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40 Jahre deutsche Bildungsnotstände Die unendliche Geschichte

Gesellschaft|Psychologie

40 Jahre deutsche Bildungsnotstände Die unendliche Geschichte
Die fatalen Botschaften über das Bildungswesen in Deutschland klingen seit 40 Jahren zum Verwechseln ähnlich. Ist das System nicht lernfähig? Die deprimierenden Ergebnisse der PISA-Studien scheinen jetzt tatsächlich vom Diskutieren zum Handeln zu führen. Ein Essay von Prof. Heinz-Elmar Tenorth.

Den drohenden „Bildungsnotstand“ zeichnete der Heidelberger Religionsphilosoph und Theologe Georg Picht 1964 an die Wand, heute diagnostiziert sogar die Journalistin Petra Gerster den „ Erziehungsnotstand“. Der Deutschland-Chef der Wirtschaftsberatungsfirma McKinsey fordert: „Schluss mit der Bildungsmisere“ und liefert ein Sanierungskonzept gleich mit. Eine Abrechnung mit der „Bildungslüge“ formuliert der Literaturwissenschaftler Werner Fuld – Krisen-Exegetik allerorten.

Die diversen Diagnosen, Klagen und zahllosen Programme, die nicht erst nach dem „Ruck“-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog entstanden, wiederholen das seit 200 Jahren bekannte Knäuel von Bildungsproblemen:

• Was heißt Allgemeinbildung?

• Wozu ist die Schule da?

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• Warum leisten Lehrer anscheinend so wenig?

• Bereitet die Schule angemessen auf die Zukunft vor?

Die Fragen schließen die Tatsache ein, dass alle Teilnehmer am Bildungsdiskurs Experten sind – und zwar sehr selbstbewusste, denn unter der Schule haben sie schließlich alle gelitten.

Auch die Ursachen-Betrachtungen erzeugen zunächst nur Déjà-vu-Erlebnisse. Für Picht war die föderale Kompetenzverteilung – Bildung ist Ländersache – verantwortlich, hinzu kamen die vormodern unflexible Struktur des Bildungssystems, die fehlende Qualität der Politik – und der Politiker –, das Selbstverständnis von Pädagogik und Pädagogen und schließlich die Alltagsarbeit der Schule.

Für die aktuellen Beobachter sind es die – natürlich sieben – „ Todsünden der Bildungspolitik“ (von Trägheit über Verschleierung bis Bürokratisierung) und im-mer noch der Föderalismus, die unselige Tradition der Pädagogik, das Selbstverständnis und die Leistungen der Lehrer, der Modernitätsrückstand der Schulen.

Nichts Neues also? Nur die bekannte Aufgeregtheit? Kontinuität statt Variation der Probleme? Fehlt erneut der Mut zum innovativen Handeln und zur Umsetzung der guten Programme? Das wäre zu einfach, denn man darf sich durch die gleich klingende Rhetorik nicht über den Wandel der Problemlage und die Fülle der neuen Fragen täuschen lassen – die Situation des Bildungssystems von 1964 lässt sich nicht mit der von 2004 vergleichen. Vielmehr muss man angesichts der scheinbaren Kontinuität der Klagen, Diagnosen und Kritiken fragen, ob die öffentliche Rhetorik über Bildung – wie die Strategien der Bildungspolitik – nicht selbst Teil des Problems waren oder sind, das sie zu lösen vorgeben.

Aus der Distanz betrachtet, haben wir es nämlich nicht nur mit ganz unterschiedlichen Problemlagen zu tun, sondern auch mit kontroversen Problemdiagnosen, zu vielen Lösungsstrategien und offenbar auch mit einer blockierten Lernfähigkeit bei zentralen Akteuren.

Georg Picht schrieb seine Diagnose in einer Situation, die für ihn durch zu wenige Absolventen in hoch qualifizierten Bildungsgängen geprägt war. Er forderte die Steigerung der Abiturientenzahlen, aber auch eine Ablösung der alten Qualifikations- und Berechtigungsstufen im deutschen Bildungswesen. Zudem drängte er auf eine – für lebenslanges Lernen offene – neue Lernstruktur, die sich flexibel mit dem Arbeitsmarkt verbindet. Schließlich plädierte er für eine gesamtstaatliche Bildungsplanung, die solche Ziele gegen die Partikularinteressen der Länder und Pädagogen realisieren sollte.

Steigerung der Quantität und Modernisierung des Systems waren Pichts zentrales Anliegen, seine Zeitgenossen verstärkten die Forderung nach Chancengleichheit und pädagogischer Förderung und Demokratisierung. Denn Bildung, so Ralf Dahrendorf ebenfalls 1964, ist ein Bürgerrecht.

Aktuell haben sich die Problemfelder deutlich verschoben: Bei den Abiturientenzahlen – weniger als 8 Prozent 1964, über 30 Prozent eines Altersjahrgangs heute – hat die Expansion stattgefunden, die Picht gefordert hat. Auch die Chancengleichheit beziehungsweise -ungleichheit hat andere Dimensionen bekommen: 1965 gab es Ungleichheit in Bezug auf Geschlecht, Konfession, Region und soziale Schicht, heute sind solche Benachteiligungen für Mädchen – die wirklichen Gewinner der Bildungsexpansion – und für Region und Konfession weitgehend verschwunden.

Die neuen, von Ungleichheit bedrohten Risikogruppen entstehen durch kumulierte Effekte aus Ethnizität, Schichtzugehörigkeit und Sprache. Nicht das katholische Arbeitermädchen vom Lande ist der typische Verlierer der Bildungsreform, sondern der männliche Jugendliche, der Deutsch nicht als Muttersprache spricht und in einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Haushalt in einem städtischen Migrationsgetto aufwächst.

In den aktuellen Analysen der Bildungsexperten sind zudem neue Krisenindikatoren hinzugekommen: Ein rapider Leistungsverfall im deutschen Bildungswesen, den Picht nicht ahnte, den wir aber spätestens seit den PISA-Studien – Lesefähigkeit und Mathematikverständnis von Sekundarschülern – nicht mehr übersehen können. Schon vorher hatten die TIMS-Studien oder internationale Mathematik-Vergleichstests gravierende Defizite im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich festgestellt – auch für die Gymnasien, deren Leistungsfähigkeit öffentlich nicht strittig war.

Qualitätssicherung und -steigerung, „fordern“ und nicht nur „ fördern“ – das sind daher die neuen Erwartungen an das Bildungswesen. Auch der Kontext ist heute anders als 1964: Der Leistungsverfall betrifft ein Bildungssystem, das seit der Verfassungsänderung von 1969 als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern betrachtet wurde, das zum Objekt gesamtstaatlicher Bildungsplanung geworden war und in das viel – aber vielleicht nicht genug – Geld floss, mehr jedenfalls als 1964.

Pichts Probleme sind also weitgehend gelöst, aber die Krise im Bildungswesen ist nicht vom Tisch. Wo liegen die Gründe für die in ein neues Gewand gekleidete, aber im Ergebnis fortdauernde Krise? Schon in den siebziger Jahren wurde Georg Picht vorgeworfen, seine Strategie der erhöhten Abiturientenzahlen sei für den Qualitätsverlust verantwortlich. PISA hat aber gezeigt, dass vergleichbare Staaten die notwendige Bildungsexpansion ohne Qualitätsverlust betrieben haben. Die OECD ist immer noch der Meinung, die deutsche Abiturientenquote sei zu niedrig. Allerdings zählt sie die Berufsbildung anders und erzeugt dadurch irreführende Vergleiche. Wenn nun Picht die Schuld nicht zugeschoben werden kann – ist dann die bildungspolitische Strategie reformorientierter Bundesländer seit den Siebzigern verantwortlich für den Qualitätsverlust im deutschen Bildungssystem?

Die Politik mag verantwortlich sein für Differenzen innerhalb eines insgesamt schlechten Bildes, den nationalen Rückstand hebt das jedoch nicht auf. Problematisch war sicherlich die Tatsache, dass die Reformfraktion der Länder Expansion und Chancengleichheit mit dem gleichen Instrument – den Gesamtschulen – durchsetzen wollte. Die Gesamtschulen rekrutieren heute aber nicht mehr als acht bis neun Prozent der Schüler, sie haben sicherlich die Gleichheitsversprechen und andere Erwartungen nicht eingelöst, die mit ihnen verbunden waren. Das Qualitätsproblem lässt sich allein so jedoch nicht erklären.

Die Suche nach den Ursachen ist in der Tat das größte Problem: Selbst PISA und die anderen Vergleichsstudien haben zunächst nur deskriptiven, noch nicht hinreichend erklärenden Status. Unmittelbare Handlungsstrategien lassen sich nicht anschließen. Aus den Leistungsdiagnosen erkennt man zwar deutlich

• ein Süd-Nord-Gefälle – ohne dass die südlichen Länder in allen Dimensionen überzeugen oder international mithalten könnten,

• unterschiedlich gute Wege, mit vergleichbaren Risikogruppen umzugehen,

• unterschiedliche Politikstile und bildungspolitische Prioritäten,

• Differenzen in der Ausbildung der Lehrer oder in der Gestaltung und Erneuerung der Lehrpläne,

• schließlich Differenzen in den Hintergrundphilosophien, etwa Begabungskonzepten oder pädagogischen Handlungsmodellen.

Aber aus der Fülle varianter Befunde ergibt sich immer noch keine einheitliche pädagogische Antwort auf die Krise. Bei aller Erklärungsvielfalt für den Leistungsverfall gibt es nur einen – aber wesentlichen – Konsens: Der alte Streit über „Gesamt“- oder „ Einheitsschulen“ führt in die Irre. Die Qualität von Bildungsprozessen entscheidet sich nicht hier, sondern jeweils konkret erst in der einzelnen Schule. Die Varianz zwischen Schulen ist zudem groß und kann innerhalb desselben Systems (etwa Gesamtschulen oder Gymnasien) in gleicher Stärke bestehen wie zwischen Schulen unterschiedlicher Systemstruktur.

Mit dem Wegfall bequemer bildungspolitischer Grenzziehungen ist gleichzeitig aber auch der tradierte Anspruch diskreditiert, man könnte das gesamte Bildungswesen – zentral geplant und mit einem einheitlichen System – zielgenau von oben, politisch und administrativ kontrolliert auf die erwünschten Ziele hinsteuern. Lokale Erwartungen von Eltern und Schülern, die Akzeptanz von Bildungsangeboten und die regionale Schulstruktur sind sehr viel bedeutsamer – und resistent gegen politische Steuerung.

Trotz solcher Einsichten werden Wege zur Qualitätssteigerung im Bildungswesen nicht einfacher, sondern komplexer. Vor allem deswegen, weil Besserung offenbar nur über eine scheinbar paradoxe Strategie zu erzielen ist: Freisetzung und Stärkung der Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Schule bei gleichzeitiger Sicherung übergreifender Qualitätsstandards. Exakt das ist die Strategie, die von den Bundesländern – mit Variationen im Detail – gegenwärtig versucht wird, verbunden mit der Behauptung der eigenen Kompetenzen in Schulfragen gegenüber dem Bund.

Die signifikanten Strategien heißen:

• stärkere Verantwortung der einzelnen Schule, ja Autonomisierung in alltäglichen Schulfragen,

• Einführung und Überprüfung von Bildungsstandards jetzt bereits für den mittleren Abschluss (nach Klasse 9 beziehungsweise 10), bald auch für die Grundschule,

• Standards auch für den Übergang zur Hochschule und, vielleicht, hinein in die berufliche Bildung,

• Förderprogramme im Vorschulbereich und in der Schuleingangsphase,

• Fixierung von „Kernlehrplänen“, die den notwendigen Kern allgemeiner Bildung (60 Prozent – die obligatorische Fremdsprache, Naturwissenschaften) vorgeben, ohne die lokale Anstrengung und Kreativität zu töten (40 Prozent – zum Beispiel fremdsprachlicher Fachunterricht in Biologie oder Geographie),

• Abstützung durch eine neue Lehrerausbildung, die geeignet ist, die Qualitätssteigerung umzusetzen.

Wenig sinnvoll ist jedenfalls der Versuch, gesamtstaatlich und einheitlich ein neues Bildungswesen zu erfinden. Zumal die Länder stärkeres Gewicht auf ihren Gestaltungsspielraum im Bildungswesen legen und deswegen die Angebote des Bundes, zum Beispiel Ganztagsschulen zu fördern, in eigene Programme integrieren – etwa der Sprachförderung oder der Grundbildung. Die neue Orientierung ist pragmatisch und konzentriert sich auf wenige zentrale Themen. Man kann sagen, dass die Bildungspolitik, selbst in der viel geschmähten Kultusministerkonferenz (KMK), aus Misserfolgen gelernt hat. Alte Allmachtsfantasien wurden abgelegt, man wird jenseits ideologischer Fronten kooperationsfähig.

Kann man damit Bildung für das 21. Jahrhundert möglich machen? Was ist die große Vision, die solche Anstrengungen beflügelt und durch Leistungen für die Wissens-, ja Bildungsgesellschaft legitimiert? Die aktuelle Bildungspolitik ist zugleich bescheidener und anspruchsvoller geworden. Sie ist bescheidener, weil die Prioritäten unter dem Qualitätsanspruch anders gesetzt werden. Es geht jetzt um die Sicherung der Grundbildung für alle und die Verpflichtung der Schulen auf diesen Auftrag. Und sie ist anspruchsvoller dort, wo das Bildungssystem seine eigentlichen Stärken hat:

• in der Förderung systematischen, kumulativen Lernens,

• in der Stärkung der Lernwilligkeit und Lernmotivation,

• in der didaktischen Orientierung an größerer Selbstständigkeit der Schüler: zum Beispiel in offenem Unterricht, in projektförmiger Lernorganisation oder in innerschulischen Lernvereinbarungen,

• in der Problemorientierung des Lernens: etwa im stärkeren Anwendungsbezug von Aufgaben statt trägen Abfragens von Wissen.

Das ist das Leitbild einer modernen allgemeinen Bildung. Bildung fördert die Fähigkeit, selbstständig und auch selbstbestimmt an Kultur und Gesellschaft teilzunehmen. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass die Individuen ihren Lebenslauf selbst als Lernprozess konstruieren können, dass sie offen sind gegenüber Herausforderungen, bereit zum Lernen, auch zum Umlernen, und zur Weiterbildung.

Erst vor diesem Hintergrund kann man erwarten, dass die Teilhabe an Bildung den Menschen befähigt und motiviert, die großen Fragen seiner politischen Gemeinschaft mit zu gestalten. Diese Gesellschaft ist pluralistisch strukturiert und deshalb auf Akteure angewiesen, die gelernt haben, mit Wertkonflikten tolerant umzugehen, offen für das Fremde und Andere. Für diese Erziehungsaufgabe wird die Schule ihre eigene „Lebensform“ so umgestalten müssen, dass sie ein Modell der Welt wird, in die sie einführt. ■

Heinz-Elmar Tenorth

COMMUNITY LESEN

Kai S. Cortina, Jürgen Baumert, Achim Leschinsky, Karl-Ulrich Mayer,

Luitgard Trommer (Hrsg.)

DAS BILDUNGSWESEN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Ein Bericht des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin

Rowohlt, Reinbek 2003, € 16,90

Eckard Klieme

EXPERTISE ZUR ENTWICKLUNG NATIONALER BILDUNGSSTANDARDS

Deutsches Institut für Internationale

Pädagogische Forschung

Frankfurt am Main 2003

Bestellung über: BMBF

E-Mail: books@bmbf.bund.de

Tel.: 01805|26 23 02

Jürgen Baumert (Hrsg.)

PISA 2000

Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich

VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2002, € 19,80

INTERNET

Weitgefächerte Informationen zum Thema Bildung bietet das Institut für Internationale Pädagogische Forschung über seine Homepage:

www.dipf.de

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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