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LUSTLOS

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Martina Rohde ist asexuell und stößt damit auf Unverständnis. Dabei wissen Forscher: Die Libidolosen sind weder gehemmt noch krank. Sie lieben – nur anders.

Sie ist 14 und er 18 Jahre alt, als beide zum ersten Mal miteinander schlafen. Martina Rohde genießt die Küsse und Berührungen. Nur beim Sex empfindet sie nichts. „Du kannst dich wohl nicht fallen lassen”, stichelt ihr Freund. Ein halbes Jahr später trennt er sich von ihr – wegen der unerwiderten Lust.

Heute ist Martina Rohde 33 Jahre alt, Heilpraktikerin und Yogalehrerin in Kassel (Wohnort und Name geändert). Sie ist eine schöne Frau. Dunkle Augen sitzen unter fein geschwungenen Brauen. Schwarzes Haar betont das Rouge auf ihren Wangen. Ihre Gestalt ist schlank und feminin. „Ich wirke anziehend auf Männer”, sagt sie. Komplimente kann sie trotzdem nicht genießen: „Wenn du wüsstest!”, denkt sie dann immer. „Ich bin asexuell. Ich fühle mich wie eine behinderte Frau.”

WENN NUR DER SEX NICHT WÄRE

Ihrem letzten Freund hat sie von Beginn an ihre Unlust offenbart. Trotzdem verstehen sich beide zunächst blendend. Sie bieten gemeinsam Seminare an und reisen viel ins Ausland. Die Gesprächsthemen gehen ihnen nie aus. Und doch heißt es bald: „ Wenn nur der Sex nicht wäre, könnten wir im siebten Himmel sein.” Er beginnt seine sexuelle Begierde in Affären auszuleben. Sie leidet darunter, lässt ihn aber gewähren, weil sie seine erotischen Bedürfnisse nicht erwidern kann. Wenn sie trotzdem ab und an mit ihm schläft, hofft sie inständig, dass jenes krönende Hochgefühl sie endlich überkommt. Glücklich ist sie nie dabei. Die Beziehung endet nach neun Jahren im Eklat. „Das Thema ‚ Asexualität‘ widerte ihn an. Es war richtig heftig”, erzählt Martina Rohde. Und dann füllen sich ihre Augen mit Tränen.

In ihrer Verzweiflung hat sie sich an bild der wissenschaft gewandt. Sie fühlt sich unverstanden. Es würde zu wenig über Asexualität informiert, klagt sie. Tatsächlich widmen sich Forscher erst in jüngster Zeit der Libidolosigkeit, von der laut zwei Studien ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen ist. In Deutschland entspräche das einer halben Million Menschen beiderlei Geschlechts. Lange Zeit hielten Wissenschaftler Sexualität für einen zentralen Bestandteil der menschlichen Identität. Nach dem Motto: Wer Eros nicht kennt, muss krank sein. Doch: „Es gibt keine Indizien, dass es sich um eine körperliche Fehlentwicklung handelt”, sagt die Hirnforscherin Nicole Prause von der University of New Mexico in Albuquerque. Sie verwahrt sich gegen eine „Pathologisierung der Asexuellen”. „Die Menschen sind gesund und glücklich, wenn ihnen die Gesellschaft keine Probleme bereitet”, schlägt die Psychologin Morag Yule von der University of British Columbia ähnliche Töne an.

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Zwar können Depressionen, Stress, hormonelle Ungleichgewichte, Erektionsstörungen oder ein Mangel des Botenstoffes Dopamin das sexuelle Verlangen dämpfen. Aber nichts dergleichen findet sich gehäuft unter Asexuellen. Einmal mehr bescheinigte die Gynäkologin Lori Brotto von der University of British Columbia kürzlich 54 asexuellen Männern und 133 asexuellen Frauen ein normales Sozialverhalten. Sie stieß auf keine psychischen Abweichungen. Bis heute hält sich dennoch hartnäckig die Vermutung, Asexuelle seien psychisch gestört und könnten ihre Sexualität aufgrund von Ängsten nicht ausleben. Studien widerlegen jedoch die Hypothese von der erotischen Blockade. Beispielsweise befragte Prause 1146 Personen, darunter 41 Asexuelle. Den Antworten zufolge sind die Libidolosen keineswegs gehemmter. Als Brotto asexuellen Frauen Erotikfilme präsentierte, schämten diese sich nicht mehr als andere.

In dieses Bild passt eine neue Studie, die im August in den „ Archives of Sexual Behaviour” erschienen ist: Brotto und Yule maßen den Blutfluss in der Vagina, während asexuelle sowie sexuelle Frauen erotische Filme betrachteten. Die Durchblutung nahm in beiden Gruppen gleichermaßen zu. Asexuelle Frauen sind folglich normal physiologisch erregbar. Doch sie spüren kaum Wolllust. Prause vermutet dahinter eine geringere Aktivierung der sexuellen Zentren im limbischen System des Gehirns. Dies prüft sie zurzeit durch Aufnahmen mit dem Magnetresonanz-Tomographen.

RATSCHLÄGE, DIE NICHT HALFEN

Für jene, die den Sexualtrieb als elementare Emotion kennen, ist ein Leben ohne ihn schwer zu begreifen. Aus diesem mangelnden Einfühlungsvermögen erwächst ein massives Unverständnis gegenüber den Libidolosen. In Prauses Erhebung klagten sie über Ausgrenzungen und Schwierigkeiten, eine romantische Beziehung aufzubauen. Sie treffen auf Vorurteile und Gehässigkeiten, und sie leiden selbst daran, dass der Akt sie kalt lässt.

„Die Frau funktioniert nicht richtig”, sagte Rohdes Exfreund in scherzhafter Manier einmal nach dem Sex zu ihr. Damals lachte sie darüber. Doch meist quält es Rohde, dass Freunde ihre Erfahrungen nicht nachvollziehen können. „Du Arme! Das verstehe ich nicht.” „Wirst du nicht feucht, oder kriegst du keinen Orgasmus?” Solcher Reaktionen ist sie überdrüssig.

Lange Zeit glaubte sie, ihre Lust ließe sich mit Therapien und sanfter Medizin erwecken. An Rat hat es nie gefehlt. Yogalehrer rieten zu Dehnungsübungen und Meditation. Ein Therapeut legte ihr ans Herz, vollkommen zu entspannen. Eine Psychologin hielt das Problem für hausgemacht: Mit den Worten, es gäbe Wichtigeres im Leben als Sex, schickte sie Rohde nach Hause. Ein Endokrinologe stellte fest, dass ihre Hormonwerte normal sind. Pflanzenheilkundler empfahlen aphrodisierende Kräuter. Ein Sexualforscher vertrat die Ansicht, jeder Mensch sei ein sexuelles Wesen – und wenn es „die roten Socken” seien, die ihn antörnten. Sie habe nur noch nicht gefunden, was sie zum Höhepunkt bringt. Ein Therapeut behauptete gar, sie habe noch nicht den „richtigen Schwanz gehabt”. Doch Rohde hatte viele Partnerschaften, auch tiefe emotionale Verbindungen. Nur: Alle zerbrachen an ihrer Lustlosigkeit.

Die Asexualitätsspezialisten wundern sich über den kurativen Eifer. „Es gibt keine Therapie, eine asexuelle Identität umzuwandeln”, stellt Prause klar. „Medikamente und Psychotherapien sind nie an Asexuellen getestet worden.” Yule findet eine Behandlung sogar ethisch fragwürdig und vergleicht sie mit dem Versuch, die sexuelle Orientierung von Homosexuellen medikamentös zu drehen. Aber wenn eine asexuelle Person darunter so leidet wie Rohde? Das Leid entsteht beim Mitteilen der Lustlosigkeit, weniger durch die Asexualität selbst, weiß Prause aus eigenen Befragungen.

Doch dann fällt der Forscherin doch eine gute Nachricht ein: Die Libidofreien gaben in ihrer Studie als Vorzug an, mehr Zeit für sich und ihre Hobbys zu haben. Sie fürchteten sich weniger vor Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften. Und Yule ermuntert: „Man braucht einen Partner, der damit klarkommt. Ich habe etliche glückliche asexuelle Paare kennengelernt.” Rohde hofft auf diesen Mann. ■

von Susanne Donner

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