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AUS WIND WIRD GAS

Technik|Digitales

AUS WIND WIRD GAS
Ein riesiger Speicher für überschüssigen Strom aus Windrädern oder Solaranlagen existiert bereits: das Erdgasnetz. Es könnte sich als die entscheidende Stütze für die Energiewende in Deutschland erweisen.

Wir schreiben das Jahr 2040. Es gibt kaum noch einen Flecken in Deutschland, von dem aus nicht wenigstens ein Windgenerator zu sehen ist. Fast 200 Meter hohe geflügelte Kolosse stehen sogar verstreut in den weiten Wäldern der Mittelgebirge. Gleich nach der Energiewende im Jahr 2011 gaben die meisten Bundesländer ihre Bedenken gegen diese umstrittene Zusatznutzung der Wälder auf. Es galt, die Stromversorgung langfristig zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen zu sichern. Windstrom sollte daran den Löwenanteil haben. Knapp 30 Jahre danach rotieren über 30 000 Anlagen an Land, rund 8000 weitere vor den Küsten in Nord- und Ostsee. Gemeinsam mit Solarzellen, die auf unzähligen Dächern, in Solarparks und auf ehemaligen Industrieflächen installiert sind, sowie einer Vielzahl von Biomasse-Kraftwerken versorgen sie Deutschland komplett mit Strom und Treibstoff für Elektro-, Erdgas- und Wasserstoff-Autos. Und das mit der gleichen Zuverlässigkeit wie 2011. Die Summe der Stromausfälle liegt im Schnitt weit unter einer Stunde pro Jahr.

Möglich macht das ein gigantischer Speicher, der bereits Ende des 20. Jahrhunderts existierte, aber erst 2009 als Puffer für den unregelmäßig anfallenden Wind- und Solarstrom entdeckt wurde: das rund 400 000 Kilometer lange Erdgasnetz sowie 66 unterirdische und unzählige oberirdische Erdgasspeicher. 19 dieser Großspeicher waren 2011 noch geplant oder gerade im Bau.

Doch die Zukunft hat schon begonnen: Forscher des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik in Kassel (IWES) und des Stuttgarter Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) haben vorgeschlagen, synthetisches Erdgas einzuspeisen. Das wollen sie aus überschüssigem Wind- und Solarstrom herstellen sowie aus Kohlendioxid, das in Biogas- und Bioethanol-Anlagen, Brauereien oder Kläranlagen anfällt. „Unser Projekt Power-to-Gas löst gleich zwei Kernprobleme der Energiewende: die Speicherung von Energie aus erneuerbaren Quellen und die Versorgung mit klimafreundlichem Treibstoff”, sagt Michael Sterner, leitender Wissenschaftler am IWES. Und er verspricht: „Damit wird eine stabile Stromversorgung auch mit Wind- und Solarenergie möglich.” Schon heute enthält das Erdgasnetz 200 Milliarden Kilowattstunden Energie. Das reicht für eine mehrmonatige Stromversorgung von ganz Deutschland. In der Praxis sind es allerdings „nur” wenige Wochen, weil Erdgas auch anderweitig genutzt wird.

Eine erste Pilotanlage haben die Forscher am ZSW im Auftrag der Stuttgarter Firma SolarFuel 2009 errichtet. Sie ist in einem Container untergebracht und erzeugt aus 25 Kilowatt Strom etwa einen Kubikmeter Erdgas pro Stunde. Vor einigen Monaten ging in Morbach im Hunsrück eine weitere Anlage zur Herstellung von „ Windgas” in Betrieb. So bezeichnen viele Forscher das Methan, das aus Windstrom und Kohlendioxid hergestellt wird. Methan wiederum ist der Hauptbestandteil von Erdgas. Die Anlage besteht aus einem Elektrolyseur, in dem Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2) werden mithilfe eines Reaktionsbeschleunigers – eines Katalysators – in Methan, also synthetisches Erdgas, umgewandelt. Das kann dann ins Netz strömen.

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Mit 25 Kilowatt hat die Demoanlage eine bescheidene Größe. Doch die nächste, deutlich größere Variante ist schon geplant. Sie soll gemeinsam mit einem weit blickenden Autobauer realisiert werden. 6,3 Megawatt Leistung wird sie bringen, sodass sie pro Stunde Gas mit einem Energieinhalt von 3250 Kilowatt produzieren kann. Für die Umwandlung ist allerdings fast doppelt so viel Strom nötig. Die Alternative wäre: die Windräder reihenweise abschalten, wenn bei einem Stromüberschuss alle Pump- und Druckluftspeicher sowie Großbatterien (siehe Beitrag „ Stromspeicher: ein Ruck nach Fukushima?”) voll wären und es keine Elektrolyseure gäbe. Ein Teil des produzierten Erdgases wird in einer angeschlossenen Tankstelle verkauft, der Überschuss ins Netz eingespeist. Finanziert und betrieben wird die Anlage in Werlte vom Automobilhersteller Audi, der damit klimaschonend Kraftstoff für Erdgasfahrzeuge generieren will.

Als Zutat Wasser und CO2

In anderen Forschungsprojekten wird untersucht, welche Kohlendioxid-Quellen sich für die Erdgaserzeugung per Elektrolyse von Wasser und Methanisierung am besten eignen. Anfangs dürften, wenn sich die Power-to-Gas-Idee durchsetzt, Kohlekraftwerke als CO2-Quelle genutzt werden. Die Unternehmen Bayer, RWE und Siemens sowie verschiedene Hochschulen und Institute optimieren in einem Forschungsprojekt den Umwandlungsprozess von CO2 mithilfe von Wasserstoff aus regenerativem Strom. Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt mit elf Millionen Euro. Zum einen geht es darum, einen Elektrolyseur zu bauen, dem gewaltige Stromschwankungen nichts ausmachen. Zum anderen sollen Katalysatoren entwickelt werden, die einen höheren Wirkungsgrad ermöglichen. Zu den Nutznießern der Elektrolyseur-Entwicklung könnte Greenpeace Energy zählen. Der Ableger der Umweltschutzorganisation bietet seit Herbst 2011 allen Gasverbrauchern in Deutschland das Produkt „proWindgas” an. Dahinter verbirgt sich zu Beginn des Projekts schlichtes Erdgas. Ab 2012 wird Greenpeace Energy dann Wasserstoff, der mit überschüssigem Windstrom gewonnen wurde, ins Netz einspeisen. Standorte, an denen die für seine Erzeugung nötigen Elektrolyseure aufgestellt werden, nennen die Umweltschützer noch nicht.

Das Erdgasnetz verkraftet allerdings nicht beliebige Mengen Wasserstoff. Wenn der Wasserstoff-Anteil 20 Prozent beträgt, verringert sich der Brennwert des Gasgemischs um etwa 15 Prozent, hat das Freiberger Engineering- und Forschungsunternehmen DBI Gas- und Umwelttechnik ermittelt. Die DBI-Wissenschaftler glauben, dass das deutsche Erdgasnetz dennoch so viel Wasserstoff aufnehmen könnte, wie sich 2008 mit Windstrom hätte erzeugen lassen. Aus diesen rund 40 Milliarden Kilowattstunden hätten sich knapp 7 Milliarden Kubikmeter Wasserstoff herstellen lassen. Und den könnte man künftig in Kraftwerken verbrennen oder zu synthetischem Erdgas weiterverarbeiten. Der Wirkungsgrad dieses Prozesses beträgt rund 36 Prozent. „Das ist definitiv besser als ein vollständiger Verlust des überschüssigen Windstroms”, sagt Michael Specht, Leiter der Abteilung Regenerative Energieträger und Verfahren am Stuttgarter ZSW.

Die Deutsche Bahn wird grün

So sieht man das auch bei dem auf erneuerbare Energien spezialisierten Unternehmen Enertrag aus Dauerthal bei Prenzlau in der Uckermark. In diesen Wochen soll im nahe gelegenen Wittenhof ein Hybridkraftwerk in Betrieb gehen, das Überschussstrom aus Windgeneratoren in Wasserstoff umwandelt. Ein Teil davon wird an zwei Berliner Tankstellen geliefert, der Rest wird gelagert. Weitere Bestandteile sind eine Biogasanlage und ein Kraftwerk, das mit Biogas und überschüssigem Wasserstoff befeuert wird. Die Abwärme strömt in ein Fernwärmenetz. Ziel ist es, zu demonstrieren, dass erneuerbare Energien unterbrechungsfrei Strom und Wärme liefern können. 21 Millionen Euro vom Land Brandenburg und vom Bundesverkehrsministerium flossen in die Anlage. Beteiligt sind die Universität Cottbus, der Stromerzeuger Vattenfall, der Ölkonzern Total und die Deutsche Bahn (DB), die zunehmend Ökostrom einkaufen will. Die Bahnkunden sollen künftig „CO2-frei mobil” sein, verspricht Joachim Kettner, der Leiter des DB-Umweltzentrums. ■

Wolfgang kempkens ist seit jeher ein Fan erneuerbarer Energien. Die Wende ging ihm aber zu schnell. Der Ingenieur ist freier Journalist bei Aachen.

von Wolfgang Kempkens

Ohne Titel

Die deutsche Energielandschaft im Jahr 2040: Abnehmer für Wind- und Sonnenstrom gibt es genug. Strom, der nicht direkt ins Netz eingespeist wird – etwa, weil Windräder bei strammer Brise mehr Energie ernten, als benötigt wird –, lässt sich zum Aufladen von Elektroautos nutzen. Oder er wird per Elektrolyse von Wasser zunächst in Wasserstoff (H2) und dann weiter in Methan, also Erdgas, verwandelt. Dazu ist Kohlendioxid (CO2) nötig, das zum Beispiel aus Biogasanlagen stammt. Sowohl Erdgas als auch Wasserstoff lassen sich ins öffentliche Gasversorgungsnetz leiten – als Energieträger für Haushalte und Kraftwerke. Oder man liefert sie zu Tankstellen, an denen sich Erdgas- oder Brennstoffzellen-Autos mit „Sprit” versorgen.

Kompakt

· Mit Wind- oder Solarstrom lässt sich aus Wasser und CO2 Erdgas herstellen.

· Als Zwischenprodukt entsteht dabei Wasserstoff, der künftig ein wichtiger Treibstoff sein könnte.

· Es gibt Pläne für neue Pumpspeicher.

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