Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

DIE EVOLUTIONÄRE WURMKUR

Erde|Umwelt Geschichte|Archäologie

DIE EVOLUTIONÄRE WURMKUR
Damit das Leben fortbesteht, ist Sex nicht nötig: Das zeigen die vielen Lebewesen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen. Warum also gibt es überhaupt Sex? Die unromantische Antwort hat mit unseren kleinsten Feinden zu tun – den Mikroben.

„Wir kennen nicht im Geringsten den letzten Grund der Sexualität“, schrieb Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, im Jahr 1862. „Warum werden neue Lebewesen durch die Vereinigung zweier sexueller Elemente produziert statt durch einen Prozess der Jungfernzeugung?“

„Darwin war großartig. Seine Idee der Evolution wird jeden Tag bestätigt“, sagt Nico Michiels, Evolutionsbiologe an der Universität Tübingen, im Jahr 2011. „Aber die Frage nach dem Grund der Sexualität konnte er wirklich noch nicht beantworten, denn er wusste noch nichts von Genen.“ Heute ist die Lage anders: Nach vielen Jahrzehnten des Rätselns und Streitens haben sich die Evolutionsforscher auf eine Antwort geeinigt. Sie heißt „ Rote-Königin-Hypothese“ (siehe Kasten „Rennen mit der Roten Königin“), und sie erklärt die Sexualität des Menschen sowie der meisten anderen höheren Lebewesen mit der Bedrohung durch Bakterien und andere sich rasch vermehrende Krankheitserreger. Damit wir ein wirkungsvolles Immunsystem gegen diese wandlungsfähigen Feinde entwickeln können, muss Sex sein. „Männer sind also weiter nichts als eine biologische Krankenversicherung“ , fasst der Wissenschaftsjournalist Michael Miersch diese Erkenntnis zusammen, „oder, beschämender noch, eine evolutionäre Wurmkur.“

DER SIEG DER ROTEN KÖNIGIN

Es war ein langer Weg, bis die Forscher so weit waren. Unterwegs haben sie die verrücktesten Experimente gemacht: Sie haben Studentinnen an den T-Shirts von Studenten riechen lassen, haben bei Mäuseweibchen durch den Duft fremder Männchen Schwangerschaftsabbrüche ausgelöst, haben das Paarungsverhalten von Stichlingen manipuliert – und damit der Max-Planck-Gesellschaft zu einem Patent für Parfüm-Zutaten verholfen. Sie haben konkurrierende Hypothesen begraben, integriert oder in die zweite Reihe gestellt, während sich die „ Rote Königin“, obwohl auf der Stelle rennend, nach vorn arbeitete. „Die Suche ist eigentlich abgeschlossen“, konstatiert Nico Michiels. „Ich denke, wir kennen alle wichtigen Gründe, die zum Erfolg der Sexualität beitragen.“ Er selbst setzt jetzt andere Schwerpunkte, untersucht zum Beispiel fluoreszierende Fische in der Tiefsee.

Manfred Milinski hingegen ist seinem Thema treu geblieben. Am Max-Planck-Institut für Evolutionsforschung in Plön untersucht der 61-Jährige an Fischen und Menschen immer noch die Mysterien des Sex und der Partnerwahl: mathematisch, biochemisch und im Feldversuch. Zur Begründung präsentiert er gerne eine schlichte Grafik („Die Kosten des Sex“, S. 23). Sie veranschaulicht, wie ineffektiv die Zweigeschlechtlichkeit wäre, wenn es nur um Fortpflanzung und Vermehrung ginge: Ohne Sex wächst eine Bevölkerung viel schneller. „Ginge es nur um reine Zahlen, Sex wäre schon längst von der Bildfläche verschwunden oder im Laufe der Evolution gar nicht erst aufgetaucht“, sagt Milinski. Computersimulationen haben gezeigt, dass beim Wettstreit einer sexuellen mit einer asexuellen Art die sexuelle nach nur zehn Generationen ausstirbt. „Warum machen wir es also nicht wie die Wasserflöhe im Sommer und vermehren uns asexuell?“, fragt der Biologe.

Anzeige

GENETISCHE EROSION

„Weil sich mit der Zeit im Erbgut unserer Nachkommen Mutationen mit schädlichen Folgen anhäufen würden, wenn wir nur Klone produzierten“, lautet eine Antwort, die lange Zeit die Evolutionsbiologen überzeugt hat. Inzwischen weiß man, dass diese genetische Erosion zwar existiert, aber sich erst in rund 100 Generationen für die Art tödlich auswirkt. Das Schicksal unse-rer derart fernen Urururenkel könnte uns eigentlich gleichgültig sein.

„Weil wir nur durch sexuellen Austausch die Chance haben, unsere eigenen guten Gene mit den guten Genen eines Partners zu kombinieren und damit besseren, anpassungsfähigeren Nachwuchs in die Welt zu setzen“, lautet eine bessere Antwort. Doch zumindest bei der Bierhefe ist sie falsch: Diese Schlauchpilze gibt es in einer asexuellen Variante (mit nur einem Satz Chromosomen) und in einer sexuellen (mit doppeltem Chromosomensatz). Wie ein Experiment von Clifford Zeyl und Kollegen von der Wake Forest University in North Carolina bereits 2003 gezeigt hat, passen sich beide Sorten gleich schnell an veränderte Umweltbedingungen an. Wenn die Hefekultur groß genug ist, sind die Asexuellen sogar schneller. Sobald Organismen komplexer werden, ändert sich allerdings das Bild: Eine Studie mit dem im Labor beliebten Fadenwurm „Caenorhabditis elegans“ (C. elegans), einem Zwitter, ergab 2009: Nach 40 Generationen sind die Tiere, die sich mit anderen kreuzen, biologisch anderthalb Mal so fit wie eine Variante, die sich lediglich selbst befruchtet und so immer nur aus demselben Gen-Pool schöpft.

Die Natur kennt zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die bei ihrer Fortpflanzung „wählen“ können: Machen sie’s lieber alleine oder zu zweit? Bei der Blattlauswespe Lysiphlebus fabarum kontrolliert nur ein einziges Gen den Unterschied zwischen Sex und Nicht-Sex, fand Christoph Sandrock vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich im Februar 2011 heraus. In ihren übrigen Eigenschaften sind die Weibchen, die aus unbefruchteten Eiern Junge hervorbringen können, von ihren Schwestern, die dazu ein Männchen brauchen, nicht zu unterscheiden. Warum es trotzdem sowohl die eine als auch die andere Variante gibt, wissen die Biologen nicht. Für die Erforschung der Sex-Evolution sind solche Tiere jedenfalls äußerst nützlich.

GESCHLECHTERKRIEG DER ZWITTER

Nico Michiels hat sich vor allem mit Zwittern beschäftigt. „ Warum sind Zwitter kein Erfolgsmodell?“, fragte er sich. Schließlich hat es viele Vorteile, wenn man Männchen und Weibchen zugleich ist: Man kann sich selbst befruchten, wenn kein Partner in der Nähe ist. Und: Man kann es mit jedem beliebigen Artgenossen treiben, der einem über den Weg schwimmt oder kriecht. Ein einsames Männchen muss nicht auf ein passendes Weibchen warten und umgekehrt. Und doch sind die Hermaphroditen unter den mehrzelligen Tieren eine Minderheit geblieben: Nur 15 Prozent aller Arten vermehren sich so.

Nach Michiels‘ Analysen könnte das mit den „Paarungskonflikten“ der zwittrigen Tiere zusammenhängen, die oft geradezu in einen Geschlechterkrieg ausarten. Denn jeder Zwitter möchte gern ein Männchen sein, wenn es zur Paarung kommt. Spermien zu produzieren, ist nämlich weitaus weniger kostspielig als in Eier zu investieren. Die weibliche Rolle ist deshalb unbeliebt. Das hat zuweilen schwerwiegende Folgen: Weinbergschnecken durchlöchern ihren Partner während des Vorspiels mit einem „ Liebespfeil“ aus Kalk. Daran haften Geschlechtshormone, die die getroffene Schnecke „verweiblichen“. Doch wenn der Schütze nicht richtig zielt, kann sein Pfeil ein lebenswichtiges Organ treffen – dann endet der Paarungsversuch mit dem Tod der potenziellen „ Mutter“.

PENIS-FECHTen bei PLATTWÜRMERn

Polycladen, riffbewohnende Plattwürmer, injizieren ihre Spermien sogar direkt durch die Haut ihres Partners. Bei der großen bunten Gruppe der „Pseudocerotidae“ kommt es dabei zu einem spektakulären Kampf. Nico Michiels beschreibt ihn so: „Wenn sich zwei sexuell motivierte Individuen begegnen, richten sie sich von der Oberfläche auf – sehr ungewöhnlich für einen Plattwurm – und versuchen sich höher zu strecken als ihr Gegenüber. Beide stülpen dabei einen scharfen Penis aus, mit dem sie wiederholt in Richtung ihres Opponenten stoßen, um ihm Spermien unter die Haut zu spritzen.“ Jeder versucht, dabei selbst nicht getroffen zu werden, denn der spitze Penis kann große Löcher in die Haut reißen.

Auch Egel sind bei der Paarung nicht zimperlich. Sie benutzen Spermienpakete, sogenannte Spermatophoren, um ihre männlichen Keimzellen bei einem Artgenossen loszuwerden. Niedere Egel kleben ihre verpackte Fracht einfach irgendwo auf den Körper ihres Gegenübers. Wenn der die Spermatophore nicht rechtzeitig abstreift oder verzehrt, frisst ein Proteingemisch ein Loch in die Haut des Empfängers und lässt die Spermien in dessen Körper frei. Höher entwickelte Egel wie der medizinische Blutegel haben spezialisierte Behälter für die Spermien entwickelt. Wenn sie Sex haben, läuft er friedlicher ab als bei den Primitivlingen der Gattung. Die höheren Egel sind schon fast auf dem Weg zur Zweigeschlechtlichkeit.

Auch bei getrenntgeschlechtlichen Tieren, so Michiels, gibt es sexuelle Interessenkonflikte, die zu erzwungenen Paarungen führen können. Man kann das etwa bei Stockenten oder bei Delfinen beobachten. „Im Vergleich zu den Zwittern jedoch, bei denen männlich mit männlich noch während der Kopulation konkurriert“, erklärt Michiels, „betreiben Männchen und Weibchen eher ein Spiel. Sie brauchen sich gegenseitig und müssen kooperieren.“

EIN ZEICHEN FÜR GESUNDHEIT?

Zwittertum mag also ein gefährlicher Seitenweg der Sexualität sein. Doch was hat der friedlichere Hauptweg mit Männchen und Weibchen an Vorteilen gegenüber der schlichten und zahlenmäßig so effektiven Jungfernzeugung? Es waren ökologisch denkende Evolutionsforscher, die als Erste an Parasiten dachten. Der Brite Bill Hamilton (1935 bis 2000) beschäftigte sich in den 1980er-Jahren mit der schon von Charles Darwin aufgeworfenen Frage der sexuellen Zuchtwahl: Warum bevorzugen Weibchen bei Männchen kostspielige Prachtmerkmale wie ein Geweih, einen roten Bauch oder einen bunten Pfauenschwanz (bdw 1/2009, „Wie Sex die Evolution antreibt“)? Sagen diese Merkmale vielleicht etwas über die Fitness des Männchens aus – ähnlich dem Ergebnis eines Gesundheitstests?

Zusammen mit Marlene Zuk, heute an der University of Ann Arbor, Michigan, formulierte Hamilton 1982 erstmals die Idee, an den energieaufwendigen Prachtmerkmalen könnten die Weibchen den Immunstatus des Männchens ablesen. „Auch wenn ein Männchen energieaufwendige Dinge tun kann wie laut singen oder akrobatisch balzen“, erklärt Milinski, „kann das für die Weibchen ein Hinweis sein, dass dieses Männchen gegen die aktuell grassierenden Parasiten gut geschützt ist.“ Ein Beweis war das noch nicht, nur eine Hypothese: die Rote-Königin-Hypothese aus den 1970er-Jahren, angewandt auf das Thema der sexuellen Damenwahl.

Als Nächstes musste jemand demonstrieren, dass die sexuelle Fortpflanzung in einer Umgebung mit vielen Parasiten mehr Nachkommen produziert als die asexuelle Vermehrung einer vergleichbaren Art. Curtis M. Lively von der Indiana University in Bloomington gelang das 1987 mit Wattschnecken aus Neuseeland: Je stärker der Parasitendruck war, desto stärker vermehrte sich die sexuelle Art. Der endgültige Beweis, dass die Rote-Königin-Hypothese stimmt, gelang aber erst einem Schüler Livelys, Levi T. Morran, just in diesem Sommer. Am 7. Juli 2011 verkündete die Presseerklärung der Indiana University: „Sex funktioniert dank der stets sich weiterentwickelnden Beziehung zwischen Wirt und Parasiten.“

NUR KOEVOLUTION ERHÄLT DEN SEX

Morran und seine Mitautoren, darunter auch Lively, hatten in einer Serie von mehr als 70 Evolutionsexperimenten sowohl die Fortpflanzungsweise des zwittrigen Fadenwurms C. elegans manipuliert (mal sexuell, mal selbstbefruchtend, mal eine Mischung aus beidem) als auch die Gene eines seiner Quälgeister, des infektiösen Bakteriums Serratia marcescens: Der Parasit durfte sich in einem Teil der Versuche mit seinem Wirt mitentwickeln („koevolvieren“), in einem anderen Teil wurde er an weiteren Evolutionsschritten gehindert. Die Ergebnisse waren mehr als eindeutig. „Wir fanden heraus, dass die selbstbefruchtenden Populationen von C. elegans von den koevolvierenden Parasiten schnell zum Aussterben gebracht wurden“, sagte Morran, „ein Ergebnis, das mit der Rote-Königin-Hypothese übereinstimmt.“ Die sexuellen Wurm-Populationen dagegen hielten mit den Parasiten Schritt. Ein interessantes Nebenergebnis: Wenn die Parasiten an der Evolution gehindert wurden, entwickelte sich bei den Würmern die Selbstbefruchtung zur dominanten Form der Fortpflanzung. Die Sexualität ging verloren, weil sie nicht gebraucht wurde. Für Lively der Beweis, dass „nicht Parasiten an sich, sondern nur die Koevolution von Wirt und Parasiten“ den aufwendigen Sex auf Dauer erhalten.

Seit den 1980er-Jahren mischt Manfred Milinski bei der Suche nach den genetischen Grundlagen der Partnerwahl mit. 1990 gelang es ihm zusammen mit Theo Bakker an der Universität Bern, die Hamilton-Zuk-Hypothese („Prachtmerkmale sind Zeichen für eine gute Immunität“) an Stichlingen zu bestätigen. Ja, stellten die beiden fest, Stichlingsweibchen achten zu Recht auf rote Bäuche bei ihrer Partnerwahl: Diese Männchen sind gesünder, sie haben weniger Parasiten. Die Schweizer Post krönte diesen Erfolg mit einer Briefmarke, auf der ein Stichlingspärchen prangt.

1995 wagte sich Milinskis Mitarbeiter Claus Wedekind dann an einen Menschenversuch, der noch mehr Publizität brachte: Er stellte fest, dass Studentinnen an den verschwitzten T-Shirts von Studenten durch Riechen erkennen können, welche Partner immungenetisch am besten zu ihnen passen würden. Den Geruch dieser T-Shirts empfanden sie als wesentlich angenehmer als den von Kommilitonen, die eher dem eigenen Immuntyp entsprachen. Hintergrund dieser Forschung ist das Wissen um den „Major Histocompatibility Complex“ (MHC, siehe Kasten „Gut zu wissen“). Diese Gruppe von Immun-Genen liefert die Bauanleitung für Moleküle, die kurzkettige Eiweißstoffe (Peptide), zum Beispiel von Krankheitserregern, festhalten können, um sie speziellen Immunzellen darzubieten. Dass Tiere den Immunstatus ihres Ideal-Partners erschnuppern können, hatten amerikanische Forscher zuvor an Mäusen entdeckt. Mäuse haben so eine empfindliche Nase, dass bei ihnen eine Fehlgeburt eintritt, sobald man ihnen nur den Duft eines fremden Männchens in den Käfig sprüht.

Doch was riechen wir da eigentlich? Sind es wirklich die winzigen, nur neun Aminosäuren langen Peptide, die unsere Nase reizen? Duftende Moleküle haben sonst andere Eigenschaften, sind komplexer gebaut wie ätherische Öle oder verdunsten leicht an der Luft wie fruchtige Ester. Für sein Lieblingsversuchstier, den Stichling, konnte Manfred Milinski inzwischen in einer Serie raffinierter Experimente zeigen, dass es wirklich die Peptide sind, die der Fisch riecht. Die kleinen Eiweißketten treten in ebenso vielen Varianten auf, wie es MHC-Gene gibt, und sind deshalb so etwas wie deren Gegenbild.

STIChLINGE GEHEN DER NASE NACH

„Als wir mit den Geruchsexperimenten anfingen, glaubte keiner, dass wir etwas herausbekommen würden“, erinnert sich der Forscher, der 1999 für seine Studien von Bern an den fischreichen Plöner See zog. „Stichlinge galten als Augentiere.“ Inzwischen weiß Milinski: Stichlingsweibchen haben auch eine feine Nase. Bevor sie auf den roten Bauch achten, richten sie ihr Interesse auf ein Männchen, das nach den passenden Immun-Genen riecht. In einem Experiment im Strömungskanal (siehe Grafik „Damenwahl: rechts oder links?“) versuchten die Forscher, das Männchen für das Weibchen entweder attraktiv oder unattraktiv zu machen, indem sie dem Wasser aus dem Nest des Männchens (Stichlingsväter bauen ein Nest für ihre Brut) künstliche Peptide zusetzten – mit Erfolg.

In großen Populationsversuchen, die sie im Plöner See unternahmen, haben Manfred Milinski und seine Mitarbeiter gezeigt, dass der lebenslange Fortpflanzungserfolg von Stichlingen unter Realbedingungen – viele Parasiten im Wasser – tatsächlich von der Fähigkeit der Weibchen abhängt, bei der Partnerwahl die optimale Immunausstattung zu erwischen. Mit den Stichlingen ließen sich so die entscheidenden Experimente umsetzen, die sich beim Menschen verbieten: „Wir konnten ja schlecht von unseren Berner Studentinnen verlangen, einmal mit einem für sie angenehm und einmal mit einem für sie unangenehm riechenden Mann ein Kind zu zeugen“, meint Milinski trocken.

JETZT KOMMT PARFÜM INS SPIEL

Zusammen mit Claus Wedekind, heute an der Universität Lausanne, hat Milinski deshalb noch in Bern einen anderen Weg eingeschlagen: Die beiden erforschten, ob es zwischen den Vorlieben für bestimmte Parfüm-Ingredienzien und dem eigenen Immuntyp Parallelen gibt. Die beiden Biologen versandten Päckchen mit Riechproben von Moschus, Vanille, Patschuli, Rosenwasser und so weiter – insgesamt 36 Duftnoten – an 137 männliche und weibliche Studenten mit bereits bekanntem MHC-Status (es waren die Versuchspersonen aus den vorangegangenen T-Shirt-Studien). Die Studenten sollten die Düfte sowohl danach bewerten, ob sie diese gern am eigenen Körper tragen würden, als auch danach, ob sie diese gern an einem Partner riechen würden. Eine weit überzufällige Beziehung zum MHC-Status zeigte sich bereits im ersten Durchgang – aber nur, wenn es um das Szenario „Eigengeruch“ ging. Im Wiederholungsversuch mit nur 18 Düften verfestigte sich dieser Eindruck, sodass Milinski jetzt überzeugt ist: „Menschen benutzen Parfüm, um ihren MHC-abhängigen Eigengeruch zu betonen, nicht um ihn zu überdecken. Deshalb haben Menschen so ausgeprägte individuelle Geruchsvorlieben. Und deshalb dauert es oft jahrelang, bis jemand ‚seinen‘ Duft findet.“

Als die bdw-Reporterin im Plöner Labor an aromatisierten Papierstreifen riechen darf, stellt sich heraus: Ambra mag sie nicht besonders. Jasmin findet sie wie immer dufte. Zibet, ein besonders teurer Duftstoff aus den Analdrüsen der Zibetkatze, ist für ihre Nase nicht gerade der Hit. Ob der Professor jetzt ihren MHC-Status voraussagen kann? Ob er ihr gar Empfehlungen für die Wahl eines Partners geben könnte, würde sie denn einen suchen? Milinski ziert sich ein wenig. „Solche individuellen Untersuchungen haben wir nicht gemacht“, meint er. „Das sollen andere tun.“

Er selbst forscht lieber an großen Kollektiven. So macht er zurzeit Experimente mit einer Gruppe Freiwilliger, die sich für eine Knochenmarkspende typisieren ließen. Ihr MHC-Status ist deshalb bereits bekannt und muss nicht kostspielig ermittelt werden. Und draußen im See schwimmen in großen Becken die Stichlingsfamilien, die Milinski helfen sollen, ein letztes großes Rätsel der Evolution zu lösen: Wie schafft es die Natur, eine so große Variationsbreite bei den Immun-Genen aufrechtzuerhalten? An die 500 MHC-Varianten gibt es allein bei Stichlingen. Wieso gehen die selteneren Varianten nicht verloren, wie es eigentlich zu erwarten wäre?

Die kleinen Peptide aber, die den Stichlingsweibchen und wohl auch den Berner Studentinnen so sehr den Kopf verdreht haben, hat die Max-Planck-Gesellschaft vorsichtshalber patentieren lassen. Vielleicht werden Kosmetikkonzerne sie eines Tages in ihre Parfüme mischen – statt Ambra, Moschus, Rose oder Vanille. MHC, der Duft der Gene – da weiß man schließlich, was man hat. ■

von Judith Rauch

RENNEN MIT DER ROTEN KÖNIGIN

Charles Lutwidge Dodgson (1832 bis 1898) war Dozent für Logik und Mathematik am Christ Church College in Oxford. Zum Schriftsteller (Künstlername: Lewis Carroll) wurde er, als er für ein befreundetes Mädchen namens Alice Liddell Geschichten zu erfinden begann. Sein erstes Buch „Alice im Wunderland“ entstand 1864, sechs Jahre später folgte „Alice hinter den Spiegeln“.

Der „Roten Königin“ – in der deutschen Übersetzung von Christian Enzensberger der „Schwarzen Königin“ – begegnet Alice in einem schachbrettartigen Gelände. Die Königin nimmt das Kind an die Hand und beginnt mit ihm zu rennen. Doch so sehr die beiden auch laufen, sie kommen nicht vom Fleck. Als Alice sich darüber wundert, erwidert die Königin: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“

Nach dieser Figur benannte der amerikanische Biologe Leigh van Valen (1935 bis 2010) im Jahr 1973 seine Hypothese, wonach Tier- und Pflanzenarten ihre ökologische Nische nur erhalten können, wenn sie sich im Wettlauf mit ihren Nachbarn in jeder Generation ein wenig weiterentwickeln. Heute gehen die Evolutionsbiologen davon aus, dass der Mensch mit seinem hoch entwickelten Immunsystem vor allem gegen Krankheitserreger wie Viren und Bakterien anrennt. Ein Beispiel: HIV- Viren mutieren extrem schnell. Sie sammeln während ihres Aufenthalts in einem Patienten so viele Gen-Veränderungen an wie Drosophila-Fliegen in 40 Millionen Jahren.

DIE KOSTEN DES SEX

Ein asexuelles Weibchen (links) hat ausschließlich Töchter, die wiederum selbst Nachwuchs bekommen. Ein sexuelles Weibchen (rechts) zahlt einen hohen Preis: Es hat nur halb so viele fortpflanzungsfähige Töchter, weil jedes zweite Kind ein Sohn ist. In der vierten Generation hat das asexuelle Weibchen bereits viermal so viele Urenkel wie das sexuelle. Der Vorsprung wächst mit jeder weiteren Generation.

EIN BISSCHEN SEX TUT’S AUCH

Plattwürmer sind vielseitig. Von der Art Schmidtea polychroa, die in europäischen Seen verbreitet ist, gibt es sexuelle und asexuelle Typen. Die Letzteren vermehren sich durch Jungfernzeugung, kopulieren aber, und die dabei ausgetauschten Spermien verschmelzen nur selten mit einem Ei. Je nach Standort und Zeitpunkt variiert bei diesen Tieren die Rate der sexuell entstandenen Nachkommen.

Thomas d’Souza und Nico Michiels von der Universität Tübingen haben kürzlich eine Kosten-Nutzen-Rechnung für den Plattwurm durchgeführt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass 5 bis 10 Prozent Sex eigentlich genauso viel bringt wie 100 Prozent. Frühere Studien an anderen Arten mit sexuellen und asexuellen Formen hatten schon darauf hingedeutet.

Nun fragen sich die Forscher: Warum gibt es nicht mehr solcher sexuell variablen Mehrzeller? Oder haben die Biologen sie bisher einfach übersehen? Ist obligatorischer Sex gar nicht so häufig, wie wir denken?

GUT ZU WISSEN: DER MHC-KOMPLEX

Das Kürzel MHC steht für „Major Histocompatibility Complex“, eine Gruppe von sehr variantenreichen Genen, die bei der Immunantwort von Wirbeltieren eine Rolle spielen. Wie wichtig sie sind, sieht man daran, dass bei Organtransplantationen nur solche Spenderorgane toleriert werden, die eine ähnliche MHC-Signatur haben wie der Empfänger. Die Gene liefern die Bauanleitung für Transportermoleküle. Deren Aufgabe ist es, Eiweiß-Bruchstücke (Peptide) von Viren und Bakterien festzuhalten und sie spezialisierten Zellen des Immunsystems zu präsentieren: Diese können so die Feinde erkennen und bekämpfen.

Für die Gesundheit ist es von Vorteil, mehrere MHC-Varianten zu haben, jedoch nicht zu viele, da es sonst zu Autoimmunreaktionen kommt. Wie Forschungen von Manfred Milinski und seinen Mitarbeitern gezeigt haben, können Tiere und Menschen am Geruch eines potenziellen Sexualpartners feststellen, ob er MHC-Gene besitzt, die die eigene Sammlung gut ergänzen würden. Der Geruchsreiz geht von den Peptiden aus, die von den MHC-Molekülen präsentiert werden. Wer uns immungenetisch zu ähnlich ist, riecht dagegen schlecht für unsere Nase – er stinkt uns regelrecht.

DAMENWAHL: RECHTS ODER LINKS?

Im Strömungskanal können Forscher feststellen, für welches Männchen sich ein Stichlingsweibchen entscheiden würde. Das Weibchen (rot) schwimmt in einem separaten Teil des durchströmten Beckens und wird per Video überwacht. Aus zwei Aquarien mit Männchen (blau) wird über Plastikschläuche (gelb) Wasser zugeleitet. Es transportiert Duftstoffe und fließt in zwei getrennte Kammern. Die Tiere können einander also nicht sehen, das Weibchen kann die Männchen nur riechen. Die Forscher beobachten nun, ob es mehr Zeit in der Nähe der linken oder der rechten Kammer verbringt. Bei einer Variante des Versuchs werden künstliche Immun-Peptide zugegeben.

KOMPAKT

· Im Vergleich zur Jungfernzeugung ist Sexualität eine extrem aufwendige Fortpflanzungsmethode.

· Evolutionsbiologen suchen deshalb nach der Erklärung, warum sie sich dennoch durchgesetzt hat.

· Bei Fischen, Mäusen und Menschen lautet die beste Antwort: Durch Sex mischen Eltern den optimalen Immuncocktail für ihre Kinder.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

♦ Hy|dro|ne|phro|se  auch:  Hy|dro|neph|ro|se  〈f. 19; Med.〉 Nierenstauung, Erweiterung des Nierenbeckens u. der Nierenkelche durch Abflussstörungen der ableitenden Harnwege; … mehr

Mei|er  〈m. 3〉 1 〈im MA〉 vom Grundherrn eingesetzter Gutsverwalter 2 〈später〉 Pächter eines Landgutes … mehr

Schlag|zeu|ger  〈m. 3; Mus.〉 Spieler des Schlagzeugs

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige