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Das Weltreich der Finsternis

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

Das Weltreich der Finsternis
Vier Fünftel der Materie im All sind unbekannt und lassen sich nicht vom Standardmodell der Elementarteilchen erklären. Doch Astrophysiker ergründen die dunkle Seite des Universums immer tiefer.

Vor ein paar Wochen haben Physiker in München auf einer Astroteilchenphysik-Konferenz die Entdeckung einiger seltsamer, schwacher Schwingungsereignisse in Kalzium-Wolframat-Kristallen bekannt gegeben. Was nicht gerade spektakulär klingt und von den Medien auch kaum zur Kenntnis genommen wurde, könnte sich als wichtiger Schritt in eine andere Wirklichkeit erweisen: die Welt der Dunklen Materie. Denn alles, was wir prinzipiell betrachten können, auch mit Mikroskop oder Teleskop und in anderen Wellenlängen des elektromagnetischen Spektrums, ist in der kosmischen Minderheit. Die uns vertraute Materie – Sterne, Staub und Steuerbescheide – macht nicht einmal ein Fünftel der gesamten Materie aus. 83 Prozent sind dem inzwischen gut etablierten Standardmodell der Kosmologie zufolge unsichtbar, weil diese Dunkle Materie nicht mit Photonen interagiert, also kein Licht absorbiert oder aussendet.

Für einen direkten Nachweis, wie es die Münchner Physiker mit ihrem Experiment CRESST II versuchen, sind daher raffinierte und hochempfindliche Methoden nötig (mehr dazu im folgenden Beitrag „ Physiker fangen Geisterteilchen“ ab Seite 48). Da haben es die Astrophysiker etwas leichter: Sie schauen in die Sterne – und lassen diese das Schattenkabinett der Realität verkünden. Dass die Welt mehr enthält, als das Auge sieht, ist ein alter Gedanke. Doch in der Astronomie ist er recht neu. Denn die Idee, dass ein dunkles Reich des Daseins existiert, begann sich unter Experten erst in den 1980er-Jahren durchzusetzen. Und harte Indizien gibt es noch keine zehn Jahre.

Dabei hatte bereits 1922 der englische Physiker und Mathematiker James Jeans aus Bewegungen zahlreicher Sterne in der Milchstraßenebene geschlossen, dass auf einen sichtbaren Stern zwei unsichtbare kommen müssen. Andere Astronomen bezweifelten jedoch diesen Befund. 1933 machte dann der Schweizer Astronom Fritz Zwicky, der am California Institute of Technology in Pasadena forschte, eine seltsame Entdeckung. Er hatte die Bewegung von 80 der über 1000 Galaxien im 300 Millionen Lichtjahre fernen Coma-Haufen bestimmt – und festgestellt, dass sie viel schneller umherflitzten, als sie eigentlich dürften, wenn die Schwerkraft den Galaxienhaufen zusammenhält. Tatsächlich müsste die Materiedichte im Haufen 400 Mal so groß sein, wie es die Leuchtkraft erschließen lässt (allerdings eine aus heutiger Sicht wesentlich zu hoch gegriffene Zahl). Wenn sich diese „ fehlende Masse“ nicht auffinden oder anders erklären ließe, wäre die „erstaunliche Schlussfolgerung“, dass die leuchtende Materie in dem Haufen in der Minderheit ist, betonte Zwicky.

1936 kam der Astronom Sinclair Smith beim Virgo-Haufen zu einem ähnlichen Ergebnis und nahm die Existenz „einer großen Masse internebularen Materials innerhalb des Haufens“ an. In dem im selben Jahr erschienenen Buch „The Realm of the Nebulae“ erwähnte der bedeutende Galaxienforscher Edwin P. Hubble diese Messungen kurz: „Der Widerspruch scheint real und wichtig zu sein.“ Trotzdem fand das „Problem der fehlenden Masse“ („missing mass problem“), wie Fritz Zwicky es genannt hatte, anschließend kaum noch Beachtung.

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GALAXIEN ROTIEREN ZU SCHNELL

Das änderte sich erst in den 1970er-Jahren. Nicht nur die Haufen, sondern auch einzelne Galaxien schienen das etablierte Bild zu stören. Ende der 1960er-Jahre begannen Vera Rubin und Kent Ford von der Carnegie Institution in Washington mit einem neuen, sehr empfindlichen Spektrographen die Bewegungen von Wasserstoffwolken in diversen Spiralgalaxien zu messen. Die Geschwindigkeiten waren größer als mit der sichtbaren Masse vereinbar. 1975 gaben die beiden Astronomen bekannt, dass viele der Galaxien unerwartete Rotationskurven besäßen (siehe Grafik oben, „Schneller als Newton erlaubt“). Entweder stimmte also etwas nicht mit Isaac Newtons Gravitationsgesetz oder mehr als die Hälfte der Masse in den Galaxien war unsichtbar.

Vera Rubin hielt sich mit Interpretationen zunächst zurück und ließ die Daten für sich sprechen – und die mussten ihre Kollegen, trotz anfänglicher Skepsis, alsbald akzeptieren. „Die Wissenschaft macht die besten Fortschritte, wenn die Beobachtungen uns dazu zwingen, unsere Vorurteile zu überwinden“, sagte Rubin später einmal. Auch Theoretiker stießen auf Ungereimtheiten. 1973 versuchten die Astrophysiker James Peebles und Jeremiah Ostriker von der Princeton University die Dynamik von Galaxien im Computer zu simulieren. Realistische Modelle erhielten sie aber nur, wenn sie in die Gleichungen Massen-Werte einsetzten, die weit über denen der sichtbaren Materie lagen. Ein Jahr später schrieben sie im Astrophysical Journal, nachdem sie eine Reihe von Galaxien-Messdaten mit ihren Rechnungen verglichen hatten, „dass die Massen gewöhnlicher Galaxien möglicherweise um einen Faktor 10 oder mehr unterschätzt werden“.

DAS SCHAUMBAD DER STERNE

Eine wichtige Rolle spielte das Problem der fehlenden Masse auch ab 1978 im viel größeren Maßstab der Galaxienverteilung. Bis dahin herrschte unter Kosmologen die Ansicht, dass Sterneninseln, betrachtet über mehr als 100 Millionen Lichtjahre große Bereiche, ziemlich gleichmäßig durch den Weltraum treiben und dass zufällige Zusammenballungen in der Minderzahl sind. Doch zwei voneinander unabhängige Kartierungen größerer Himmelsausschnitte – von Laird A. Thompson und Stephen Gregory in den USA und von Jaan Einasto und seinen Kollegen vom Tartu-Observatorium in Estland – kamen zu einem anderen Ergebnis. Die Galaxiengruppen und -haufen ordneten sich zu noch größeren Strukturen an: zu band- und schalenförmigen Superhaufen, die sich um riesige Leerräume („voids“) gruppierten. Tatsächlich gleicht die Galaxienverteilung im All einer Art Schaumbad. Das wurde ab 1986 immer deutlicher, und die neuesten Himmelsdurchmusterungen demonstrieren es eindrucksvoll (Bild oben).

Doch die blasenartige Gesamtstruktur passt nicht zu der Gleichförmigkeit der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Das erste Licht nach dem Urknall lässt auf eine sehr homogene Materieverteilung im frühen Universum schließen – mit Schwankungen in der Größenordnung von lediglich 1 zu 100 000. Dann hätte die Schwerkraft nicht genug Zeit gehabt, in den rund 13,7 Milliarden Jahren seither – wie man inzwischen weiß – aus den Dichteunterschieden die Sterne, Galaxien, Galaxienhaufen und -superhaufen zu formen. Computersimulationen der Strukturbildung zeigten seit den 1980er-Jahren deutlich, dass etwas fehlte – und dass dieses „Etwas“ sogar die Hauptsache sein musste. Damit war die Jagd auf die ominöse Dunkle Materie endgültig eröffnet.

DIE SCHATTENSEITE DER WIRKLICHKEIT

Doch wie fängt man etwas, das sich weder greifen noch sehen lässt? Und von dem man auch gar nicht weiß, was es ist? Forscher haben zahlreiche Methoden ersonnen, immer weiter ausgearbeitet und kombiniert, um sich im Schattenreich zurecht zu finden (siehe „Zwölf gute Gründe für die Existenz Dunkler Materie“). Auch wenn sich gegenwärtig immer noch viele Fragen stellen, steht fest, dass das Bild der uns vertrauten Alltagswelt – im Himmel wie auf Erden – radikal unvollständig ist. Mehr noch: Falls die Indizien für die Dunkle Materie richtig sind, dann wären wir ohne diese geheimnisvolle Nachtseite der Wirklichkeit gar nicht da. Denn ohne ihren gravitativen Einfluss hätten sich kaum Galaxien, Sterne und schließlich Planeten bilden können.

Die Hauptmasse der Dunklen Materie steckt aber gar nicht in den prächtigen Spiralgalaxien, deren Rotationsverhalten Vera Rubin einst irritierte. Der Löwenanteil der Düsternis befindet sich dort, wo ihn Astronomen als Letztes vermutet hätten: in den Zwerggalaxien (bild der wissenschaft 8/2011, „Zwerge im Vorgarten“ ). Wie Wespen um einen Apfelkuchen schwirren sie dutzendfach um die großen Galaxien, auch um die Milchstraße. Doch trotz ihrer Unscheinbarkeit – sie besitzen nur wenige Zehntausend bis Hunderttausend Sterne – haben sie es in sich: In ihnen stecken viele Dutzend Millionen Sonnenmassen an unsichtbarer Materie.

Finsterer Weltrekordhalter ist gegenwärtig Segue 1, eine rund 75 000 Lichtjahre entfernte Zwerggalaxie im Sternbild Löwe. Marla Geha von der Yale University und ihre Kollegen hatten sie bereits vor zwei Jahren im Visier, und sie haben sie inzwischen mit dem 10-Meter-Keck II-Teleskop auf Hawaii noch genauer inspiziert. Im August berichteten die Astronomen, dass die Zwerggalaxie, die um die Milchstraße kreist, das 3400-Fache von deren leuchtender Masse besitzt. Nur etwa 1000 Sterne lassen sich in Segue 1 ausmachen. Knapp die Hälfte der untersuchten Sterne enthält lediglich 0,04 Prozent des Eisenanteils der Sonne. „Das bedeutet, dass diese Sterne zu den ältesten und am wenigsten entwickelten bekannten Sternen gehören“, sagt Joshua Simon von der Carnegie Institution in Washington. In der Milchstraße sind keine drei Dutzend solcher urtümlichen Sterne bekannt. Alle anderen enthalten viel mehr der seit dem Urknall erbrüteten schwereren Elemente. Nun hoffen die Astronomen auf den Nachweis von Gammastrahlung aus Segue 1. Diese energiereiche Strahlung könnte erzeugt werden, wenn die Dunkle Materie aus exotischen Elementarteilchen besteht, die dort so dicht beisammen sind, dass sie sich treffen und vernichten.

Selbst nahezu dunkle Galaxien sind denkbar – und von Computersimulationen auch vorausgesagt. Der beste Kandidat ist die ausgedehnte Gaswolke VIRGOHI21 tief im Virgo-Haufen, 50 Millionen Lichtjahre entfernt. Sie besteht aus 100 Millionen Sonnenmassen an Wasserstoff. Entdeckt wurde sie 2005 von Robert Minchin und seinen Kollegen mit dem Arecibo-Radioobservatorium in Puerto Rico. Aus den Bewegungen der Gasmassen errechneten die Astronomen, dass in VIRGOHI21 500 Mal mehr Dunkle Materie als Gas stecken muss. Mit dem Hubble-Weltraumteleskop wurden später ein paar Hundert Sterne aufgespürt, aber das ändert nichts daran, dass VIRGOHI21 die dunkelste bekannte Galaxie ist. Allerdings könnte sie auch etwas anderes sein – eine Art Bruchstück der nahen Spiralgalaxie NGC 4254, das einst bei deren Begegnung mit der Galaxie M 82 herausgerissen wurde.

MACHOS UND ANDERE TYPEN

So erdrückend die Indizien für die Dunkle Materie im Weltraum inzwischen sind, so rätselhaft ist es, woraus dieser unsichtbare Stoff besteht. An Vorschlägen mangelt es nicht. Zunächst dachten viele Astronomen, dass die Dunkle Materie nur deshalb unsichtbar ist, weil sie kein oder kaum Licht ausstrahlt. Das wäre an sich nicht überraschend, denn selbst mit den besten Teleskopen ist das Wahrnehmungsvermögen begrenzt. So gibt es Myriaden von unscheinbaren Roten Zwergen, düster glimmenden massearmen Sternen. Auch Braune Zwerge rückten erst in den letzten Jahren ins Blickfeld der Astronomen: kaum leuchtende Zwitter zwischen Gasplaneten und echten Sternen mit einer Masse, die zu gering ist, als dass eine Kernfusion zünden oder längere Zeit andauern könnte. Außerdem bevölkern unzählige Planetoiden und Planeten den Weltraum – und die Schwarzen Löcher von Dutzenden bis vielen Milliarden Sonnenmassen, die gar kein Licht aussenden.

Das Problem ist: Die Masse all dieser Objekte, die sich recht gut abschätzen lässt, macht nur einen Bruchteil der Gesamtmasse im All aus. Mit ihnen besteht also keine Chance, die Dunkle Materie zu erklären. Mehr noch: Wenn die Dunkle Materie in solchen Objekten lokalisiert wäre, hätten Astronomen das längst festgestellt. Sie bezeichnen diese Objekte scherzhaft als MACHOs und RAMBOs (Massive Compact Halo Objects und Robust Associations of Massive Baryonic Objects). Was immer diese MACHOs auch sind – Schwarze Löcher, Zwergsterne, Planeten oder Ziegelsteine –, sie würden sich als Mikrogravitationslinsen bemerkbar machen: Die Objekte müssten also, wenn sie vor einem Stern vorüberziehen, dessen Helligkeit auf eine charakteristische Weise zeitweilig steigern.

Deshalb haben Astronomen ab den 1990er-Jahren mithilfe moderner Digitalkamera- und Computertechnik Millionen von Sternen über Monate und Jahre hinweg gleichzeitig observiert und auf die charakteristischen Helligkeitszunahmen hin analysiert. Dabei sind ihnen einige interessante Objekte ins Netz gegangen, vor allem Planeten. Doch in Sachen Dunkle Materie war das Ergebnis eindeutig und ernüchternd: Selbst nach den optimistischsten Modellrechnungen brächten die MACHOs höchstens 10 bis 20 Prozent der benötigten Masse auf die Waage.

die MASSE MACHT’S

Das bestätigte die Hypothesen der Teilchenphysiker: Die Masse macht’s, und zwar auch zahlenmäßig. Denn so groß das Gewicht der Dunklen Materie auch ist, so winzig sind deren Bestandteile. Tatsächlich haben Teilchenphysiker ganz unabhängig von den astronomischen Messungen schon in den 1970er-Jahren postuliert, dass ein ganzes Schattenreich aus noch unbekannten Elementarteilchen existieren muss. Die Prognosen der Physiker, was die Massen und Häufigkeit dieser Schattenmaterie betrifft, passen erstaunlich gut zu den astronomischen Daten. Jonathan Feng von der University of California in Irvine und andere Wissenschaftler sprechen sogar von einem „Wunder“: Die Teilchenphysiker haben in ihren Elfenbeintürmen genau das ersonnen, was die Astronomen dringend benötigen. Der theoretische Triumph hat allerdings einen beträchtlichen Schönheitsfehler: Es reicht nicht, die unbekannten Elementarteilchen auf dem Papier zu postulieren – man muss sie auch finden. Die gute Nachricht: Die Forscher haben sich dieser schwierigen Aufgabe nicht nur gestellt, sondern sie sind vielleicht schon kurz vor dem Ziel.

So kommen die Experimente, die Geisterpartikel einzufangen oder selbst zu erzeugen, gut voran. Der entscheidende Nachweis steht zwar noch aus, aber mehrere Forschergruppen haben erste Indizien gefunden. Außerdem gibt es indirekte Hinweise. So hat das Instrument PAMELA (Payload for Antimatter Matter Exploration and Light-nuclei Astrophysics) an Bord des russischen Satelliten Resurs-DK1 einen Überschuss an kosmischen Positronen gemessen. Er könnte von brachialen Sternexplosionen oder aus der wilden Umgebung von Neutronensternen stammen, aber auch das Produkt einer Paarvernichtung – einer „Annihilation“ – Dunkler Elementarteilchen sein. Genaueres werden bald Messungen des Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) verraten, das von der Space Shuttle Endeavour im Mai 2011 zur Internationalen Raumstation ISS gebracht wurde. Von dort aus wird es in den nächsten Jahren die Bestandteile der Kosmischen Strahlung detailliert analysieren. Hinzu kommen Messungen der kosmischen Gammastrahlung, die zum Teil ebenfalls von der Annihilation Dunkler Materie stammen könnte.

DUNKLE RELIKTE

Kürzlich hat das Fermi-Weltraumteleskop einen Überschuss an Gammastrahlung aus dem zentralen Bereich der Milchstraße gemessen, wo die Dichte der Dunklen Materie besonders hoch sein soll. Die Daten passen zu den Messungen von PAMELA, reichen für eindeutige Schlussfolgerungen aber noch nicht aus. Doch die Messungen dauern an. Und erst vor ein paar Wochen haben Simon White vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching und Volker Springel vom Astronomischen Rechen-Institut in Heidelberg vorgeschlagen, Fermi auf die Coma- und Fornax-Galaxienhaufen anzusetzen. Denn ihren Computersimulationen zufolge sind die Chancen dort am größten, Relikte Dunkler Materiewolken aus der Frühzeit des Universums aufgrund ihrer dort besonders wahrscheinlichen Teilchen-Vernichtung aufzuspüren.

Das schwer zugängliche Reich der Finsternis scheint also bald durch findige Forscher-Instrumente ans Licht zu kommen. Die Aussichten sind so fantastisch, dass sich selbst Literaten bereits von dieser lebensfremden Welt faszinieren lassen: „ Schwarze Löcher, dunkle Materie, / nicht für unsere Augen bestimmt. / Lieber unterhält das Universum sich / Mit unseren Apparaten“, hat es Hans Magnus Enzensberger in einem Gedicht auf den dunklen Punkt gebracht. „Der Mensch … das Mittelmaß / Aller Dinge.“ ■

von Rüdiger Vaas

Zwei Bilanzen des Universums

Das Unbekannte regiert die Welt. Die gewöhnliche Materie macht heute nicht einmal fünf Prozent der Gesamtenergiedichte aus, Dunkle Materie und Energie dominieren. Allerdings hat sich das Verhältnis der verschiedenen Bestandteile unsers Universums im Lauf der Zeit stark verändert. 380 000 Jahre nach dem Urknall, als die Kosmische Hintergrundstrahlung freigesetzt wurde, hatten Photonen und die bereits in der ersten Sekunde des Alls von der restlichen Materie „entkoppelten“ Neutrinos einen signifikanten Anteil. Inzwischen sind sie äußerst verdünnt. Die Dichte der Dunklen Energie scheint dagegen seltsamerweise konstant geblieben zu sein, sodass ihr prozentualer Anteil inzwischen stark gewachsen ist. Kurz nach dem Urknall war er verschwindend gering.

Schneller als Newton erlaubt

Die leuchtende Materie aus Gas und Sternen bewegt sich in vielen Galaxien nicht so, wie es Isaacs Newtons Gravitationsgesetz beschreibt (blaue Kurve). Daher postulieren viele Astronomen einen großen Anteil an Dunkler Materie, um die Rotation der Galaxien zu erklären. Abgebildet sind typische Messwerte am Beispiel der knapp drei Millionen Lichtjahre fernen Spiralgalaxie M 33 im Sternbild Dreieck.

Zwölf gute Gründe für die Existenz Dunkler Materie

Es gibt viele, teils voneinander unabhängige Indizien und Nachweismethoden für die dunkle Seite der Welt. Sie passen erstaunlich gut zusammen.

Dynamik der Galaxienhaufen: Die Bewegungen von Galaxien, die wie Mückenschwärme im All umherfliegen, verraten die gesamte Masse, auch die unsichtbare.

Gravitationslinsen: Masse krümmt den Raum und somit auch die Bahn von Lichtstrahlen. Galaxien und Galaxienhaufen können das Licht von weiter entfernten Galaxien im Hintergrund sogar zu Geisterbildern aufspalten und verstärken. Aus der Rekonstruktion der Lichtverläufe lässt sich die Gravitationslinse im Vordergrund quasi „wiegen“.

Schwache Linseneffekte: Gemäß der Allgemeinen Relativitätstheorie beeinflussen große Massen das Erscheinungsbild von Lichtquellen ringsum. Das lässt sich nur mit statistischen Methoden zeigen, sodass zahlreiche Galaxien vermessen werden müssen.

Mikrogravitationslinsen: Falls die Dunkle Materie aus kompakten Objekten besteht, verstärken diese kurzfristig und charakteristisch die scheinbare Helligkeit von Sternen, die im Hintergrund vorüberziehen.

Galaxien-Dynamik: Durch genaue Messungen der Bewegungen von Gaswolken, Kugelsternhaufen oder Spiralarmen kann man „ Rotationskurven“ erstellen und damit die Materieverteilung in und um die Sterneninseln berechnen.

Primordiale Nukleosynthese: Die Entstehung und Häufigkeit der leichten Elemente im Urknall lässt sich sehr genau berechnen. Das setzt der noch unentdeckten normalen Materie enge Grenzen. Obwohl der Löwenanteil der leuchtenden Masse nicht in Sternen steckt, sondern im Gas zwischen den Galaxien, und obwohl es mehr lichtschwache Rote Zwergsterne gibt als lange gedacht, reicht die im Urknall entstandene Menge gewöhnlicher Atomkerne bei Weitem nicht aus, um das Problem der fehlenden Masse in Galaxien und Galaxienhaufen zu lösen.

Kosmische Hintergrundstrahlung: Im Muster der winzigen Temperaturschwankungen des Restleuchtens vom Urknall ist sowohl die Gesamtenergiedichte im All als auch der Anteil der einzelnen Komponenten davon „codiert“. Das erlaubt einen direkten Rückschluss auf die Teilmenge der Dunklen Materie. In Übereinstimmung mit anderen Messungen hat sich gezeigt: Die gewöhnliche Materie macht heute nur 4,4 Prozent der Gesamtenergiedichte aus, die Dunkle Materie 23 Prozent – und mehr als 72 Prozent bestehen aus einer seltsamen Dunklen Energie.

Kosmische Strukturbildung: Die Entstehung von Galaxien, Haufen und Superhaufen lässt sich nur mit Dunkler Materie als „ Kondensationskeim“ erklären. Umfangreiche Computersimulationen haben diese Entwicklung vom Urknall bis heute im Detail berechnet.

Baryonische Akustische Oszillationen: Schallwellen im Urgas haben sowohl in der Kosmischen Hintergrundstrahlung als auch in der Bildung der Galaxienhaufen einen charakteristischen „Abdruck“ hinterlassen, der das einstige Wechselspiel von Schwerkraft und Strahlungsdruck widerspiegelt. Diese Wellen lassen sich heute noch in Form einer charakteristischen kosmischen Längenskala der großräumigen Strukturen von etwa 500 Millionen Lichtjahren feststellen. Diese Skala wäre ohne die Annahme von Dunkler Materie und Energie nicht verständlich.

Annihilationssignaturen: Wenn Teilchen der Dunklen Materie zerfallen oder sich wechselseitig vernichten, entsteht Gammastrahlung und Antimaterie. Falls sie sich nicht durch andere Prozesse bilden, ist ihr Nachweis also ein indirektes Indiz für die Existenz der Dunklen Materie.

Experimente: Mit speziellen Kristallen und Flüssigkeiten lassen sich viele noch hypothetische Teilchen der Dunklen Materie direkt nachweisen (Gitterschwingungen, Ionisation, Szintillation).

Erzeugung: Dunkle Partikel könnten als Nebenprodukte von Teilchenkollisionen in Teilchenbeschleunigern entstehen und sich anhand fehlender Energie- und Impulsbeträge in der Gesamtbilanz bemerkbar machen.

Diese Zusammenstellung, ein beeindruckendes Dokument des Forscherfleißes weltweit, ist Ergebnisprotokoll und Aufgabenliste zugleich. Doch das letzte Wort ist erst gesprochen, wenn der direkte Nachweis der Dunklen Materie gelungen ist.

Die Katalogisierung des Unsichtbaren

Mehr als vier Fünftel aller Materie im All passen nicht ins etablierte Weltbild der Physiker. Astronomen kennen inzwischen Hunderte von Galaxien und Galaxienhaufen, deren Dynamik die Annahme großer Mengen an Dunkler Materie erfordert. Doch was den Forschern fehlt, ist nicht nur Masse, sondern auch eine fundierte Übersicht. Immerhin sind mehrere Kataloge zur genaueren Analyse der finsteren Ingredienzen im All in Arbeit oder schon fertig.

So haben Alexie Leauthaud von der University of California in Berkeley und seine Kollegen Röntgen-Galaxienhaufen zusammengestellt, die mit dem europäischen XMM-Newton-Röntgenteleskop inspiziert wurden. Die Dichte- und Temperaturprofile des Millionen Grad heißen Gases, von dem die energiereiche Strahlung stammt, erlauben es nämlich, das Zentrum der Haufen zu ermitteln – eine wesentliche Voraussetzung dafür, die verborgene Masse anhand schwacher Gravitationslinseneffekte aufzuspüren.

In Schottland haben sich mehrere Universitäten zusammengeschlossen, um den Katalog GAMA (Galaxy and Mass Assembly) zu erarbeiten, der 15 000 Galaxiengruppen erfasst. Er reicht von Ansammlungen mit wenigen Billionen bis zu solchen mit einigen Billiarden Sonnenmassen, das heißt von ein paar Dutzend bis vielen Hundert Galaxien – insgesamt fast 400 000 in sechs ausgewählten Himmelsregionen, die vom Radio- bis zum Röntgenbereich durchmustert wurden.

„Die Bewegungen der Galaxien verraten Eigenschaften der Dunklen Materie“, sagt GAMA-Leiter Aaron Robotham von der University of St. Andrews. Er ist davon überzeugt, dass sich mit den Daten auch die Grenzen der gegenwärtigen Modelle zur Galaxienbildung charakterisieren und erweitern lassen – ein Thema, das Astronomen nicht nur bei der Erforschung der Dunklen Materie vor große Herausforderungen stellt.

KOMPAKT

· Es gibt viele Indizien dafür, dass Sterne, Gas und Staub kosmisch in der Minderheit sind: Die Bewegung von Galaxien und Galaxienhaufen, aber auch das Restleuchten vom Urknall und Einsteins Gravitationslinseneffekte zeugen vom Übergewicht einer ominösen Dunklen Materie.

· Nun halten Astronomen Ausschau nach Geisterteilchen und deren Vernichtungsstrahlung. Andere berechnen, wie die unsichtbare Masse die bekannte Welt erschuf.

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