) gelesen werden.

Speicherplatz: EINE MILLIARDE GIGABYTE

Um die Datenmassen bewältigen zu können, baut Eils im Bioquant-Zentrum gerade eine Anlage zur Datenspeicherung auf, die weltweit zu den größten ihrer Art in den Lebenswissenschaften zählt. Der künftige Hochleistungsdatenspeicher wird eine Kapazität von einer Milliarde Gigabyte haben. Zum Vergleich: Ein iPhone verfügt über einen Speicher von 32 Gigabyte. „Allein für die Daten des deutschen PedBrain-Projekts würde man also 250 000 iPhones brauchen“, veranschaulicht Eils. Doch der Bioinformatiker muss sich nicht nur um den Speicherplatz, sondern auch um den Datentransport Gedanken machen. Damit der möglichst rasch und ohne Stau erfolgt, lässt Eils gerade eine Glasfaserleitung mit einer Übertragungsrate von zehn Gigabyte pro Sekunde von Heidelberg zum ergänzenden Massenspeicher in Karlsruhe verlegen. Bis die unterirdische Datenautobahn fertig ist, gelangen die Sequenzdaten noch über die echte Autobahn zu ihrem Speicherort – per Kurier und auf Diskette.

Das eigentliche Problem, gibt der renommierte Krebsforscher Bert Vogelstein von der Johns Hopkins University in „Nature“ zu bedenken, bestehe allerdings nicht darin herauszufinden, wie man am besten Unmengen von Daten speichert und Mutationen katalogisiert. Die entscheidende Frage sei, wie all diese genetischen Informationen genutzt werden können, um Krebspatienten zu helfen. Er legt damit den Finger in die Wunde des Krebsgenom-Projekts: Dessen Kritiker bemängeln, dass es zu viel Geld bei zu wenig erwartbaren Ergebnissen verschlinge. Denn wenn es einzig beim Anhäufen großer Datenberge bliebe, wäre das Projekt tatsächlich nicht mehr als das verspielte Vorhaben einiger Technik- und Bioinformatikfreaks, die – nachdem das menschliche Genom in einem 10-Jahres-Kraftakt entziffert wurde – nun noch rasch 25 000 Krebsgenome durch die Sequenzer jagen.

ZEHNTAUSENDE FEHLER IM TEXT

Die ersten durchbuchstabierten Tumor-Erbguttexte – derzeit sind es rund ein Dutzend – liegen dank der Höchstleistung der modernen Lesemaschinen bereits vor, beispielsweise von Lungen- und Hautkrebszellen. In den entarteten Lungenzellen fanden britische Forscher nicht weniger als 22 910 „wahrscheinlich“ krebsbedingte Mutationen, in den bösartigen Hautzellen 33 345. Auch die anderen bislang sequenzierten Krebs-Erbguttexte weisen ähnlich hohe Mutationsraten auf. Welche medizinische Bedeutung, fragen Kritiker, soll man diesen vielen Gen-Defekten abgewinnen? Wie soll man im Irrgarten der Krebsgene, die sich nicht nur von Tumorart zu Tumorart, sondern auch noch von Patient zu Patient unterscheiden, die erhofften rationalen Ansätze für neue und bessere Medikamente gegen Krebs finden? Böse Zungen lästern gar, die Zahl der von bienenfleißigen Erbgutlesern verfassten Publikationen, in denen die Mutationen von Krebszellen aufgezählt werden, könnte schneller wachsen als der schlimmste Krebs, den sie beschreiben.

Auch auf diese Fragen haben die Redakteure der Krebs-Erbguttexte eine Antwort: Es gelte unter den vielen veränderten Genen die „Fahrer“ zu finden – jene wahrscheinlich nur wenigen Erbanlagen, die den Krebs auslösen und fördern. Sie seien zu unterscheiden von den „Passagieren“, die gleichsam als Trittbrettfahrer auf den rollenden Zug aufspringen und zur immer größer werdenden genetischen Instabilität des Tumor-Erbguts beitragen. Wer die „Fahrer“ kennt, kennt auch die Verantwortlichen – und kann sie mit treffsicheren Wirkstoffen ausschalten. Unter den „Passagieren“ hoffen die Forscher ebenfalls konkrete Angriffspunkte für Medikamente zu finden – etwa mutierte Gene, die entartete Zellen dazu anstiften, den Ort ihres Entstehens zu verlassen und sich im Körper auszubreiten. Substanzen, die die dafür verantwortlichen Gene hemmen, könnten der verhängnisvollen Metastasierung vorbeugen – dem Entstehen von Tochtergeschwülsten im Verlauf der Krebserkrankung.

DAS ERSTE ZIELGENAUE MEDIKAMENT

Das vielleicht gewichtigste Argument der Befürworter des Krebsgenom-Projektes ist, dass es schon Medikamente gibt, die zielgenau an zuvor dingfest gemachten molekularen Fehlern ansetzen. Es sind bislang nur wenige, aber sie sind ein Beleg dafür, dass die neue Attacke gegen Krebs die richtige Stoßrichtung haben könnte. Als erster therapeutischer Wirkstoff, der eine genetische Krebsursache bekämpft, gilt Imatinib (Handelsname Glivec), heute das Standardmedikament zur Therapie der chronisch myeloischen Leukämie (CML), einer unbehandelt tödlich verlaufenden Blutkrebserkrankung. Die Geschichte des Medikaments geht zurück bis in die späten 1980er-Jahre. Damals entdeckten Forscher, dass meist ein „Verkleben“ zweier Gene für die Krebsart verantwortlich ist. Infolge der Mutation entsteht ein überaktives Protein, das die weißen Blutkörperchen dazu antreibt, sich wieder und wieder zu teilen. Imatinib ist ein eigens konstruiertes kleines Molekül, das am krebstreibenden Protein ansetzt, es blockiert und die bösartigen Zellen daran hindert, sich weiter zu vermehren.

Ein zweites Beispiel ist Trastuzumab (Handelsname Herceptin), ein sogenannter monoklonaler Antikörper. Das Y-förmige Molekül besetzt einen Rezeptor, eine Art Antenne für Wachstumsfaktoren, die sich auf der Oberfläche von Brustkrebszellen finden. Diese Rezeptoren werden bei etwa jeder vierten Brustkrebspatientin aufgrund einer Mutation – einem abnorm vervielfachten Gen – übermäßig gebildet. Der Antikörper verhindert, dass Wachstumsbotschaften ins Innere der Zelle weitergeleitet werden. Ein drittes Beispiel ist Gefitinib (Handelsname Iressa). Das Medikament ist zugelassen, um Patienten mit Lungenkrebs zu behandeln, in deren entarteten Zellen Mutationen im sogenannten EGFR-Gen, ebenfalls ein krebsbegünstigendes Gen, nachweisbar sind. Es gibt eine Reihe weiterer gen-basierter Krebsmedikamente der neuen Generation. Doch für die meisten der neuen Wirkstoffe ist der medizinische Nutzen bislang nur schwer abschätzbar. Einzig Imatinib gilt derzeit als echter Durchbruch. Wenn aber erst alle genetischen Veränderungen der Tumorzellen bekannt sind, so die Hoffnung, wird sich die Liste der gezielt ansetzenden, schlagkräftigen und nebenwirkungsärmeren Medikamente rasch verlängern. „Das Krebsgenom-Projekt“, erwartet Manfred Baier von der Pharmafirma Roche, die das Brustkrebsmedikament Herceptin produziert, „wird uns die wohl komplexesten Daten liefern, die wir bislang in der Medizin kennen – es hat endlich wieder Bewegung in die Krebsforschung gebracht.“

DIE KREBSZELLEN SCHLAGEN ZURÜCK

Aus seinem Hause stammt ein neues, derzeit noch namenloses Hoffnungsmolekül gegen den fortgeschrittenen schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom). Der Entwicklungskandidat, ein kleines Molekül mit dem hausinternen Kürzel RG 7204, soll gezielt mutierte Versionen des B-RAF-Proteins hemmen, die jeder zweite Melanom-Patient aufweist und die für das aggressive Wachstum des Tumors und seiner Metastasen verantwortlich gemacht werden. Erste klinische Studien mit der zielgerichteten Krebstherapie erbrachten gute Ergebnisse: Bei mehr als der Hälfte der Studienteilnehmer, bei denen mehrere vorausgegangene Therapien versagt hatten, schrumpften die Tumore. Doch bereits wenig später zeigte sich, was bislang für jedes Medikament gegen Krebs gilt: Die entarteten Zellen entwickeln aufgrund ihrer hohen Mutationsrate früher oder später Gegenstrategien, sie werden „ resistent“. Auch bei dem neuen Wirkstoff gegen das maligne Melanom ist die Langzeitwirkung bislang nicht bekannt.

In der Grundlagenforschung arbeitet der Kinderarzt und Krebsforscher Stefan Pfister vom Zentrum für Kinderheilkunde in Heidelberg. Er arbeitet mit seiner Forschergruppe „ Molekulargenetik kindlicher Hirntumoren“ am weltweiten Krebsgenom-Projekt mit. Seine Hoffnung ist, mit der systematischen Entzifferung des Erbguts von entarteten Zellen des Gehirns („PedBrain“) für kindliche Hirntumore das zu erreichen, was bei Blutkrebs (Leukämie) bereits gelungen ist: „Heute können wir vier von fünf leukämiekranken Kindern heilen“, sagt Pfister. „ Bei Hirntumoren sind wir noch weit davon entfernt.“ Die Genomanalyse, berichtet Pfister, habe kürzlich Hinweise erbracht, wie „Ependymome“, eine relativ häufige Gruppe von Hirntumoren bei Kindern, genauer unterschieden und besser behandelt werden können. Im Erbgut der Tumorzellen entdeckten die Forscher charakteristische genetische Veränderungen, die nun als „ diagnostische Marker“ dienen: Mit ihnen lässt sich voraussagen, wie die Krankheit verlaufen und auf welche Medikamente sie ansprechen wird. „Je nach Risikoeinschätzung können wir jetzt die Therapie individueller planen“, erklärt Pfister. Beim Lesen des Erbguttextes von Zellen einer weiteren Gruppe von Hirntumoren, den Astrozytomen, trafen die Krebsforscher auf einen alten Bekannten: Das Gen B-RAF erwies sich bei über der Hälfte der Astrozytome als mutiert. Mutationen in B-RAF, wissen die Forscher, sind charakteristisch für eine Reihe von Tumorarten und ereignen sich stets recht früh: Sie bahnen dem Krebs gleichsam den weiteren Weg. Könnte B-RAF einer der gesuchten „Fahrer“ sein?

Von Sorafenib (Handelsname Nexavar), einem Medikament, das derzeit gegen Nieren- und Leberkrebs eingesetzt wird, ist bekannt, dass es auf das mutierte B-RAF-Gen und die dadurch verhängnisvoll veränderten Signalketten einzuwirken vermag. Mit dem gen-basierten Medikament, berichtet Pfister, wurden in Heidelberg kürzlich einige Hirntumorpatienten behandelt. Die Tumore bildeten sich teilweise zurück. Jetzt ist eine Studie mit einer größeren Anzahl von Patienten geplant. „Das Krebsgenom-Projekt birgt einen unermesslich großen Datenschatz. „ Wir kommen gar nicht umhin, ihn zu heben, wenn wir Fortschritte in der Krebsmedizin erzielen wollen“, betont Pfister. Er ist jedoch sicher, dass „uns auch nach zehn Jahren Forschung die Fragen nicht ausgehen werden – aber haben wir eine andere Wahl?“

In Heidelberg soll die Zukunft bereits in fünf Jahren beginnen. Dann, verspricht Otmar Wiestler, der wissenschaftliche Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums, soll im jüngst eröffneten Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) das Krebsgenom eines jeden Patienten entziffert und für die gen-genaue Diagnose herangezogen werden. Technisch wird das in wenigen Stunden für nur 500 Euro möglich sein. Ob sich bis dahin auch die maßgeschneiderte Medikamentenvielfalt hinzugesellt hat oder ob man trotz moderner molekularer Feindiagnose weiterhin mit den alten grobschlächtigen Waffen „Stahl, Strahl und Zellgiften“ gegen den Krebs antreten muss, ist offen. Robert Weinberg, der Entdecker des ersten Onkogens, warnte bereits vor drei Jahrzehnten: Die Euphorie, die sich an den menschlichen Tumor-Genen entzünde, könnte nur von kurzer Dauer sein, „weil die Isolierung dieser Gene mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten liefert.“ Bislang hat er damit recht behalten. ■

Die Wissenschaftsjournalistin und langjährige bdw-Autorin CLAUDIA EBERHARD-METZGER lebt in der Nähe von Heidelberg, wo sie die Zukunft der Krebsmedizin schon heute studieren kann. Fotograf RONALD FROMMANN aus Hamburg fasste nach der Reportage in der Martini-Klinik einen Vorsatz fürs Jahr 2011: Vorsorge.

von Claudia Eberhard-Metzger (Text) und Ronald Frommann (Fotos)

Weltweite Offensive gegen den Krebs

2008 startete das Internationale Krebsgenom-Konsortium (ICGC), das mindestens 50 Tumorarten molekular umfassend analysieren will. Das Ziel der in den Laboren rund um den Globus arbeitenden Wissenschaftler ist es, Kennzeichen (Marker) zu identifizieren, die eine frühe und präzise Diagnose ermöglichen. Darüber hinaus sollen neue und nebenwirkungsarme Therapien für eine individuelle Krebsbehandlung entwickelt werden. Bislang sind Forschergruppen aus über 20 Ländern an dem ICGC-Vorhaben beteiligt.

Seit dem Jahr 2010 ist auch Deutschland mit drei Projekten vertreten:

• Hirntumore: Das „PedBrain-Tumorprojekt“ wird im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg koordiniert und hat zum Ziel, die molekulargenetischen Ursachen der beiden häufigsten Hirntumore von Kindern zu analysieren.

• Prostatakrebs: Der ICGC-Forschungsverbund Prostatakrebs wird vom DKFZ und dem Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf organisiert, zu dem auch die Martini-Klinik (siehe Fotos in diesem Beitrag) gehört. In den kommenden fünf Jahren sollen die vollständigen Erbgutsätze von Prostatakrebs-Patienten unter 50 Jahren sowie von Kontrollgeweben entziffert und eine Karte aller genetischen Veränderungen des Prostatakrebses erstellt werden.

• Lymphome: Der Forschungsverbund Maligne Lymphome, koordiniert in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, will tumorspezifische Gen-Veränderungen bei bösartigen Erkrankungen des Lymphsystems identifizieren.

Die Deutsche Krebshilfe e.V. und das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördern die deutschen ICGC-Beteiligungen über fünf Jahre mit insgesamt 15 Millionen Euro.

KOMPAKT

· Bisher wurden rund 300 Gene identifiziert, die für das Entstehen von Krebs verantwortlich sein sollen. Doch die Liste ist noch lange nicht komplett.

· Erste Ergebnisse des weltweiten Krebsgenom-Projekts deuten darauf hin, dass in Tumorzellen mehrere Zehntausend Gene mutiert sind.

· Nun suchen Forscher nach Schlüsselmutationen, die den Krebs auslösen und fördern. Unbedeutende „Trittbrettfahrer“ wollen sie dagegen aussortieren.

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Blind|schlei|che  〈f. 19; Zool.〉 ungiftige beinlose Echse (Schleiche): Anguis fragilis

Ano|den|span|nung  〈f. 20; Chem.〉 Spannung zw. Kathode u. Anode in Elektronenröhren

Quan|ten|the|o|rie  〈f. 19; unz.〉 physikalische Theorie zur Beschreibung des Verhaltens außerordentlich kleiner Objekte, die davon ausgeht, dass viele physikalische Größen nur in der Form von Quanten auftreten, u. das Planck’sche Wirkungsquantum als grundlegende Naturkonstante einführt

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