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DIE STÄDTE IN DER STEPPE

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

DIE STÄDTE IN DER STEPPE
Nomaden stampften vor 4000 Jahren am Südural befestigte Siedlungen aus der sibirischen Einöde. Woher hatten sie das Know-how? Die bronzezeitlichen Kontakte reichten offenbar quer durch Eurasien.

Der Professor steht vor einem Kuriosum: Wo man bei Gewitter die Zeltstangen festhalten muss, der Generator nur für die Laptops der Archäologen Strom liefert, der Mobilfunk aus einem einzigen Funkloch besteht und das Essen aus der Feldküche stammt – in diesem sibirischen Niemandsland blühten vor 4000 Jahren veritable Städte. Rüdiger Krause, Archäologe an der Frankfurter Goethe-Universität, staunt: „Ein einzigartiges Phänomen – hier gab es eine städtische Kultur, die aus dem Nichts kam und nach 300 Jahren im Nichts verschwand.” Und als ob das nicht der Sonderbarkeiten genug wäre, wurden in den dazugehörigen Grabhügeln, den sogenannten Kurganen, auch noch die ältesten zweirädrigen Streitwagen mit Speichenrädern gefunden.

Ein solches Rätsel kann ein Archäologe nicht unbeachtet lassen. Und so forscht der Frankfurter Bronzezeit-Experte mit seiner russischen Kollegin Ludmilla N. Koryakova von der Akademie der Wissenschaften in Jekaterinburg am südöstlichen Ende des Uralgebirges nach den Menschen dieser sogenannten Sintaschta-Kultur. Dabei tauchen bislang mehr neue Fragen auf, als alte beantwortet werden – das Phänomen lässt sich nur widerwillig entschleiern. Krauses Zwischenbilanz: „Wir haben nach drei Kampagnen viele Details herausgefunden, können die aber noch nicht zu einem Bild zusammenfügen.”

DER NABEL DER WELT?

In der Region bei Magnitogorsk, zwischen Tscheljabinsk und Orsk, hatten sowjetische Forscher in den 1970er-Jahren diese Siedlungskammer entdeckt, der sie den überschwänglichen Namen „ Land der Städte” gaben. Denn in einem Areal von rund 200 mal 300 Kilometern wurden bislang 25 befestigte, planmäßig angelegte Siedlungen entdeckt. Die von den deutschen Archäologen in den letzten Jahren neu gewonnenen Radiokarbon-Daten verlegen die früheste Form dieser Wohnstätten in die Zeit zwischen 2000 und 1700 v.Chr. – frühe Bronzezeit. Die im Westen bekannteste Siedlung ist Arkaim, die mit ihren Spiralringen Esoterikern und Schamanen als „Nabel der Welt” gilt und entsprechend heimgesucht wird. „Das ist natürlich völlig übertrieben, die Erdringe sind 15 Jahre alt. Aber schon in der Bronzezeit war Arkaim eine spezielle Anlage”, weiß Krause und zählt die Dinge auf, die seine sibirische Wirkungsstätte zu einer wissenschaftlichen Herausforderung machen. Die Siedlungen waren jeweils rund 40 bis 60 Kilometer voneinander entfernt, zwischen einem und vier Hektar groß, rund oder viereckig und lagen meist an einem Wasserlauf. Und sie waren stets zweigeteilt.

Die eine Hälfte war mit systematisch angelegten Häusern wabenartig bebaut, ein zentraler Platz oder eine breite Straße waren die einzigen Freiflächen. Herausragende Bauten gab es nicht. Die bis zu 20 Meter langen Häuser mit jeweils zwei bis drei, in einem Fall sogar fünf im Inneren angelegten Brunnen mit Holzverschalung verblüffen die Archäologen. Wozu die Vielzahl der Brunnen diente, ist ungeklärt, zumal sie mit Steppenstaub und nicht mit Hausabfällen gefüllt waren, wie die meisten ausgedienten Brunnen in Siedlungen. Lagen sie entgegen der russischen Rekonstruktion doch außerhalb der Häuser? Die zweite Hälfte jeder Siedlung war nicht bebaut, ihre Funktion ist unklar. Geschützt wurden die Orte durch eine vier Meter dicke Holz-Erde-Mauer mit Steinplatten und vorgelagertem Graben. Die einstige Höhe des Wehrwerks schätzen die Archäologen auf fünf bis sechs Meter. Die Siedlung Kamennyi Ambar – oder gängiger: Olgino – , die Krause mit allen Mitteln der archäologischen Kunst untersucht, bestand aus etwa 25 Häusern. Bei Familieneinheiten von zehn bis zwölf Personen brachte es der Ort also auf bis zu 300 Einwohner.

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DAHINTER STECKTE EIN LEITENDER KOPF

Woher kamen vor 4000 Jahren an der Schnittstelle zwischen Asien und Europa die plötzliche Kenntnis, der Wille und vor allem die Notwendigkeit, stadtähnliche Wehrsiedlungen zu bauen? Diese Architekturform, die für die von Nomaden spärlich bevölkerte Grassteppe völlig neu war, bedurfte auch einer neuen Struktur des Zusammenlebens. Rüdiger Krause plädiert für eine Übernahme der Innovationen aus Mittelasien, die „nur auf der Basis einer straff organisierten und vor allem planmäßig durchgeführten Gemeinschaftsleistung vorstellbar” sei. Sprich: Es musste ein leitender Kopf dahinterstecken.

Die Bestattungen in den Kurganen von Olgino belegen in der Tat eine hierarchisierte Gesellschaft mit einem Oberhaupt, das samt Prunk und Preziosen bestattet wurde – und mit eleganten zweirädrigen Gefährten, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Die leichtgängigen Wagen mit Speichenrädern verweisen die mesopotamisch-assyrischen „Panzer” mit ihren plumpen Scheibenrädern in die technologische Rumpelkammer. Die ebenfalls neuartigen, aus Knochen geschnitzten Scheibenknebel, mit denen die Sintaschta-Leute ihre Pferde über schmerzhaften Zug gezielt und rasch steuern konnten, tauchen erst Jahrhunderte später im Donau-Raum und in mykenischen Schachtgräbern wieder auf.

In einem weit abgelegenen Randgebiet der damaligen westasiatischen Hochkulturen – Industal und Mesopotamien – entwickelten sich also zwei bahnbrechende Innovationen, die wiederum die Diskussion um die Domestizierung des Pferdes beflügeln: Es scheint also doch in Asien dienstbar gemacht worden zu sein und nicht im Nahen Osten. Vor allem aber zeigen die Funde am Transural, dass auch die bislang wenig erforschte eurasische Region in den riesigen Kommunikationsraum der damaligen Welt eingebunden war.

EISEN, KUPFER UND GOLD EN MASSE

Nomadische Viehhirten brauchen keine (Streit-)Wagen, sesshafte Bauern auch nicht – wer also waren die Leute von Olgino, woher bezogen sie ihre Macht? Sie kamen irgendwo von „draußen”, meint Krause. Woher sie einwanderten, weiß er nicht. Aber Macht und Reichtum, davon ist er überzeugt, zogen sie aus den gewaltigen Erzvorräten der Region. „Einen solchen Erz- und Mineralreichtum wie am Transural habe ich noch nicht gesehen”, staunt der Ausgräber: Eisen, Kupfer und Gold en masse. Die begehrtesten Metalle also, nur Zinn fehlt. Der Abbau war leicht, denn die Lagerstätten befanden sich knapp unter der Oberfläche, konnten also weitgehend oberirdisch ausgebeutet werden. Große Mengen an Erzabfall, Schlacken und Halbfabrikaten zeigen, dass im Sintaschta-Gebiet eine entwickelte Metallurgie betrieben wurde.

„Aber Erz kann man nicht essen”, scherzt der Frankfurter Archäologe. Die russischen Forscher gingen bislang davon aus, dass es im „Land der Städte” eine Mischwirtschaft aus Viehzucht und Ackerbau gegeben habe. Viehhaltung ist durch Unmengen von Knochen belegt, die bei den Ausgrabungen zutage kamen. Ein regulärer Getreideanbau konnte bislang jedoch nicht nachgewiesen werden. „Bei den Schlämmarbeiten der beiden letzten Jahre ist nicht ein einziges verkohltes Getreidekorn zum Vorschein gekommen” , gibt Krause zu. Er geht dennoch „vorsichtig davon aus, dass Getreideanbau eine Rolle gespielt hat”. „Die Sintaschta-Leute haben definitiv kein Getreide angebaut”, beharrt dagegen Nikolaus G.O. Boroffka. „Sie müssen aber irgendwelche Kohlenhydrate zu sich genommen haben.” Der Archäologe der Eurasienabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) in Berlin hat einige Zeit in Sintaschta mitgearbeitet und erforscht jetzt in Turkmenistan eine frühbronzezeitliche Stadtanlage. Nun bietet er eine überraschende Lösung für etliche Fragen im „Land der Städte” an.

Am Rande der Karakum-Wüste in Süd-Turkmenistan liegt die Oase Gonur, eine prähistorische Stadt an den großen Achsen der Seidenstraßen und des Nord-Süd-Verkehrs. Die Beteiligung oder sogar Kontrolle dieses internationalen Handels machten die Gonur-Herrscher immens reich. Der Ausgräber Wiktor Sarianidi tituliert sie als die „Stadt der Könige und Götter”. Die einzigartige Anlage existierte zwischen 2500 und 1600 v.Chr. „ Gonur ist eigenständig, mit seinen kilometerlangen, Dutzende Meter breiten Bewässerungskanäle aber deutlich vorderasiatisch geprägt”, charakterisiert Boroffka die Stadt. Neben dieser hochentwickelten Agrarwirtschaft verweisen auch andere Funde auf die sumerische Metropole Ur im Zweistromland: Mesopotamische Rollsiegel, eines sogar mit einer Keilschriftsequenz, Bronzekessel à la Sumer, in Gold gefasste Karneolperlen. Die Idee „Stadt” stammt wohl von dort. Das dazwischen liegende iranische Hochland war für Ideen und Güter kein Hindernis.

PALÄSTE FÜR DIE TOTEn

Gonur besaß einen zentralen Palast-Tempel von 100 mal 100 Metern, der von einer noch heute vier Meter hohen Mauer mit Türmen umgeben war. Daran schloss sich eine ebenfalls ummauerte Oberstadt an, die wiederum von einer Unterstadt umringt war. In der Unterstadt lagen ein großes und ein etwas kleineres Wasserbassin, die über tönerne Rohrleitungen aus dem Fluss gespeist wurden. Sie dienten vermutlich nicht der Wasserversorgung der Stadt, sondern kultischen Zwecken.

Im äußeren Stadtring legten die Archäologen in den letzten fünf Jahren zehn unberaubte Königs- oder Fürstengräber frei. Nikolaus Boroffka erklärt: „Das sind regelrechte Paläste für die Toten mit mehreren Räumen und üppigen Beigaben: Edelmetallgefäße, Bronzegeräte, Goldperlen, Achat-, Karneol- und Glaspasteperlen, kompakte Halsketten, kompliziert zusammengesetzte Schmucknadeln und ein Kosmetikflakon mit Stäbchen zum Auftragen der schwarzen Augenschminke.” Geopferte Diener mussten die Herrscher ins Jenseits begleiten. Zugtiere und Wagen unterstrichen den Rang des oder der Verstorbenen. Die Wagen hatten Scheibenräder, die mit Bronzereifen beschlagen waren, was ebenfalls sumerischer Tradition entsprach.

Der DAI-Mann hat in diesem Jahr das Umland der Metropole untersucht und im Umkreis von sieben Kilometern 20 Siedlungen entdeckt – kleine Dörfer, die vermutlich die Versorgung der Zentrale zu gewährleisten hatten. Die Bewohner dieser „ Gartenstädte” waren „nicht ganz arm, wir haben Siegel in ihren Gräbern gefunden und Metallgeräte”. Und: Boroffka stieß in den Gräbern auf „Steppenkeramik” – einfache, stempelverzierte Tongefäße, die Steppenvölkern in verschiedenen Zeithorizonten zugeordnet werden, auch der Sintaschta-Kultur. Die Steppenkeramik wurde im Gegensatz zu den drehscheibengefertigten Gefäßen in Gonur von Hand geformt „und ist ganz hübsch, wenn man sich an sie gewöhnt hat”, meint Boroffka. Sibirische Steppenkeramik tauchte schon vielfach in zentralasiatischen Siedlungen auf, die aktuellen Funde in den Vorstadt-Gräbern von Gonur belegen aber einen sehr viel früheren Kontakt mit den Nomaden, als bislang angenommen.

„Das geht jetzt mit der Sintaschta-Kultur zusammen”, freut sich Boroffka. Er vertritt zusammen mit russischen und amerikanischen Kollegen die Auffassung, dass die Idee der befestigten und geplanten Siedlungen im „Land der Städte” aus dem Süden, dem Gonur-Gebiet, übernommen wurde. Auch Rüdiger Krause findet die Idee („irgendwo aus dem Süden”) akzeptabel. Es scheint alles zu passen:

· Die Leute von Gonur waren reich, hatten massenhaft Edelmetalle in ihren Gräbern und eine überschussproduzierende Landwirtschaft – aber keine eigenen Bodenschätze.

· Die Leute von Olgino hatten Metalle en masse, eine ausgefeilte Metallurgie – aber keine Kohlenhydrate.

MIT MEHL EINGEDECKT

„Das wäre eine Erklärung für die Steppenkeramik im Süden und die fehlenden Getreidekörner im Norden: Die Sintaschta-Leute haben sich Getreide geholt und mit Metall bezahlt”, vermutet Boroffka. Eventuell haben sich die urban ambitionierten Nordländer sogar gleich mit Mehl eingedeckt – Boroffka nimmt auch heute Mehl statt Getreide mit, wenn er in die Wüste zu Hirten geht. Der Nord-Süd-Handel muss nicht unbedingt durchgängig über 1700 Kilometer Luftlinie bestanden haben. Wenn man sich die Migrationsrouten anschaut, gibt es auch heute noch einen Sommer-Winter-Kreislauf von den Oasengebieten im Süden zum Aralsee und zurück, dazu einen zweiten aus den Steppenregionen im Norden zum Aralsee und zurück, weiß Boroffka. Am Aralsee finden sich prähistorische Siedlungen, in denen die Menschen aus nordischer Steppenkeramik löffelten und mit südlichen Bewässerungskanälen ihre Felder optimierten.

Das findet Boroffka an der Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Kollegen so spannend: Lässt sich diese Verbindung zwischen Oasengebiet und Steppe kritikfest belegen? „Wenn nicht”, so der Archäologe, „muss man sich für Sintaschta neue Gedanken machen.” ■

MICHAEL ZICK, ehemaliger bdw-Redakteur, staunte wieder einmal über die weitgespannten Kommunikationsnetze der Vorgeschichte.

von Michael Zick

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Hermann Parzinger DIE FRÜHEN VÖLKER EURASIENS Vom Neolithikum bis zum Mittelalter C.H. Beck, München 2006, € 98,–

Film

Gisela Graichen DAS VERMÄCHTNIS DER STEPPENKRIEGER Terra X, 2010 In der ZDF-Mediathek: www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/ video/937040/Terra-X-Vermaechtnis-der-Steppenkrieger

KOMPAKT

· Der Bau von bronzezeitlichen Städten am Südural war nur möglich, weil es straff organisierte Gemeinschaften mit einem Oberhaupt gab.

· Üppige Erz- und Metallvorkommen in der Nähe sicherten die Versorgung.

· Die eurasische Region war in ein weitgespanntes Kommunikations- und Handelsnetz eingebunden.

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