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Partikeljagd in der Pampa

Astronomie|Physik

Partikeljagd in der Pampa
Das größte astronomische Observatorium der Welt entsteht zur Zeit in Westargentinien. Ziel ist die Erforschung der höchstenergetischen Kosmischen Strahlung. Ein Besuch des bdw-Astronomie-Redakteurs vor Ort.

Ab in die Pampa! Wer das von seinem Arbeitgeber zu hören bekommt, könnte sich Sorgen machen. Nicht so der bdw-Astronomie-Redakteur – der bekam sogar leuchtende Augen. Denn in der scheinbaren Einöde der Pampa, der argentinischen Grassteppe, wollen Forscher einem der größten Rätsel des Weltalls auf die Spur kommen: der höchstenergetischen Kosmischen Strahlung. Deren Energie übertrifft alles, was menschliche Ingenieurkunst nur annähernd zu erreichen vermag: Selbst der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider, der 2007 am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf in Betrieb gehen soll, schafft nur ein Hundertmillionstel dieser gewaltigen Energie.

„Die Kosmische Strahlung ist ein Schmelztiegel von Astrophysik und Teilchenphysik”, sagt Johannes Blümer, Leiter des Instituts für Kernphysik des Forschungszentrums Karlsruhe. „Auf einen einzigen Atomkern der Kosmischen Strahlung kann sich die Bewegungsenergie eines 160 Kilometer pro Stunde schnellen Tennisballs konzentrieren.” Das ist eine makroskopische Größenordnung bei einem mikroskopischen Objekt! Und die dürfte es nach konservativen physikalischen Abschätzungen eigentlich gar nicht geben.

Blümer holpert in einem Tross von Kleinbussen mit Wissenschaftlern, Journalisten und diversen offiziellen Delegationen über die staubigen Schotter- und Erdpisten der Pampa Amarilla, der „gelben Pampa” am Fuß der schneebedeckten Anden. Hier in der westargentinischen Provinz Mendoza entsteht auf einer Fläche so groß wie das Saarland das größte astrophysikalische Observatorium der Welt.

Am 10. November 2005 wurde es offiziell eingeweiht. Wobei „ Einweihung” nicht ganz stimmt. Denn zum einen ist das Auger-Observatorium – benannt nach dem französischen Physiker Pierre Auger, der als Erster Schauer von hochenergetischen Kosmischen Strahlen gemessen hat – noch gar nicht fertig. Zum anderen ist es längst in Betrieb und hat bereits mehr Daten gesammelt als alle vergleichbaren Anlagen vor ihm zusammen. Das klingt verwirrend, liegt aber einfach daran, dass das Auger-Observatorium kein klassisches Fernrohr ist, sondern im Endzustand eine gigantische Anlage, die aus 1600 Detektortanks und 4 Teleskop-Gebäuden in jeweils 6 einzelnen Spiegelteleskopen bestehen wird. Mehr als 1000 der mit je 1,5 Kilometer Abstand angeordneten Tanks sind bereits aufgestellt – über 90 Prozent davon messen schon –, ebenso drei der vier Teleskop-Stationen an den Ecken des Tank-Areals. In den nächsten 15 bis 20 Jahren soll das Auger-Observatorium die Energie, Zusammensetzung und Herkunft der Kosmischen Strahlung enträtseln.

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„Die primäre Zusammensetzung der Kosmischen Strahlung herauszufinden, ist eine große Herausforderung und wesentlich schwieriger als die Messung der Energien und Richtungen”, betont James W. Cronin von der University of Chicago, der ebenfalls mit unterwegs ist. Der 1931 geborene US-Amerikaner hat 1980 mit Val Logsdon Fitch den Physik-Nobelpreis erhalten für die Entdeckung von Asymmetrien im Zerfall bestimmter Elementarteilchen, den neutralen K-Mesonen.

Zusammen mit Alan Watson von der britischen University of Leeds ist er der geistige Vater des Observatoriums. Watson hat schon 1990 den Bau einer 1000- Quadratkilometer-Anlage vorgeschlagen, nachdem er 20 Jahre lang die nur fast ein Hundertstel so große von Haverah Park in England erfolgreich geleitet hatte. „Die experimentellen Probleme sind schwierig, aber sicherlich lösbar. Alles, was nötig ist, sind Hingabe, Geld und Geduld”, sagte er damals. Doch Cronin hielt Watsons Vorschlag für „nicht ehrgeizig genug” und propagierte eine 5000- Quadratkilometer-Anlage. Nach einem mühsamen Beginn mit vielen Gesprächen und Konferenzvorträgen – „man fühlte sich fast wie ein Handlungsreisender”, erinnert sich Watson, der sogar das Blei der Abschirmungen seiner früheren Detektoren verkaufte, um die Reisekosten aufzubringen –, fand in Paris 1992 der erste Design-Workshop statt. Das Konzept stand dann 1995 nach einer sechsmonatigen Studie, die am Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia, Illinois, angefertigt wurde. „Jim ging durch Türen, an die ich nicht einmal anklopfen konnte”, betont Watson, der Sprecher der Auger-Kollaboration, die Bedeutung von Cronins Nobelpreis als Türöffner.

Bei der Suche nach einem Standort machte Argentinien vor Südafrika und Australien das Rennen. Bedingungen war ein 1500 Meter hoch gelegenes Flachland zwischen dem 30. und 45. südlichen Breitengrad – ein weiteres Observatorium soll später im Norden entstehen – mit wenig Wolken und keinem künstlichen Licht von Städten, aber einer guten Infrastruktur und Unterstützung für die Wissenschaft.

Die Auger-Kollaboration besteht inzwischen aus ungefähr 350 Wissenschaftlern von 63 Instituten in 16 Ländern. 60 davon sind Deutsche, von denen zwei Drittel in Karlsruhe arbeiten, denn das Forschungszentrum und die Technische Universität dort sind maßgeblich am Auger-Observatorium beteiligt (hauptsächlich an den Teleskopen). Hinzu kommen Wissenschaftler von den Universitäten Wuppertal, Siegen und Aachen. Neben Deutschland, das rund 10 Millionen der insgesamt 55 Millionen US-Dollar Gesamtkosten trägt (ohne Personal), zahlen die USA, Frankreich, Italien und Argentinien die größten Beiträge. Nachdem 1998 die Finanzierung zum größten Teil bewilligt war, begann im März 1999 der Bau einer Prototyp-Anlage mit 37 Tanks auf 46 Quadratkilometer Fläche und zwei Teleskopen. „Das 1995 beschlossene Design funktioniert außerordentlich gut”, lautete das 2004 veröffentlichte Fazit. Der Aufbau des gesamten Observatoriums wurde indessen Tank um Tank vorangetrieben. Allerdings brachte die Wirtschaftskrise 2001 in Argentinien, Brasilien und Mexiko finanzielle Engpässe mit sich und wird die Fertigstellung bis vermutlich Ende 2006 verzögern. Mit einer Fläche von 3000 Quadratkilometern übertrifft Auger alle bisherigen Experimente um rund das 30fache.

Diese riesige Fläche ist nötig – denn die höchstenergetischen Teilchen aus dem All sind so selten, dass sich im Schnitt nur eines pro Jahrhundert auf einer Fläche von einem Quadratkilometer nachweisen lässt. Auger dürfte also etwa 30 pro Jahr aufspüren. Dabei hat das Primärteilchen aus dem All eine Energie von 1020 Elektronenvolt. Ein Elektronenvolt (1,6 . 10–19 Joule) entspricht ungefähr der Energie des Lichts aus einer Lampe. Die Energieverteilung der Kosmischen Strahlung reicht von 109 bis zu über 1020 Elektronenvolt, ihre Intensität nimmt dabei um den Faktor 1030 ab. Die häufigsten Partikel haben 1 bis 10 Milliarden Elektronenvolt – energieärmere stammen von der Sonne beziehungsweise werden vom magnetischen Sonnenwind daran gehindert, vom interstellaren Raum ins Sonnensystem einzudringen. Überwiegend sind es Protonen (80 Prozent bis 1014 Elektronenvolt) und andere leichte Atomkerne, mitunter aber auch massereichere Teilchen bis hin zu Eisen-Kernen; Elektronen machen nur etwa ein Prozent aus. Bei Sternexplosionen und den Stoßwellen in deren Trümmerwolken werden die Partikel vermutlich beschleunigt und kreuz und quer durch die Milchstraße geschleudert. „Ihr Weg gleicht dem eines Betrunkenen, denn die geladenen Teilchen werden von den galaktischen Magnetfeldern mehrfach so stark abgelenkt, dass sich ihre Herkunft nicht rekonstruieren lässt”, sagt Watson.

Teilchen mit Energien über 1018 Elektronenvolt lassen sich von den galaktischen Feldern aber nicht einsperren und stammen vermutlich von außerhalb der Milchstraße. Bei noch höheren Energien können ihnen auch die Magnetfelder nicht mehr viel anhaben – die höchstenergetischen Protonen werden maximal zwei Grad abgelenkt, die 26fach positiv geladenen Eisen-Kerne allerdings bis zu 20 Grad –, so dass das Auger-Observatorium mit seiner Winkelauflösung von im günstigsten Fall 0,7 Grad wahrscheinlich sogar ihre Herkunft ermitteln kann.

Der Nachweis der Teilchen geschieht indirekt. Die hochenergetischen Partikel sind nämlich zu selten für die kleinen Messgeräte in Höhenballonen oder Satelliten. Stattdessen nutzen die Forscher die Erdatmosphäre als ersten „Detektor”. Denn die Teilchen aus dem All dringen nicht bis zum Erdboden durch, sondern treffen vorher auf Luftmoleküle und erzeugen dabei eine Kaskade von Sekundärteilchen, die weitere Reaktionen auslösen und in einem immer größer werdenden Kegel fast lichtschnell auf den Erdboden zu rasen. Ein großer Schauer enthält 100 Milliarden Partikel, überwiegend Photonen, sowie zehnmal weniger Elektronen und Positronen an den Rändern, aber auch Myonen (schwere, kurzlebige Geschwister der Elektronen), Neutrinos und Hadronen. Zu den Hadronen (Teilchen aus Quarks) gehören neben Protonen und Neutronen die Pionen und Kaonen. „Sie sind relativ eng entlang der Schauerachse konzentriert, im Abstand von ungefähr 30 Metern” , sagt Ralph Engel vom Institut für Kernphysik des Forschungszentrums Karlsruhe.

Die geladenen Pionen zerfallen in Myonen und Neutrinos, die neutralen in Gammaquanten, die rund 90 Prozent eines solchen Luftschauers ausmachen. Er kann je nach Energie und Einfallswinkel mit einem Durchmesser von einigen Hundert Metern bis vielen Kilometern den Erdboden treffen. Engel hat viele Jahre seines Forscherlebens idamit verbracht, die Entwicklung, Zusammensetzung und Energie der Luftschauer zu studieren. Aufwendige Computersimulationen kommen ihm und seinen Kollegen zu Hilfe. Die einschlägigen Programme haben so klangvolle Akronyme wie JETSET, MOCCA, COSMOS, AIRES und CORSIKA.

Bei der Messung der Sekundärteilchen haben sich im Lauf der Jahrzehnte zwei verschiedene Methoden bewährt – aber erst das Auger-Observatorium kombiniert als Hybrid-Anlage die Vorteile beider, was nicht nur die Winkelauflösung, sondern vor allem auch die Energiebestimmung stark verbessert. Die eine Methode basiert auf dem stichprobenartigen Nachweis von Sekundärteilchen am Boden – dafür sind die 1600 Tanks zuständig. Die andere Methode misst die als Nebeneffekt freigesetzten schwachen Ultraviolett-Blitze in der Luft, die von zur Fluoreszenz angeregten Stickstoff-Atomen stammen – dazu dienen die vier Teleskop-Stationen. „Die Fluoreszenz-Technik ähnelt einer Primadonna, die ständig verhätschelt werden muss. Dann singt sie mit solcher Schönheit, dass es einem den Rücken hinunterläuft”, veranschaulicht Cronin den Unterschied. „Im Gegensatz dazu erinnert einen die Tanktechnik an eine Chanteuse in einer rauchigen Bar, die immer mit derselben Leidenschaft singt, egal wie sie sich fühlt oder wie sie behandelt wird.”

Die zylinderförmigen Polyethylen-Tanks – jeweils 3,6 Meter im Durchmesser und 1,55 Meter hoch – sind aus einem Stück. Sie sind bräunlich-gelb, damit sie in der Pampa nicht auffallen. „Das war eine Auflage der Regierung”, schmunzelt Hartmut Gemmeke vom Institut für Prozessdatenverarbeitung und Elektronik des Forschungszentrums Karlsruhe. Er klopft auf das Zentimeter dicke Hartplastik eines Tanks: „In jedem Tank steckt eine innen weiße und außen schwarze Kunststoff-Folie, die wir ‚Liner‘ nennen. Sie ist mit zwölf Kubikmetern hochreinem Wasser gefüllt.” Das Wasser wird vorher gefiltert, enthärtet, deionisiert und UV-bestrahlt, um jegliches Bakterienwachstum zu unterbinden. Die Methode hat sich bewährt – bei Watsons Anlage in England wurden ähnliche Tanks nach 20 Jahren geöffnet, und die Wissenschaftler genehmigten sich dann daraus einen biologisch völlig sterilen Drink.

In das Wasser sind von oben drei hochempfindliche, 20 Zentimeter große Photomultiplier eingetaucht, die selbst winzige Lichtmengen messen und verstärken können. Und das ist auch ihre Aufgabe: Flitzen geladene Teilchen aus den Luftschauern durch das Wasser, haben sie darin eine größere Geschwindigkeit als selbst Licht und senden bläuliche Tscherenkow-Strahlung aus, die im Liner diffus hin und her reflektiert wird. Dieser von dem russischen Physiker Pawel A. Tscherenkow 1934 entdeckte Effekt ist analog zum Überschall-Knall eines Flugzeugs. Pro Partikel sind es zwar durchschnittlich nur etwa 80 Photonen, die nachgewiesen werden können, aber bei einem „Volltreffer” rauschen über 1000 Sekundärteilchen durch das Wasser und bringen die Messgeräte über die Sättigungsgrenze.

„Die zeitliche Auflösung der Tanks beträgt 25 Milliardstel Sekunden, ein herunterprasselnder Luftschauer dauert etwa vier Millionstel Sekunden”, sagt Antoine Letessier-Selvon von der Universität Paris. „Die Elektronik hat eine Speicherkapazität von 20 Ereignissen pro Sekunde. Die Daten werden zehn Sekunden lang im Zwischenspeicher gehalten.” Benachbarte Tanks werden einmal in jeder Sekunde miteinander verglichen, um aus dem Hintergrundrauschen die Luftschauer herauszufiltern. Dabei müssen stets mindestens drei Tanks gemeinsam ansprechen. Die unpassenden Daten werden größtenteils gleich wieder gelöscht und nur ein paar für statistische Zwecke archiviert. Lediglich etwa ein Ereignis pro Tag aktiviert mehr als zehn Tanks.

Pro Sekunde rasen etwa 3000 Myonen in jeden Tank. Die meisten davon gehören nicht zu einem großen Luftschauer. Sie sind nur das Rauschen des Messhintergrunds – und doch von Nutzen, denn mit ihnen können die Tanks fortwährend geeicht werden.„Bei einem großen Schauer mit 1020 Elektronenvolt sprechen in einem sechs Kilometer weiten Gebiet etwa 16 Tanks gleichzeitig an. Einmal hatten wir ein Ereignis, das von 40 Tanks registriert wurde – da traf der Luftschauer die Anlage mit einem Zenitwinkel von 80 Grad fast horizontal”, berichtet Letessier-Selvon.

Jeder Tank ist autark und gewinnt seine Energie durch Solarzellen, die 60 Watt liefern. „Zusätzlich gibt es noch zwei 12-Volt-Puffer-Batterien, die für mindestens zwei Monate halten”, erklärt Pablo Bauleo. „Das wissen wir, weil bei einem Tank versehentlich die Solarzellen nicht angeschlossen wurden.” Der junge Forscher von der Colorado State University arbeitet schon seit Jahren bei Auger in Argentinien. „Der ganze Tank mit Photomultipliern, Elektronik, Funk und GPS benötigt weniger als 10 Watt”, sagt er stolz. Die Kommunikation der Tanks untereinander und mit dem Zentralcomputer erfolgt über ein modifiziertes Mobilfunk-System. Orte und Zeiten – auf etwa 10 Milliardstel Sekunden genau – werden über GPS-Geräte bestimmt, die an jedem Tank installiert sind. „Eine Verkabelung der Tanks hätte mehr gekostet als das Observatorium insgesamt”, sagt Gemmeke.

Die stundenlange Fahrt durch die Pampa lässt ahnen, welche Herausforderungen mit dem Aufbau des Observatoriums verbunden sind. Nur wenige Pisten ziehen durch das fast menschenleere Land. Manchmal ist ein Bauernhof zu sehen; Rinder, auch ein paar Pferde und Ziegen kauen weit verstreut an der kargen Vegetation. Im Sommer sticht die Sonne vom Himmel. Im Winter ist der Boden teilweise so nass, dass er selbst für Geländefahrzeuge unpassierbar wird. Ohne GPS wäre die Orientierung kaum möglich.

Außerdem machen Tiere Probleme. Die Techniker müssen sich vor Schlangen, Spinnen und Skorpionen in Acht nehmen, die sich zuweilen unter den Tanks verstecken. „Kühe scheuerten sich an den Kabeln an der Tankwand und rissen sie ab”, berichtet Ralph Engel, „daran hatten wir nicht gedacht. Dabei ist es kein Wunder, denn es gibt keine Bäume in der Pampa, und schattige Plätzchen sind rar.” Auch Viscachas sorgten für Ärger: Die rund 50 Zentimeter großen, hasenähnlichen grauen Nagetiere knabberten ein paar Kabel an. „Rätselhaft war außerdem ein Abfall der Stromspannung bei einigen Tanks”, erzählt Engel grinsend. „Die Techniker fuhren hinaus – und entdeckten, dass die Solarzellen weiß bekleckert waren. Greifvögel hatten die Funkantenne darüber als Aussichtsplätzchen und Toilette aus erkoren.” Doch all diese Schwierigkeiten ließen sich lösen: Die Kabel wurden mit einem Plastikgehäuse verkleidet, und beim Aufstellen der Tanks wird die Antenne nun neben den Solarzellen angebracht.

Vandalismus schießwütiger Gauchos war eine andere Befürchtung. Schon ein einziges Loch würde einen Tank unbrauchbar machen und eine teure, zeitraubende Reparatur nach sich ziehen. Doch bislang gibt es keine Probleme mit ihnen: Die Bevölkerung steht hinter dem Projekt, weil die Wissenschaftler sich viel Zeit für Informationen und Kooperation genommen haben. „Die Farmer erhalten für die Landnutzung den Wert einer fetten Ziege pro Jahr” , sagt Hartmut Gemmeke. Schüler konnten „Paten” für die Tanks werden und ihnen Namen geben, die in schwarzen Großbuchstaben neben den Solarzellen stehen. „Darauf schießt man nicht so schnell”, sagt Gemmeke. So stehen inzwischen neben Claudia, Bruno und Pepe auch Harry Potter, Disneyland und Diego Maradona in der Pampa, außerdem Sternbilder wie Andromeda und Orion, Wissenschaftler wie Albert Einstein und Stephen Hawking, aber auch Beethoven, Borges, Schiller – und das Wort „Friede” in verschiedenen Sprachen. Wenn der Vorschlag des bdw-Astronomie-Redakteurs angenommen wird, gesellt sich bald der 1991 verstorbene große argentinische Schriftsteller Adolfo Bioy Casares hinzu, den dieser Gedanke bestimmt amüsiert hätte.

Das Städtchen Malargüe profitiert vom Observatorium. In dem 10 000-Einwohner zählenden Ort 180 Kilometer südwestlich von San Rafael am Südwestrand der Anlage steht das Auger-Hauptquartier, ein architektonisch schön gestaltetes Gebäude mit dem Zentralcomputer, Wissenschaftlerbüros, Werkstätten und den Geräten zur Wasserdestillierung. Auf der anderen Seite der Hauptstraße befindet sich eine eindrucksvolle Gemeindehalle, im Inneren geschmückt mit lokaler Kunst und archäologischen Funden, die den halbjährlichen Auger-Kollaborationstreffen als Konferenzzentrum dient. Das Observatorium hat Arbeitsplätze gebracht, Devisen durch die vielen Wissenschaftler und Techniker aus dem Ausland – und entwickelt sich sogar zu einer kleinen Touristen-Attraktion. „Armut gibt es zwar auch hier, aber in Malargüe geht es nach der Wirtschaftskrise und Abkopplung des Peso vom Dollar rascher aufwärts als anderswo in Argentinien”, sagt Engel. Die Kinder lernen nun Englisch, was vor zehn Jahren nur drei Leute beherrschten. James Cronin hat sogar Geld für den Bau einer Grundschule gestiftet. „Wir fühlen uns wohl hier”, sagt Hans-Otto Klages, Leiter der Auger-Gruppe am Institut für Kernphysik in Karlsruhe. „Und beim jährlichen Umzug gehen wir zwischen Motocross- und Kaninchenzüchtervereinen mit und halten die Auger-Fahne hoch.”

Unzählige Schlaglöcher und Staubschwaden sowie eine Reifenpanne später ist Los Morados erreicht, ein stattlicher Hügel, auf dem ein 40 Meter hoher Funkmast thront. Vor ihm steht ein halbkreisförmiges Gebäude mit sechs nebeneinander liegenden Stahltoren – eine der vier Teleskop-Stationen. Sie werden größtenteils vom Forschungszentrum Karlsruhe gebaut und betrieben – künftig sogar automatisch über das Internet. Die Stationen wurden auf Anhöhen 50 bis 300 Meter über der flachen Pampa errichtet, um dem Bodendunst zu entkommen, und überblicken das gesamte Wassertank-Areal.

Jedes einzelne Teleskop hat ein Blickfeld von 30 Grad Breite mal 30 Grad Höhe, nebeneinander stehend ergeben sechs also eine 180-Grad-Sicht horizontal. Jedes Teleskop steht hinter einem 1,7 Meter messenden UV-durchlässigen Riesenfilter, das atmosphärisches Streulicht absorbiert, und hat einen 3,5 mal 3,5 Meter großen, sphärisch gekrümmten Spiegel, der aus 36 Segmenten zusammengesetzt ist. Im Brennpunkt steht ein Ungetüm von Kamera: einen Quadratmeter groß und aus 440 Photomultipliern zusammengesetzt, von denen jeder eine 1,5 mal 1,5 Grad große Himmelsregion abbildet.

Die Auflösung dieser Teleskope ist sehr schlecht, doch sie spähen nicht in den Weltraum, sondern messen Ultraviolett-Blitze in der Atmosphäre. Die dauern nur 1 bis 20 Millionstel Sekunden und werden von fluoreszierenden Stickstoff-Molekülen abgestrahlt. Die Energie stammt vom „Streifschuss” eines vorbeirasenden Teilchens der Kosmischen Strahlung mit mindestens 1016 Elektronenvolt. Es hat den Stickstoff in der Luft angeregt, so dass der durch eine Umordnung seiner Elektronen die Energie wieder loswerden muss. Das geschieht durch eine „isotrope Emission” bei 300 bis 400 Nanometer und lässt sich bei Partikeln von 1020 Elektronenvolt in klaren, mondlosen Nächten bis zu 40 Kilometer weit beobachten.

Die meisten UV-Blitze gehen auf das Konto von Protonen und entstehen in zwei bis fünf Kilometer Höhe. Treffen Eisen-Kerne auf die Atmosphäre, fluoresziert der Stickstoff schon etwa acht Kilometer über dem Meeresspiegel, weil sie nur 1/56 der Energie pro Nukleon besitzen (man kann sie sich als überlagerter Schwarm aus 56 Kernteilchen vorstellen). Um das Himmelshintergrundlicht auszublenden, werden Fluoreszenz-Ereignisse nur als solche gespeichert und weiterverarbeitet, wenn sie mindestens vier von fünf nebeneinander liegenden Photomultipliern aktivieren.

„Unsere Teleskope sind so empfindlich, dass sie eine 50-Watt-Birne, die mit Lichtgeschwindigkeit durch die Atmosphäre sausen würde, noch in 30 Kilometer Distanz beobachten könnten”, schwärmt Hartmut Gemmeke. Diese Sensitivität hat aber auch ihre Tücken: Die Kamera darf keinesfalls dem Sonnenlicht ausgesetzt werden. Deshalb sind schwarze Vorhänge hinter dem UV-Filter installiert, die im Notfall binnen einer Sekunde herunterfallen. Gemmeke weiß, wovon er spricht, denn bei der Reparatur einer Kamera hat er sich blutige Finger geholt. „Versehentlich kam einmal die Morgensonne ins Gesichtsfeld eines Spiegels – gleich darauf stand die Kamera in Flammen. Glücklicherweise mussten wir aber nur sechs Photomultiplier auswechseln.”

Jedes Teilchen mit über 1019 Elektronenvolt wird mit mindestens einem Teleskop beobachtet, 60 Prozent davon sogar mit zwei oder mehr. In der Regel sprechen dann auch die Wassertanks an. Das erlaubt nicht nur eine viel präzisere Richtungsbestimmung der Teilchen als mit früheren Observatorien, sondern in vielen Fällen auch eine Identifikation der Teilchensorte. Und vor allem eine direktere Messung der Schauerenergie als mit den Tanks allein – denn der unsichtbare Anteil von Neutrinos und Myonen, der mit einberechnet werden muss, hängt zu einem kleinen Teil von der Masse des Primärteilchens und dem Wechselwirkungsmodell der zur Berechnung notwendigen Computersimulationen ab.

„Wir müssen jetzt anfangen, die Flöhe zu rasieren”, blickt Gemmeke schmunzelnd in die Zukunft. Alles dreht sich nun darum, die systematischen Messfehler zu verkleinern. „Ohne genaue Kenntnis der Atmosphäre ist mit den Fluoreszenz-Daten für unsere hoch gesteckten Ziele wenig anzufangen”, ergänzt Engel. „Die Aerosole in der Luft sind das größte Problem, weil sie UV absorbieren und ihre Menge stark schwankt.” In den für Fluoreszenz-Messungen geeigneten Nächten – etwa 80 im Jahr – nehmen die Wissenschaftler deshalb auch die Atmosphäre ins Visier.

Das geschieht zum einen durch Wetterstationen und regelmäßig aufsteigende Wetterballone, die die Temperatur, Dichte, Schichtungen und Wolken in bis zu 25 Kilometer Höhe messen. Bei besonders energiereichen Luftschauern, den „goldenen Ereignissen” , fährt wenig später extra ein Techniker in die Pampa, um einen zusätzlichen Ballon zu starten. Zum anderen wird die Atmosphäre mit Hilfe von UV-Laserstrahlen analysiert. Extra zu diesem Zweck steht 150 Meter hinter jeder Teleskop-Station ein kleines, weißes Kuppelhäuschen, eine LIDAR-Anlage (Light Detection And Ranging). Neben einem Laser, der bis zu 20 Kilometer hoch und 25 Kilometer weit feuert, stecken in der Kuppel drei 80-Zentimeter-Parabolspiegel, die die Rückstreuung der Laserstrahlen messen und somit Schlüsse auf die Aerosole und Dunstwolken erlauben, was wiederum die Messungen der Luftschauer präzisiert. Mit einem weiteren Laser wird ab und zu in die Nachtluft gefeuert, um auch die Teleskope zu eichen, sowie via Glasfaser in einen Tank, um die Synchronisation von Tanks und Teleskopen zu testen. Der Laser steht in der Mitte des Tank-Areals in der Central Laser Facility – einem engen Container-Bau, den Solarzellen mit Strom versorgen.

„Die ganze Arbeit steckt nun in der Kalibrierung”, fasst Engel zusammen. Das gilt auch für die Tanks. „Sogar das Fluoreszenzspektrum des Stickstoffs wird jetzt in Labors noch einmal exakter vermessen, denn die seit Langem bekannten physikalischen Daten sind für unsere Zwecke nicht genau genug.” Engel hofft, dass am Ende aller Feinjustierungen „die systematischen Messfehler auf unter fünf Prozent gedrückt werden können”. Dann lassen sich wohl auch die Diskrepanzen in der Energiebestimmung früherer Experimente wie AGASA in Japan und HiRes in Utah sowie die zur Zeit noch zwischen Tanks und Teleskopen bestehenden Unterschiede von jeweils rund 25 Prozent ausräumen.

Die Präzision und schiere Menge der Auger-Daten soll eines der größten Rätsel der Astrophysik klären: die Natur und Herkunft der höchstenergetischen Kosmischen Strahlung. Verschärft wird das Problem durch eine physikalische Grenze, im Fachjargon „GZK cutoff” genannt, derzufolge es gar keine Partikel mit Energien von 1020 Elektronenvolt aus kosmischen Distanzen geben dürfte.

GZK steht für die Nachnamen der Physiker Kenneth Greisen, Georgi T. Zatsepin und Vadim A. Kuz’min, die 1966 diese Grenze berechnet hatten. Weil Protonen mit Energien über 5 . 1019 Elektronenvolt sehr effektiv mit den Photonen der Kosmischen Hintergrundstrahlung wechselwirken, dem Restleuchten vom Urknall, verlieren sie Energie. Ein Proton mit 8 . 1019 Elektronenvolt hat nur eine Chance von 10 Prozent, weiter als 100 Megaparsec zu kommen, und eines mit 3 . 1020 Elektronenvolt – der bisherige Rekordhalter – gar nur eine von 0,1 Prozent, mehr als 50 Megaparsec zurückzulegen (1 Megaparsec sind 3,26 Millionen Lichtjahre). Das bedeutet, dass 50 Prozent der Teilchen mit 1020 Elektronenvolt – vor Auger wurden 17 entdeckt – innerhalb eines Radius von 20 Megaparsec stammen sollten. Wären die Partikel nicht Protonen, sondern Eisen-Kerne, dann läge ihre GZK-Grenze etwas weiter entfernt. Doch in dieser relativ geringen Entfernung sind keine Quellen dafür bekannt. Und da die Partikel der Kosmischen Strahlung aus allen Richtungen gleich häufig eintreffen, stammen sie sehr wahrscheinlich aus extrem weiten Distanzen. Denn galaktische Quellen wären aufgrund der „ Außenseiterposition” des Sonnensystems nicht symmetrisch am Himmel verteilt.

Wenn die GZK-Grenze wirklich von der Kosmischen Strahlung überschritten wird, dürften revolutionäre Erkenntnisse nicht lange auf sich warten lassen:

• Entweder stammen die Teilchen nicht aus großen Entfernungen, sondern werden in der Nähe erzeugt, etwa im Galaktischen Halo durch den Zerfall unbekannter Teilchen, die vielleicht noch aus der Zeit des Urknalls stammen und eine Erweiterung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik nach sich zögen. Aber dagegen spricht die Isotropie der Strahlung.

• Oder die GZK-Grenze wird durch einen unbekannten physikalischen Effekt umgangen – vielleicht durch eine Verletzung der Lorentz-Invarianz, die ein Grundpfeiler der Speziellen Relativitätstheorie ist. Das würde letztlich die Konstanz der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit außer Kraft setzen. Aber dann müsste noch immer erklärt werden, wie die hohe Bewegungsenergie der Teilchen zustande kommt.

„Noch gibt es kein befriedigendes Modell, überall sind Haken und Ösen”, sagt Ralph Engel und lässt den Blick in die Ferne schweifen, wo die schneebedeckten Gipfel der Anden in den Horizont ragen. „Fest steht: Viele Modelle können durch Auger widerlegt werden. Wir werden in den nächsten Jahren folglich so oder so wichtige Einsichten gewinnen.”

Der aufgewirbelte Staub über der Pampa legt sich. Der Fahrzeug-Konvoi ist verschwunden, die Stille kehrt zurück. Die einsamen Plastikzylinder aber, in deren Schatten einige Rinder wiederkäuen, registrieren weiterhin unermüdlich die unsichtbaren Teilchenkaskaden, die Milliarden Lichtjahre gereiste Partikel über ihnen auslösen. Kaum zu glauben, dass an diesem entlegenen Ort das ganze Universum hinterfragt wird. ■

Rüdiger Vaas

COMMUNITY Fernsehen

Das Wissensmagazin „nano” hat einen Bericht über das Auger-Observatorium produziert. Erstausstrahlung ist in 3Sat am Donnerstag, den 26. Januar, um 18.30 Uhr. Wiederholungstermine und mehr bei: www.3sat.de/nano

Lesen

Die Erforschung der Kosmischen Strahlung:

Roger Clay, Bruce Dawson

COSMIC BULLETS

Perseus, New York 1997, € 15,50

Internet

Auger-Observatorium:

www.auger.org und www.auger.de

Forschungszentrum Karlsruhe

www.fzk.de

Ohne Titel

Ohne Titel

• Das internationale astronomische Pierre-Auger-Observatorium in Argentinien wird aus 24 Teleskopen und 1600 Wassertanks bestehen, verteilt über 3000 Quadratkilometer.

• Nachweisen wird es die Sekundärstrahlung, die entsteht, wenn sehr energiereiche Atomkerne aus dem All auf die Erdatmosphäre prallen.

• Herkunft und Energie dieser ominösen Strahlung gehören zu den größten Rätseln der Astrophysik.

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