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Warum wir trotzdem überleben

Erde|Umwelt

Warum wir trotzdem überleben
Nicht nur die Vogelgrippe bedroht uns – in Ställen und Wäldern lauern noch Millionen andere Krankheitserreger. Aber der Mensch ist keine leichte Beute.

Zuerst sind es nur ein paar kleine Bläschen am Maul und am Euter. Doch dann kommt das Fieber. Die Tiere stehen apathisch im Stall, sie fressen nicht mehr, zäher Schleim trieft aus ihren Mäulern. Schließlich beginnen die Füße zu eitern, bis die Klauen abfallen und das Herz zu rasen, bis es versagt. Selbst wenn die erwachsenen Tiere dieses Martyrium überleben – die Ferkel und Kälber sterben, weil ihre kranken Mütter keine Milch mehr geben können. Die Rede ist von der Maul- und Klauenseuche (MKS), dem Schrecken der Bauern, weltweit, seit Jahrhunderten.

Das MKS-Virus gehört zu den infektiösesten Erregern, die es auf der Welt gibt. Es kann durch einfachen Kontakt übertragen werden. Mit dem Wind hat es schon bis zu 100 Kilometer zurückgelegt, und selbst ein Milchlaster kann es bei seinen Fahrten von einem Hof zu einem anderen bringen. Es überlebt das Trocknen und Räuchern der Salami und das Ansäuern während der Käseherstellung. Ein Stückchen Wurst von einem infizierten Tier im Schweinefutter reicht, um die Katastrophe auszulösen.

Doch eines überrascht bei diesem Erreger: Obwohl er verschiedene Tierarten befallen kann und über Jahrtausende mit dem Menschen Kontakt hatte, kann er ihm nichts anhaben. „ MKS-Viren können den Menschen zwar infizieren und zu leichten Krankheitserscheinungen wie der Bildung von Bläschen führen, doch das ist die Ausnahme“, sagt Volker Moennig, Direktor des Instituts für Virologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Und damit sind die MKS-Viren nicht allein. In der Evolution sprangen zwar etwa 800 Krankheiten vom Tier auf den Menschen über – vor etwa 8000 Jahren die Masern vom Rind, vor 4000 Jahren die Pocken vom Kamel und vor 700 Jahren die Pest von den Ratten – und zurzeit warten die Vogelgrippe in Asien und die Affenpocken in Afrika auf ihre Chance.

Trotzdem können die meisten Tierseuchen Homo sapiens nichts anhaben. Dabei ist das Bedrohungspotenzial gewaltig. 1407 Erreger für menschliche Infektionskrankheiten kennen die Forscher zurzeit. Schaf, Gänsegeier und Co dürften jeweils von ähnlich vielen Mikroben bedroht sein. Für alle zusammen ergibt sich eine gigantische Zahl. Wie groß sie genau ist, weiß keiner. Die meisten Tierseuchen verlaufen unbeobachtet, denn wenn nicht gerade Vogelgrippe- oder ein anderer Seuchen-Alarm herrscht, hocken kranke Vögel ohne wissenschaftliche Begleitung apathisch am Strand herum, und verfaulen infizierte Elefantenfamilien unbemerkt in der Savanne. Und selbst wenn die Wissenschaftler den Erreger kennen, ist seine Erforschung meist schwierig. So wurde der natürliche Wirt des Ebola-Virus bis heute nicht entdeckt.

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Warum hat uns diese millionenfache Bedrohung nicht schon längst von der Oberfläche unseres Planeten gefegt? Das Immunsystem hat in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit mit den wenigsten dieser Erreger Kontakt gehabt und konnte darum keine speziellen Gegenstrategien entwickeln. Ihr Angriff ist für den Infizierten verheerend – das hat das Auftreten neuer Infektionskrankheiten aus dem Tierreich wie Aids, Lassa oder Ebola gezeigt. Doch trotz aller Schrecken und Gefahren für den Menschen: Bei den meisten Infektionsversuchen haben die Erreger viel größere Probleme als ihr potenzielles Opfer. „Jeder Erreger muss in einem neuen Wirt drei Aufgaben lösen: Er muss erfolgreich eindringen, sich dann anheften und vermehren – was alles andere als einfach ist“, sagt Lothar H. Wieler, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Tierseuchen der FU Berlin. „Wenn nur eine dieser drei Grundvoraussetzungen nicht erfüllt ist, kann ein Erreger in einem neuen Wirt auf natürlichem Weg keine Infektion auslösen.“

Die meisten Erreger scheitern schon an der ersten Barriere – unserer Haut oder Schleimhaut. Wer öfter in Seen oder Teichen badet, wird solch einen erfolglosen Angriff aus dem Tierreich am eigenen Leib erlebt haben, sich aber keine weiteren Gedanken darüber gemacht haben, weil die Symptome in der Regel rasch verschwinden: Manchmal juckt die Haut nach dem Bad und ist etwas rot. Es handelt sich dabei um eine Attacke von Erregern der Entenbilharziose, winzigen Saugwürmern und Verwandten der gefährlichen Schistosomiasis, der „Menschen“-Bilharziose, an der in den Tropen etwa 300 Millionen Menschen leiden. Die Krankheitserreger dringen beim Baden in die Haut ein und dann weiter in den Körper vor, wo sie in den folgenden Jahren Lunge, Leber und schließlich das Gehirn zerstören.

Für die Entenbilharziose-Saugwürmer endet der Angriff auf den Menschen schon in der Haut. Die Würmer kommen in der ungewohnten Umgebung nicht weiter und werden schließlich vom Immunsystem erkannt und vernichtet. Diese Immunreaktion erzeugt das Kribbeln auf der Haut.

Die Enten-Saugwürmer und andere Krankheitserreger aus dem Tierreich befinden sich bei einem Angriff auf den Menschen in einer ähnlichen Situation wie ein Eisbär im Amazonas-Dschungel. In seiner arktischen Heimat ist er ein erfolgreicher und gefürchteter Jäger, der alle Kniffe zum Überleben in großer Kälte kennt. Am Amazonas gibt es aber keine Robben, kein Eis, keinen Schnee. Die dortige Nahrung wie Blätter und Obst verträgt der Bär nicht. Beutetiere in der Dschungelhitze zu hetzen, ist für den Meister der Kälte nicht möglich. Schon kurze Strecken würden zu einem Hitzekollaps führen. Und mit seinem weißen Fell ist er für jeden gut zu sehen.

Die Beute von Krankheitserregern sind die Zellen des menschlichen Körpers. In sie müssen die Mikroben eindringen, denn die Zellen sind die Kinderstuben ihrer Nachkommen. Doch schon das Eindringen ist schwierig – ohne dass der Mensch etwas dagegen tun müsste. Unsere äußeren Zellschichten, wie die der Haut oder des Darms, sind keineswegs leere, unbewohnte Regionen. Sie sind bei jedem Einzelnen die Heimat von Milliarden von Bakterien. Diese Mikrobenflora betrachtet ihren Menschen als schützenswertes Biotop. Hautbakterien wie Staphylococcus epidermidis verdrängen schädliche Keime.

Manche Erreger schaffen es trotzdem, diese Patrouillen zu umgehen und zum Beispiel über Wunden oder entzündete Darmregionen ins Körperinnere vorzudringen. Doch hier treffen sie auf eine neue Schwierigkeit. Ein langer Aufenthalt im Blut ist gefährlich, denn wenn die Erreger keine „molekularen Tarnkappen“ haben – wie die Plasmodien, die Erreger der Malaria –, werden sie vom Immunsystem erkannt und vernichtet, auch wenn sie bislang unbekannt waren. Sie müssen deshalb sehr rasch in die Zellen eindringen, in denen sie sich vermehren können. Im Laufe der Evolution haben die Mikroben einen oder mehrere molekulare „ Schlüssel“ erworben, mit denen sie ihre Zellen aufschließen können. Das Aids-Virus HIV öffnet damit Immunzellen, Grippeviren Zellen der Bronchien und der Lunge und Malaria-Erreger Blut- und Leberzellen.

Das Problem für die Angreifer aus dem Tierreich: Die Zellschlösser in Enten, Katzen oder Menschen sind nicht identisch. Zwar ähneln sich die Schlösser von nahverwandten Arten wie Mensch und Schimpanse oder von Schaf und Kuh, aber oft reichen schon kleinste Unterschiede, um den Zellschlüssel unbrauchbar zu machen.

Grippeforscher beobachten aus diesem Grund sehr genau die Entwicklung der molekularen Schlüssel des Vogelgrippe-Virus. Wie wichtig die Schlüssel sind, zeigt die Namensgebung der Influenza-Viren: Der Buchstabe H im Vogelgrippe-Virus H5N1 deutet auf den molekularen Schlüssel Hämagglutinin, von dem es verschiedene Typen gibt. Mit Hämagglutinin heftet sich das Virus an ein spezielles Eiweiß auf der Zelloberfläche – es steckt den Schlüssel ins Schloss – und aktiviert damit ein zelleigenes Transportsystem, das den Krankheitserreger fatalerweise in die Zelle bringt.

„Diese Rezeptor-Ligand-Interaktion, wie das Schloss-Schlüssel-Phänomen in der Forschung heißt, ist aber nicht das letzte Problem, das der neue Erreger zu lösen hat“, sagt Wieler. „Denn selbst wenn es ein Vogelgrippe-Virus erfolgreich über den richtigen Rezeptor geschafft hat, in die menschliche Zelle einzudringen, heißt das noch lange nicht, dass es deshalb eine Infektion auslösen kann. Es muss ihm in einer für ihn unbekannten Zellumgebung auch gelingen, sich zu vermehren.“ Noch wissen die Forscher wenig über diese innerzellulären Hindernisse. Aber generell gilt, dass sich die biochemischen Faktoren der Zellteilung, der Eiweißherstellung und anderer Zellprozesse von Tierart zu Tierart ebenso unterscheiden wie die Schlösser zum Zellinneren. Sie stellen damit für jeden Krankheitserreger, der sie für seine Zwecke manipulieren will, ein Hindernis dar.

Trotz dieser Hürden haben es in den letzten 25 Jahren nachweislich 38 neue Erreger geschafft, in den Menschen vorzudringen. Einige Namen sorgen weltweit für Angst und Schrecken: Sars, Ebola, Lassa oder Vogelgrippe. Doch keine dieser Krankheiten hat sich bislang zu einer Epidemie ausgeweitet. So schrecklich die Infektionen auch für die Opfer waren: Die Angriffe liefen meist nach kurzer Zeit ins Leere. Die Erreger sprangen nicht oder nur wenige Male von Mensch zu Mensch. „Denen fehlt einfach noch die evolutionäre Erfahrung“, sagt Wieler. Erfolgreiche Erreger von Homo sapiens „wissen“, dass gedämpfte Aggressivität und ein bisschen Kooperation mit dem Opfer langfristig den besten Erfolg bringt. Selbst so gefährliche Erreger wie die von Tuberkulose und Typhus beherrschen diesen Trick: „Tuberkelbakterien können jahrelang in den Lymphknoten überdauern und auf ihre Chance warten. Und Salmonella typhii kann in der Gallenblase eines Menschen sitzen, ohne ihm zu schaden. Aber er macht seinen Wirt zum Dauerausscheider des Bakteriums und infiziert so viele andere Menschen“, berichtet Wieler.

Ebola ist evolutionär gesehen dagegen ein Versager. Die Infizierten verbluten innerhalb weniger Tage und können andere Menschen in dieser Zeit kaum infizieren, da dies nur über Körperflüssigkeiten geschehen kann. Typisch ist deshalb das plötzliche Aufflackern und rasche Verlöschen dieser Erkrankung. Aber das muss nicht so bleiben. 1976 hatte Ebola schon fast den Sprung zu einer echten Menschenseuche geschafft. Im Südsudan infizierte es zuerst einen Arbeiter in einer Baumwollfabrik, dann über den Besitzer eines Jazz-Clubs andere Mitarbeiter im Club. Erst in der achten Übertragungsgeneration kam der Ausbruch zum Stillstand – gefährlich nah an der Grenze zur Epidemie, meinen die Biologen Jim Bull von der University of Texas und Dan Dykhuizen von der State University of New York at Stony Brook in einem Kommentar im Fachblatt nature.

Das West-Nil-Virus ist weitaus erfolgreicher. Seit 1999 ist es von Afrika nach Südfrankreich, in die Karibik, die USA und Kanada vorgedrungen und hat sich dabei eine breite Basis geschaffen: 288 Vogelarten, 59 Mückenarten und 30 verschiedene Säuger wie Menschen und Pferde sowie Alligatoren kann dieses Virus erfolgreich befallen, wie Alan Barrett von der University of Texas auf dem diesjährigen Kongress der American Association for the Advancement of Science (AAAS) berichtete. 2001 fiel das West-Nil-Virus zum ersten Mal in New York auf, als die Krähen im Zoo des Stadtteils Bronx starben und zugleich mehrere Menschen an einer ungewöhnlichen Gehirnentzündung litten. Es zeigt die typische Evolution eines erfolgreichen Erregers: Es verliert allmählich seine Aggressivität und tötet seine Opfer nicht mehr so häufig.

Hinter dieser evolutionären Anpassung stecken Mutationen im Erbgut der Mikroben. Da sie so wichtig für den Erfolg der Krankheitserreger sind, haben Bakterien und Viren verschiedene Strategien entwickelt, um mehr Gen-Veränderungen zu bewirken:

• Die Erbinformationen von Viren sind oft sehr instabil. Das fördert die Bildung von Mutationen bei jedem Vermehrungszyklus. Besonders erfolgreich sind in dieser Beziehung Viren, die RNA als Erbmaterial verwenden, wie die Erreger von Aids, Vogelgrippe oder West-Nil-Fieber.

• Noch effizienter ist der Austausch von ganzen Genen, denn damit gewinnen die Erreger eine völlig neue Eigenschaft. Bakterien und Viren betreiben deshalb einen ausgeprägten Tauschhandel mit Genen, sogar über Artgrenzen hinweg. Auch beim Gen-Tausch sind die RNA-Viren führend. In den Zellen der Infizierten verschieben sie komplette Chromosomen.

Aufgrund ihrer Flexibilität durchbrechen RNA-Viren die „ Artenbarriere“ öfter als andere Erreger. Die Blauzungen-Krankheit, die im September dieses Jahres deutsche Rinderherden bedrohte, ist eigentlich harmlos für Menschen. Doch vor einigen Jahren waren Neukombinationen von Chromosomen in Sibirien der Anfang einer Seuche. Blauzungen-Viren von Schneehasen drangen plötzlich in die Gehirne von Menschen ein und führten zu Hirnentzündungen.

Auch wenn solche gefährlichen Mutationen immer wieder auftreten, schützt uns Menschen in der Regel der Zufall. „Ein Erreger, der gestern noch völlig harmlos war, kann zwar heute gefährlich sein. Aber nur, wenn er nach der Mutation auf einen passenden Wirt trifft und sich dort vermehrt“, gibt Wieler zu bedenken. „Anderenfalls verschwindet diese gefährliche Eigenschaft wieder – oder der Erreger sitzt Tausende bis Millionen von Jahren im Urwald oder sonstwo fest, ohne Folgen für die Menschheit.“ ■

Thomas Willke

Ohne Titel

Zugvögel stehen im dringenden Verdacht, das Vogelgrippe-Virus nach Deutschland eingeschleppt zu haben. Doch JOSEF H. REICHHOLF, Professor für Naturschutz und Ornithologe an der Zoologischen Staatssammlung in München, hält diese These für falsch.

bild der wissenschaft: Wieso sind Sie davon überzeugt, dass Zugvögel nicht für die Vogelgrippe verantwortlich sind, Herr Prof. Reichholf?

Reichholf: Die Ausbreitung der Vogelgrippe erfolgte sehr rasch von Ostasien nach Westen, doch der Vogelzug verläuft von Norden nach Süden und umgekehrt. Zudem gab es die Erkrankungen im letzten Winter gerade nicht in der Vogelzugzeit, sondern im Januar und gegen Ende des Winters. Außerdem stellt sich für mich als Ornithologen eine grundsätzliche Frage: Wenn das Vogelgrippe-Virus H5N1 sehr virulent ist, wie sollen es dann erkrankte Enten oder Gänse geschafft haben, eine Hunderte oder gar Tausende von Kilometern lange Flugstrecke zu bewältigen? Das Virus hätte sie stark schwächen müssen. Dazu kommt, dass die Wasservögel, die positiv auf H5N1 getestet wurden, kaum ziehen oder gar keine Zugvögel sind und im Winter nur Kurzstrecken fliegen.

bdw: Aber es sind doch Wildvögel an H5N1 gestorben?

Reichholf: So eindeutig ist das nie festgestellt worden. Man hat tote Vögel untersucht, etwa Schwäne auf Rügen, und bei ihnen das H5N1-Virus nachgewiesen. Aber ob sie tatsächlich auch an diesem Virus gestorben sind oder an irgendetwas anderem, wurde nicht ermittelt. Es ist also durchaus möglich, dass H5N1 schon länger in der deutschen Wildvogelpopulation steckt – aber bisher nicht entdeckt wurde, weil man nicht danach gesucht hat.

bdw: Wie ist die Vogelgrippe denn Ihrer Meinung nach zu uns gekommen?

Reichholf: Sehr wahrscheinlich wurde das Virus durch Geflügelimporte und -transporte eingeschleppt. In Asien kann man die geografische Ausbreitung der Vogelgrippe mühelos mit den großen nach Westen führenden Eisenbahnlinien in Verbindung bringen. Hühner in ein Tuch zu wickeln und per Bahn zu irgendeinem weit entfernten Markt zu transportieren, ist in Asien ganz normal. In Europa hat man die Massentransporte von Geflügel bisher kaum als Ausbreitungsweg der Vogelgrippe in Betracht gezogen, obwohl die meisten Küken, die bei uns großgezogen werden, aus Brütereien in der Türkei kommen.

bdw: Vermuten Sie noch andere Importwege?

Reichholf: Ja, insbesondere durch fischmehlhaltiges Geflügelfutter. Selbstverständlich lässt es sich nicht ausschließen, dass Seevögel mit ins Netz kommen, wenn Massen von Kleinfischen gefangen werden, die man dann zu Fischmehl verarbeitet. Und diese Vögel können infiziert sein. Es gibt zwar EU-Normen, die vorschreiben, dass Fischmehl erhitzt werden muss, um Krankheitserreger abzutöten. Aber wenn ein riesiger Container mit Fischmehl aus Übersee irgendwo anlandet – wie soll man testen, ob der Inhalt tatsächlich ausreichend erhitzt wurde?

bdw: Und wie könnten sich die Wildvögel das Virus eingefangen haben?

Reichholf: Ich gehe davon aus, dass der Infektionsweg genau umgekehrt zu dem von den Behörden propagierten verlaufen ist. Die Quelle der Viren liegt wahrscheinlich in Geflügelhaltungen, nahe an einem See oder großen Weiher, wo auch wilde Wasservögel vorkommen. Und diese Wildvögel können dann natürlich direkt mit dem Hausgeflügel oder dessen Kot in Kontakt kommen und mit dem Virus infiziert werden. Dies wiederum kann zu einer sekundären Ausbreitung auf Kurzstrecken durch frei lebende Vögel führen, denn die fliegen in der Gegend umher und können so das Virus in der Nachbarschaft verteilen.

bdw: Was halten sie von der Stallpflicht?

Reichholf: Sie ist sinnvoll und notwendig bei Enten- und Gänsehaltungen an einem freien Gewässer, zum Beispiel an einem Seeufer oder einem Stausee. Denn dort könnten sich Hausgeflügel und Wasservögel mit der Vogelgrippe gegenseitig infizieren. Aber wenn am Waldesrand ein Bauer oder am Stadtrand ein Privatbesitzer seine paar Hühner frei laufen lässt, ist die Stallpflicht reine Schikane. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass die bisher positiv getesteten Vogelarten – also Schwäne und Enten – Hühnerhöfe oder auch Putenhaltungen besuchen. Das würde deren natürlichem Verhalten völlig widersprechen.

bdw: Gibt es eine Verbindung zwischen Stallpflicht und Vogelzugzeit?

Reichholf: Dass Stallpflicht nur zur Vogelzugzeit herrschte, zeigt das große Maß der Unkenntnis bei den Entscheidungsträgern in Behörden und Politik. Vogelzug findet das ganze Jahr über statt. Es gibt keine Periode ohne Vogelzug. Wenn im Winter im Nordosten Europas massiv Kaltluft vorstößt und die Ostsee zufriert, dann weichen im Dezember oder Januar plötzlich Massen von Enten und anderen Wasservögeln nach Süden an die Voralpenseen aus. Im Sommer fliegen Tausende von Enten westwärts quer über Deutschland zu ihren Mausergebieten, etwa zum Bodensee. Als das Bundesland Bayern im vergangenen Jahr am 15. Dezember den Vogelzug für beendet erklärte, hielten sich die Vögel ganz sicher nicht an diese Terminvorgabe. Das ist typisch für Behörden: Alles wird über Verordnungen und Termine geregelt. Aber so funktioniert die Natur nicht.

bdw: Wie beurteilen Sie Massenschlachtungen bei infizierten Geflügelbeständen?

Reichholf: Anstatt infizierte Bestände so schnell es geht zu vernichten, sollte man sie zumindest zum Teil unter Quarantäne stellen und zur Forschung nutzen: Wie entwickelt sich die Krankheit? Wie viele Tiere im Bestand infizieren sich? Wie viele sterben an dem Virus?

bdw: Welche Maßnahmen halten Sie für sinnvoll?

Reichholf: Wir müssen Klarheit bekommen, was in unseren Städten mit den Wasservögeln los ist. Sind die Enten, Schwäne und Möwen an den städtischen Fütterungsstellen bereits infiziert, ohne an der Vogelgrippe zu sterben? An diesen Orten können Kinder und ältere Menschen in engen Kontakt zu den Vögeln kommen und sich möglicherweise anstecken. Man braucht sich ja nur ein alltägliches Bild vor Augen zu führen: Kinder ziehen ihre Hände über ein Brückengeländer, auf dem vorher Möwen gesessen haben – und dann nehmen sie die Finger in den Mund. So könnten leicht größere Mengen von Viren in ihren Organismus gelangen.

bdw: Muss man als erwachsener Mensch Angst vor der Vogelgrippe haben?

Reichholf: Im Allgemeinen: Nein. Denn wir sind vielen Grippeviren unterschiedlichster Typen ausgesetzt. Ein halbwegs normal funktionierendes Immunsystem kommt damit klar. Es wäre aber auch falsch, leichtfertig mit Wildtieren umzugehen, die infiziert sein könnten. Man sollte selbstverständlich nicht irgendwelche tot aufgefundenen Tieren mit bloßen Händen untersuchen und die Hände dann in den Mund stecken. Und dass man daheim das Hähnchen ordentlich durchbrät, sagt einem der gesunde Menschenverstand, schon wegen der Salmonellengefahr. Für Panik besteht kein Anlass, wohl aber für gründliche Freilandforschung.

Das Gespräch führte Nadine Eckert

COMMUNITY Internet

Links und Hintergrundinformationen zur Vogelgrippe und wie Sie sich davor schützen können, finden Sie auf unserer Homepage in der Rubrik medinfo:

www.bild-der-wissenschaft.de

Ohne Titel

• Krankheitserreger haben im Lauf der Evolution Strategien entwickelt, um in ihrem speziellen Wirt gut zu überleben.

• In anderen Arten versagen diese biochemischen Tricks meist.

• Was die Lebewesen schützt, sind vor allem unterschiedliche Strukturen auf der Oberfläche der Körperzellen.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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po|ly|rhyth|misch  〈Adj.〉 in der Art der Polyrhythmik, verschiedene Rhythmen zugleich aufweisend

Va|na|din  〈[va–] n.; –s; unz.; chem. Zeichen: V; bis 1975 in Deutschland zugelassene Bez.; veraltet〉 = Vanadium

Ob|li|te|ra|ti|on  〈f. 20〉 1 Tilgung 2 〈Med.〉 Veröden, Verschwinden von Hohlräumen, meist infolge einer Entzündung … mehr

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