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SENIOREN IN DER MUCKIBUDE

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

SENIOREN IN DER MUCKIBUDE
Sport kann den Verlauf einer beginnenden Demenz deutlich bremsen. In Heidelberg absolvieren alte Menschen ein spezielles Trainingsprogramm.

Als Eis und Schnee wochenlang auf dem Asphalt hingen, traute Margit Lauer (Name geändert) sich nicht mehr aus dem Haus. Sie lief die Kellertreppe auf und ab. Wenigstens ein bisschen bewegen, dachte sie. Doch sie stürzte, kam in die Notaufnahme und dann in die Reha. Da sitzt sie nun auf der Kante ihres Bettes im Bethanien-Krankenhaus in Heidelberg, in blauer Jogginghose und T-Shirt, mit Brille, die Haare grau und kurz geschnitten. Wie alt ist sie? Margit Lauer lacht verlegen: „Es gibt Ältere.” Stille breitet sich in dem kalkweißen Hospitalzimmer aus. Mitten hinein sagt Margit Lauer plötzlich: „76 wird’s wohl sein.”

Ihr Leben ruht in ihr wie ein stiller See. Wenn sie davon erzählen soll, tröpfeln die Worte über ihre Lippen und versiegen dann jäh. In der Klinik wissen sie, dass Margit Lauer an einer beginnenden Demenz leidet. „Man merkt es schon”, sagt Betreuerin Stefanie Gogulla. „Sie hat keinen Drang zu sprechen, weil ihr die Worte fehlen.” Man hat das Gefühl, Margit Lauer merkt es auch und versucht es zu verbergen. Ihr sanftmütiges Gesicht dehnt sich dann zu einem kurzen Lachen. Unvermittelt schwappt irgendein Satz aus ihr heraus, der schnell das offenbar gewordene Vergessen wegschwemmt.

ZWEI DINGE GLEICHZEITIG TUN

Im Bethanien-Krankenhaus, dem Geriatrischen Zentrum am Universitätsklinikum Heidelberg, wollen sie Frau Lauer auf die Beine bringen. Sie nimmt an einer Studie teil: Spezielles Kraft- und Funktionstraining soll sie mobil machen und den Verlust ihrer Geisteskraft bremsen. Forschungsleiter Klaus Hauer möchte damit an eine Studie anknüpfen, die er 2010 im renommierten Journal „ Neurology” platzieren konnte. Zum ersten Mal weltweit zeigte er, dass Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz von Bewegung profitieren – sowohl körperlich als auch geistig. Hauer kombinierte ein dreimonatiges Kraft- und Funktionstraining mit Gleichzeitigkeitsübungen, sogenannten Dual-Task-Aufgaben, wie Vorwärtsgehen und gleichzeitig in Zweierschritten aufwärts zählen. Aus gutem Grund: Demenzpatienten tun sich schwer, zwei Dinge auf einmal zu erledigen. Sie stürzen oft, wenn sie im Laufen angesprochen werden. Insgesamt fallen sie drei bis vier Mal so häufig wie Gleichaltrige.

„Bei allen 122 trainierten Patienten in unserer Studie besserte sich der motorische, der mentale und der psychische Zustand”, berichtet Hauer. Nach dem Training waren sie kräftiger, gingen schneller und sicherer. Die Dual-Task-Aufgaben meisterten die Senioren mit größerem Erfolg. Ihre geistigen Leistungen verbesserten sich generell.

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UNGEAHNTES POTENZIAL

Ein bisschen Sport kann den Krankheitsverlauf also deutlich bremsen. In dieser Erkenntnis schlummert eine Sensation. Denn Medikamente wirken dem geistigen Verlust bisher nicht ursächlich und nennenswert entgegen. 1,3 Millionen Betroffene in Deutschland und ungezählte Angehörige können gegenwärtig nur hinnehmen, wenn die Erinnerung versiegt, die Persönlichkeit sich wandelt und lebenslange Freunde sich entfremden. 2030 werden es zwei Millionen sein. Eingedenk dieser prekären Perspektive zählt Hauer auf Linderung durch Bewegung. Das Potenzial sei ungeahnt, da nichtpharmakologische Therapien kaum erforscht sind. Hauers Standpunkt sticht in der Demenzforschung heraus. Doch der Studienleiter befindet sich in guter Gesellschaft: „Körperliche Aktivität verbessert die kognitiven Leistungen dementer Patienten” , glaubt auch Psychiater Jens Wiltfang vom Universitätsklinikum Duisburg-Essen. Neuropsychologin Laura Baker von der University of Washington geht noch weiter: „Sport weckt zurzeit mehr Hoffnungen als irgendein Medikament.”

Nur, wie kann man Menschen mit Demenz für Sport motivieren? „ 40 bis 50 Prozent der Patienten in unserem geriatrischen Zentrum haben eine kognitive Beeinträchtigung”, berichtet Hauer. Der Grund der Einweisung sei aber fast immer ein anderer, meist ein Sturz. Deshalb möchte Hauer das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden. Sein bewährtes Bewegungsprogramm will er in die klassische Rehabilitation nach Unfällen oder Operationen integrieren. Im laufenden Projekt, an dem Margit Lauer teilnimmt, möchte er die Machbarkeit dieses Konzeptes beweisen.

DIE AUSGESCHLOSSENEN EINBEZIEHEN

Bisher werden Demenzkranke oft von Reha-Maßnahmen und damit von körperlichem Training ausgeschlossen, weiß Hauer. Zu teuer, mühselig in der Betreuung und ineffektiv, lauten die Argumente, die nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen werden. Hauer wähnt hinter den negativen Resultaten aber einen Fehler im System: Die Reha sei oft nicht auf die Betroffenen abgestimmt. Anweisungen, wie „Heben sie den linken Arm und berühren sie den Mittelscheitel” verstünden sie nicht, veranschaulicht der Sportwissenschaftler. Pflegekräfte und Therapeuten sind seiner Erfahrung nach im Umgang mit Demenzpatienten oft unzureichend geschult. Wenn der betagte Herr herumschreit, die Dame zum wiederholten Mal um Erläuterung der Übung bittet und ihre Zimmernachbarin dazwischen plappert, dass sie gleich ihren Mann auf dem Friedhof besuchen werde, ist das Personal zum Teil überfordert. Es wird künftig jene „schwierigen Patienten” meiden, so Hauer. Das Training verfehlt das Ziel.

Das Bewegungsprogramm muss demenzspezifisch vermittelt werden, ist Hauers Losung. Beispielsweise müssen Bewegungen vorgemacht statt umständlich erklärt werden. Denn Nachahmung gelingt auch bei Demenz gut. Die Betreuer sollen auf die Patienten emotional eingehen und ihnen respektvoll begegnen. Fehler werden nur korrigiert, wenn sie für den Fortschritt der Reha wesentlich sind. Sonst werden die Betroffenen vor allem gelobt, damit sie sich selbst positiv erleben. In dieser positiven Stimmung potenziert sich laut Hauer die Wirkung des Trainings.

Wie sieht das in der Praxis aus? Hauer schiebt eine Tür auf: „ Hier machen wir morgens Krafttraining mit den Patienten, ein bisschen Muckibude.” Im Raum stehen Trainingsgeräte für verschiedene Muskelgruppen. Eine ältere Dame radelt auf dem Ergometer. Sportwissenschaftlerin Eva Jooß erklärt das Konzept: Um neun Uhr werden die Patienten von ihren Zimmern abgeholt. Eine halbe Stunde später stemmen sie Gewichte mit den Beinen vom Rumpf weg, sitzen in der Beinpresse, trainieren Innen- und Außenseiten der Schenkel und kräftigen ihre Waden. „Vor Beginn des Trainings und danach messen wir die Maximalkraft”, erläutert Jooß.

Auch Menschen ohne Demenz nehmen am Fitnessprogramm teil. Ein drahtiger Herr mit schlohweißem Haar betritt den Raum. Er geht am Stock, grüßt, setzt sich in eines der Fitnessgeräte und grätscht die Beine. „Sie wissen noch, wie es geht, Herr Esser”, fragt Klaus Hauer, während er sich bückt und die Gewichte auf 36 Kilogramm einstellt. „Jawohl, jawohl!”, entgegnet Paul Esser (Name geändert). „Fest drücken und schnaufen!”, feuert Hauer an. Denn eine Pressatmung könnte den Blutdruck Kapriolen schlagen lassen. „Wie im Bilderbuch machen Sie das”, lobt er. „Das hab ich hier bestimmt schon 100 Mal gemacht”, kommentiert Esser lakonisch. Der 91-Jährige erfreut sich eines brillanten Geistes und einer ebensolchen Fitness. Aufgrund einer Gefäßerkrankung haben ihm die Ärzte allerdings zu regelmäßiger Bewegung geraten. Hauer erhöht auf 45 Kilogramm. Die Maschine drückt Essers Beine zusammen. Er muss sie gegen den Widerstand wieder öffnen. Zehn, neun, acht – Esser zählt laut die Wiederholungen. „Ist es anstrengend?”, erkundigt sich Hauer. Esser winkt ab: „Ich laufe jeden Tag vier Kilometer zum Stauwehr.” „Super”, ruft Betreuerin Stefanie Gogulla.

das FREIE STEHEN WIEDER LERNEN

Margit Lauer sitzt nur ein paar Meter entfernt, bekommt aber von dem Tumult nichts mit. Für Kraftsport, wie ihn Esser absolviert, ist sie noch nicht fit genug. Deshalb erhält sie schon morgens ein Funktionstraining, das die übrigen Teilnehmer am Nachmittag durchlaufen. Dabei werden gezielt und individuell Körperfunktionen trainiert, die für das Leben im Alltag notwendig und hilfreich sind. Margit Lauer übt an diesem Tag das Aufstehen aus dem Sitzen und zum ersten Mal seit ihrer Einweisung das freie Stehen. „Das geht schon viel besser”, lobt Eva Jooß, während sie Margit Lauers Hände beim Erheben festhält. Die Frau steht, aber ihre Füße sind nicht nebeneinander. Sie soll die Beine hüftbreit zusammenrücken. Jooß macht es vor. „Den rechten Fuß noch ein bisschen nach vorne.” Plötzlich kreuzt Margit Lauer die Beine und steht mit überschlagenen Füßen da. „Was machen Sie denn jetzt?”, ruft die Trainerin erschrocken. Dann hilft sie der Patientin, die Beine zu sortieren, indem sie eines mit der Hand umsetzt. Geschafft. Beide Beine sind parallel. Eva Jooß lässt Margit Lauers Hände langsam los. Sie steht frei. Ganz alleine. Wie angewurzelt im Raum. Bestimmt eine halbe Minute verstreicht. Dann sinkt die alte Dame auf den Stuhl. „Fertig?”, fragt Eva Jooß. „ Hoffentlich”, murmelt Margit Lauer. Hinter ihrem Lächeln erscheint auf einmal die Anstrengung, die Pein. Sie hat Schmerzen im Rücken. „Wollen Sie etwas trinken”, erkundigt sich Eva Jooß. „ Ja, ich hab Durst”, kommt mit dünner Stimme die Antwort.

Margit Lauer bewegt sich. Aber ist es jene Aktivität, die sie vor einem weiteren Verlust der Geisteskraft bewahren kann? Oder müsste sie sporteln und täglich vier Kilometer marschieren wie Paul Esser? Studien an Gesunden deuten darauf hin, dass schon sanfte Bewegung viel bewirkt. Bloßes Gehen kann einer Demenz vorbeugen, besagt eine Studie aus dem „New England Journal of Medicine” von 2003. Wer zeitlebens regelmäßig spazieren geht, halbiert nahezu sein Risiko, im Alter dement zu werden. Die Liste der Studien zur schützenden Wirkung von Sport ließe sich um etliche Dutzend erweitern. „Körperliche Aktivität senkt das Risiko eines kognitiven Verlustes im Alter um 30 bis 50 Prozent”, fasst Wiltfang zusammen. Aber: „Manche Demenzpatienten liegen und sitzen 23,5 Stunden am Tag”, weiß Hauer. „Das ist eine Facette der Erkrankung, die bisher zu wenig beachtet wird.”

Aerobic FÜR DAS DENKEN

Erst in jüngster Zeit dürfen Menschen mit kognitiven Einbußen an Bewegungsstudien teilnehmen. Zuvor nahm man an, Bewegung bringe ihnen nichts und provoziere nur Knochenbrüche. Eine der ersten Untersuchungen mit kognitiv Geschwächten veröffentlichte Laura Baker im Januar 2010 in den „Archives of Neurology”. „ Unsere Studie war klein, nur 34 Teilnehmer. Da ist es sehr schwierig, signifikante Effekte zu sehen”, meint Baker. „Aber die Wirkung war immens.” Die Neuropsychologin teilte die Frauen und Männer in zwei Gruppen ein. Eine praktizierte vier Mal die Woche ein halbes Jahr Aerobic und trieb dabei den Herzschlag in die Höhe. Die übrigen Probanden gingen in derselben Zeit zum Stretching, wobei ihr Puls nicht anstieg.

Das Verblüffende war: Männer wie Frauen schnitten nach dem Aerobic-Training in kognitiven Tests besser ab, vor allem wenn dabei die Steuerungsfunktionen des Gehirns auf die Probe gestellt wurden. Dazu zählt beispielsweise der Trails-B-Test, bei dem alternierend Ziffern und Buchstaben mit einem Stift so schnell wie möglich verbunden werden müssen. Dadurch entsteht eine Linie von 1-A-2-B-3-C … bis 26-Z. Der Test steht stellvertretend für die Fähigkeit, Aufmerksamkeitswechsel zu bewerkstelligen. Bakers Team entdeckte auch, dass der Spiegel des Eiweißstoffs Amyloid-beta 42 im Blut nach der Aerobic-Kur zurückging. Ablagerungen des Proteins finden Ärzte zwischen den Nervenzellen im Gehirn von Alzheimer-Patienten. „Sport ist nützlich und verbessert die kognitiven Fähigkeiten bei milder kognitiver Beeinträchtigung”, folgert Baker und ist überzeugt: „Wir können damit schwere klinische Symptome hinauszögern.”

Wenn der Krankheitsbeginn nur um ein Jahr verschoben würde, gäbe es weltweit 9,2 Millionen Alzheimer-Patienten weniger, rechnet Nicola Lautenschlager vor. Sport ist auch ihr Hoffnungsträger. Die Alternsforscherin von der australischen University of Melbourne begründet das mit einer eigenen Studie: Ihr Team trieb Probanden mit Gedächtnisproblemen, aber ohne konkrete Demenzdiagnose, zu wöchentlicher Bewegung an. Mit einem Bewegungssensor wurde deren Aktivität ein halbes Jahr lang gemessen. Eine Kontrollgruppe wurde ebenfalls mit Sensoren ausgestattet, aber nicht zur Fitness angestachelt. Pro Woche liefen die Teilnehmer denn auch 9000 Schritte weniger. Schon diese marginale Differenz hinterließ Spuren im Geist. Die Sportlicheren lagen bei Erinnerungstests vorne. „Das ist die erste Studie, die zeigt, dass Bewegung die geistigen Fähigkeiten älterer Personen mit subjektiver mentaler Beeinträchtigung verbessert”, hebt Nicola Lautenschlager hervor. Noch ein Jahr später war der geistige Vorsprung der Gehfreudigeren messbar.

Beide Studien stützen Hauers Befund, dass Sport bei Demenz mental nützt. Einige Dutzend weitere Untersuchungen laufen zurzeit in den USA, Australien und Europa. Unterfüttert werden sie mit Erkenntnissen über die molekulare und neurologische Wirkung von Bewegung. Mit zunehmender Fitness wächst die graue Masse des Gehirns im Bereich von Stirn und Schläfe sowie die weiße Masse im Vorderhirn. Der weiter innen liegende bogenförmige Hippocampus legt massiv an Volumen zu. Diese Gehirnregion ist für das Merken und die Gedächtnisbildung wichtig. Der sportbedingte Zuwachs wirkt im Alter wie ein geistiges Polster. Das Gehirn baut langsamer ab.

Eine andere Studie legt offen: Nach drei Monaten Fitnesstraining strömt mehr Blut in den Gyrus dentatus, einen Teil des Hippocampus. Im gleichen Maß verbessern sich das Wortgedächtnis sowie das Erinnerungsvermögen. Vermutlich regt die gesteigerte Durchblutung die Neubildung von Nervenzellen an. Jedenfalls wurden nach dem Joggen junge Neuronen und Verknüpfungen zwischen ihnen im Gyrus dentatus gefunden. „Die Zellneubildung in dieser Hirnregion und die längere Lebensdauer der Zellen sind die am besten belegten Effekte von Sport auf den Geist”, betont der Kinesiologe Charles Hillmann an der University of Illinois. Das frische Gewebe könnte das Lernen und das Gedächtnis fördern, glaubt er. Denn ausgerechnet im Hippocampus, jener Zellwiege nach dem Sport, verlieren Patienten mit Demenz die meisten Neuronen. Deshalb könnte körperliche Aktivität ihrem Geist so gut bekommen, schließt Hillmann.

Im Blut des Menschen steigt nach dem Training auch der Pegel des Botenstoffs Brain-derived neurotrophic factor (BDNF). Bei Demenz mangelt es an dieser Substanz. BDNF geht mehreren Studien zufolge mit verbessertem Lernen und Gedächtnis einher. Außerdem normalisiert Sport die Insulinausschüttung und senkt den Spiegel des Stresshormons Cortisol. Beide sind bei der zweithäufigsten Form der Demenz, einer Mischung von Alzheimerscher Demenz und vaskulärer Demenz, aus dem Lot geraten. „Sport erhöht den Blutfluss, produziert Wachstumsfaktoren, reduziert Stress, tariert den Insulinstoffwechsel aus, verbessert den Blutdruck und reduziert die Diabetesgefahr”, erklärt Baker. „Sport zielt auf alle Bereiche des Körpers und Geistes. Medikamente zielen dagegen nur auf eine isolierte Zellstruktur.” Sie ist überzeugt, dass deshalb nur ein „diversifizierter Ansatz wie Sport das Voranschreiten einer Demenz wirksam hemmen kann”.

DEN PULS NACH OBEN TReiBEN

In Alzheimer-Mäusen liefert das ganzheitliche Therapeutikum tatsächlich bereits „knallharte Befunde”, so Psychiater Wiltfang. Mäuse, die aufgrund einer künstlichen Veränderung ihres Erbguts als Modell der menschlichen Demenz dienen, bilden gewöhnlich nach einem halben Jahr die krankheitstypischen Proteinablagerungen, die sogenannten Plaques, im Gehirn. Mäuse, die vermehrt im Laufrad oder im Käfig umherrennen, bekommen die Plaques stark verzögert. Die Agglomerate sind zudem kleiner und geringer an der Zahl. Den stärksten Aufschub beobachteten Forscher, wenn sie die Tiere nicht nur laufen ließen, sondern sie auch durch Neues und soziale Kontakte, etwa das Aufwachsen in der Gruppe, stimulierten.

Vieles deutet darauf hin, dass ein sozial, emotional, kognitiv und körperlich bewegtes Leben die Demenzepidemie am ehesten bremst. „Sozialer Kontakt und eine anregende Umgebung alleine reichen nicht aus. Sport, der den Puls nach oben treibt, muss hinzukommen”, gibt Baker den gegenwärtigen Stand der Forschung wieder. Umgekehrt dürfte monotones Training im stillen Kämmerchen wenig fruchten. Bisher wissen die Forscher aber nicht genau, welche Bewegung dem altersgezeichneten Geist auf die Sprünge hilft. Hauer setzt auf ein demenzspezifisches Programm, das gezielt jenen Defiziten entgegenwirkt, die bei dem Altersleiden auftreten. Ein Bestandteil soll das Multitasking-Training sein, weil Demenzkranke schlecht mehrere Herausforderungen gleichzeitig meistern können. Paul Esser führt vor, wie eine entsprechende Übung aussieht. Stefanie Gogulla wirft ihm einen Ball zu, während er vorwärts läuft. Er spielt den Pass zurück. Dazu zählt er laut in Zweierschritten aufwärts. Er wirkt konzentriert. Dann heißt es: Rückwärts gehen, den Ball fangen und werfen und dazu in Zweierschritten aufwärts zählen. Esser verlangsamt das Tempo. Einmal rutscht ihm der Ball aus den Händen. „Sie denken sich Sachen aus!”, ruft er.

TRAINING im SENIORENHEIM

So sympathisch die Idee vom nebenwirkungsfreien Sport gegen Demenz ist, birgt sie in der Praxis aber auch handfeste praktische Probleme. Margit Lauer ist das beste Beispiel dafür. Sie kann eine so komplexe Übung wie das Ballspiel aufgrund ihrer körperlichen Verfassung gar nicht ausführen. Viele Menschen mit Demenz leiden an mehreren anderen Erkrankungen, etwa Herz- und Stoffwechselstörungen. Sie sind „multimorbide”, sagen Ärzte. In der laufenden Studie „Sport&Kog” musste Wiltfangs Team zunächst Lehrgeld zahlen. „Menschen mit Demenz wollen die vertrauten vier Wände nicht verlassen”, stellte er fest. Sie fühlen sich in einer neuen Umgebung unsicher. Weil schon öffentliche Verkehrsmittel bei vielen Angst auslösen, richtete Wiltfang einen Abholservice ein. Aber da gab es eine böse Überraschung: „Eine Teilnehmerin wollte in einer Phase der Verwirrtheit bei voller Fahrt aus dem Fahrzeug steigen”, berichtet Wiltfang. In seinem Projekt ist er nun dazu übergegangen, das Angebot zu den Senioren in die Wohnheime zu bringen.

„Das Bewegungsprogramm muss individuell abgestimmt werden”, nennt Wiltfang eine weitere Prämisse. Er knüpft zu diesem Zweck an die frühere Bewegungsbiografie und an Besonderheiten der jeweiligen Demenz an. Bei starker Rastlosigkeit rät er zu einem Ausdauertraining oder zu Nordic Walking. „Es ist sinnlos, Männer, die nicht gerne tanzen, in einen Kurs für Square Dance zu pressen. Aber wir haben viele Frauen, die sich dafür begeistern.”

Eine starke Sturzneigung wie bei der Lewy- Körperchen-Demenz oder eine geringe Belastbarkeit des Herzens sind allerdings Ausschlusskriterien, urteilt Psychiater Jens Wiltfang. Als die Sprache aufs Tanzen kommt, leuchten Margit Lauers Augen. Sie liebte den Wiener Walzer mit ihrem Mann, sie genoss es, wenn der Saal voll war und die Musik anhob. Aber hier habe sie die falschen Schuhe, klagt sie. Ihre Tochter habe ihr nicht die richtigen mitgebracht. Sie schaut an sich herab und scheint zu staunen, als sie die gesuchten Schuhe an ihren Füßen entdeckt. Aber ein Walzer ohne ihren verstorbenen Mann, das kommt für Lauer trotzdem nicht infrage. „Es vergeht alles”, sagt sie. „Aber ich bin zufrieden.” Eben noch ist sie auf dem Ergometer geradelt. „ Ich merke jetzt die Durchblutung. Das tut gut.” ■

SUSANNE DONNER regeneriert ihren Geist bei

modernem und traditionell ägyptischem Tanz – obwohl sie noch nicht im demenzgefährdeten Alter ist. Fotograf Tim Wegner ist durch eine Erkrankung in der Familie mit Demenz vertraut. Die Behandlungsmöglichkeiten berührten ihn sehr.

von Susanne Donner

KOMPAKT

· Alternsforscher setzen mehr Hoffnung in Sport als in Medikamente, wenn es darum geht, einer Demenz vorzubeugen.

· Selbst Menschen, bei denen der geistige Verfall bereits eingesetzt hat, können durch Bewegung etwas lernen – zum Beispiel, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.

· Besonders tröstlich: Selbst im alten, kranken Gehirn sprossen nach Bewegung wieder neue Nervenzellen, die Verbindungen knüpfen.

KLAUS HAUER

Sportliche Einlagen gehören dazu, wenn der Forschungsleiter vom Heidelberger Bethanien-Krankenhaus über Stürze bei älteren Menschen spricht. „So wirft Sie nichts um!”, erklärt er beispielsweise und stellt sich breitbeinig und aufrecht mitten in den Raum. Täglich fährt der 55-Jährige bei gutem Wetter 14 Kilometer mit dem Rad zum Geriatrischen Zentrum der Universitätsklinik Heidelberg. In den 1980er-Jahren studierte Klaus Hauer Sport und Biologie auf Lehramt an der Universität Heidelberg. Doch der Einstellungsstopp durchschnitt seine Pläne. So entschloss er sich, seinem Faible für Medizin nachzugehen. Er promovierte in der Kardiologie. Danach wechselte er in die Alternsforschung und habilitierte sich über die Ursachen der Gebrechlichkeit und wie dieser Tücke des Alters vorgebeugt werden kann. Bundesweit ist er bis heute der einzige Sportwissenschaftler, der die geriatrische Forschungsabteilung einer Klinik leitet. Sein Mantra: Sport ist ein wichtiger Alternsschutz für die Silbergeneration und ein bedeutsames Therapeutikum.

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